Zeitenwende in der Pandemie – dank Impfstoff

Vielleicht wird der 9. November 2020 in die Geschichte eingehen. Vielleicht wird man dereinst unterscheiden zwischen einer Zeit davor – als die Covid-19-Pandemie fast unüberwindbar erschien – und einer Zeit danach: Plötzlich benötigte die Menschheit nur noch ein bisschen Geduld, um aus dem Alptraum aufzuwachen. Vielleicht? Auf jeden Fall zeigten sich sogar abgeklärte Professorinnen und Professoren der Immunologie oder Virologie geradezu euphorisch, nachdem die deutsche Forschungsfirma Biontech und der Pharmariese Pfizer an diesem 9. November 2020 erste Testergebnisse vorgelegt hatten. Bei ihrer Impf-Studie kam es bei geimpften Personen zu 90 Prozent weniger Sars-CoV-2-Infektionen als bei den Menschen in der Kontrollgruppe. Auch an diesem 9. November blieben noch allerlei Fragen offen, trotzdem: 90 Prozent – dieses Ergebnis lag weit über allen Erwartungen. Viererlei Branchen Die Börsen liessen sich sofort anstecken und signalisierten der Welt, worauf die Geldprofis jetzt setzen: Die Aktien von Transport-, Reise-, Konsum- oder Luxusfirmen sprangen in die Luft; die Aktien von diversen Tech- und Online-Firmen sackten ab. Damit eilten die Anleger unverzüglich zurück auf den Weg zur alten Normalität. Aber nicht allen Unternehmen wird die Impfung gleich viel helfen. Paul Donovan, der Global Chief Economist der UBS, sieht drei Kategorien: Erstens: Branchen, in denen die Pandemie zu Verschiebungen in der Nachfrage geführt hat. Sie verlieren momentan wegen des Lockdowns und schlechter Konsumstimmung an Umsatz. Aber diese Verkäufe dürften danach vollends aufgeholt werden. Ein Beispiel wären Möbelgeschäfte: Da kauft man den neuen Bürostuhl halt später einmal. Für diese Firmen ändert der Durchbruch einer Impfung letztlich wenig, so Donovans Einschätzung.Impfstoff-Überblick Ständig aktualisierter Überblick über die Forschung an Impfstoffen gegen Sars-Cov-2. Rückkehr zum alten Zustand Die zweite Gruppe bilden Anbieter, die in der Pandemie klar an Umsatz verloren haben – die aber die verlorenen Einnahmen danach nicht mehr aufholen können und bestenfalls zum alten Zustand zurückkehren werden. Typische Beispiele finden sich in der Gastronomie, der Hotellerie oder in der Kultur. Hier stehen die Unternehmen nun vor der Frage, ob sie noch durchhalten können, bis die Impfung wieder einen normalen Geschäftsgang erlaubt. Drittens: Branchen, in denen der Strukturwandel durch die Pandemie beschleunigt wurde und wird. So sind viele städtische Detailhändler unter starken Druck durch Online-Anbieter geraten – aber im Grunde hat das Virus nur als eine Art Hilfsgift beim Ladensterben gedient. Ein Vakzin gegen Covid-19 hilft in solchen Branchen wenig weiter, wenn das Grundproblem bleibt. Anfügen liesse sich eine vierte Gruppe, nämlich Unternehmen, die explizit von der Viruskrise profitierten – wie beispielsweise der Schweizer Computerzubehörspezialist Logitech. Solchen Firmen droht, dass sie bald wieder auf «Normalmass» zurückgestutzt werden: Business as usual.1,3 Milliarden Dosen Durchbruch Und der Gewinner ist: Biontech beziehungsweise Pfizer. Das Mainzer Biontech und der US-Pharmakonzern werden als Erste die Zulassung für einen Covid-19-Impfstoff beantragen – und bekommen. Bis Mitte nächsten Jahres sollen 1,3 Milliarden Dosen vorliegen. More to come Als Nächstes werden die Studienresultate des US-Biotech-Unternehmens Moderna erwartet. Doch es dürfte schwierig werden, an Biontech heranzukommen. Mit BNT162b2 lassen sich 90 Prozent der Infektionen vermeiden. Das ist ein sensationeller Wert. Die Technologie BNT162b2 ist ein Durchbruch für die RNA-Technologie. Dabei wird ein Teil der genetischen Information des Virus appliziert. Diese nistet sich dann, wie das Virus, in den Zellen ein und bildet ein Protein des Virus, das dann das Immunsystem auf Trab bringt. Tatsächlich haben sich diese Überlegungen sogleich in den Börsenkursen gespiegelt. Am Tag, als Biontech seinen Testerfolg meldete, stiegen die Titel der Kreuzfahrt-Shipper Royal Caribbean um fast 30 Prozent. Jene der Videocall-Firma Zoom verloren gut 17 Prozent. Und bei Logitech betrug das Minus knapp 6 Prozent. Es geht um die Angst Die entscheidendere Ebene bildet allerdings die allgemeine konjunkturelle Lage. Nicht das Virus lähmt derzeit die Wirtschaft, erinnert UBS-Ökonom Paul Donovan – sondern heikel ist vor allem die Angst davor. Gerade deshalb könnte der neue Impfstoff eine spezielle Kraft entfalten: Er befreit. Er dämpft die Furcht und verleitet dadurch die Konsumentinnen und Konsumenten, ihr Geld etwas leichthändiger auszugeben. Zugleich erleichtert es der Impfstoff den Firmenchefs, fürs nächste Jahr zu planen. «Entscheidend für die weltweite Stimmung ist die Aussicht, dass die Krise ein Ende haben wird», sagt Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse. «Es mag noch seine Zeit dauern, bis der Impfstoff breit verfügbar ist – doch dass er kommt, ist wichtig für die Budget- und Investitionsentscheide, die jetzt für 2021 anstehen.» Die Meldungen aus Mainz und New York dürften nun die Diskussionen in den Chefetagen der Industrie stark beeinflussen, vermutet Rudolf Minsch. «Die Lage wird wohl positiver beurteilt.» Eine Art Doping Allerdings: Selbst in den optimistischen Szenarien der Finanz- und Konjunkturinstitute erscheint 2021 nicht unbedingt als Jubeljahr – ganz gleich, wie früh eine Impfung kommt. Eher geht es darum, die Schäden etwas besser einzuhegen. Die Strategen der Bank of America beispielsweise erwarten für die Weltwirtschaft einen Schub von 0,7 Prozent, wenn es gelingt, in den ersten Monaten 2021 mit Covid-19-Impfungen zu beginnen. Das Vakzin sei eher ein Performance-Enhancer als ein Game- Changer, also eher ein leistungssteigerndes Mittel denn ein Durchbruch in eine neue Wirtschaftsära. In Europa dürfe man sich fürs ganze kommende Jahr vielleicht ein Wachstum von 5,5 Prozent erhoffen; das tönt zwar gut, aber nach dem Rückschlag von 2020 – er wird nach EU-Schätzungen bei 8 Prozent liegen – wäre es nicht eben sensationell: «Nach mehr als einem Jahr im Pandemiemodus erscheint der Schaden für die Wirtschaft dauerhaft», schreibt die Bank of America. Restriktionen werden noch andauern Auch Rudolf Minsch von Economiesuisse mahnt, dass wir noch eine Weile Restriktionen spüren werden – etwa im internationalen Reiseverkehr – und Ende nächsten Jahres wirtschaftlich kaum schon wieder auf dem Stand von 2019 sein werden. Die spannenden Fragen liegen ohnehin im Detail. Pfizer hat angekündigt, im nächsten Jahr etwa 650 Millionen Menschen impfen zu können; für einen vollständigen Sieg über das peinigende Virus würden wohl drei bis vier Milliarden Dosen des Stoffs benötigt. Anderseits senden auch andere Impfstoffentwickler positive Signale aus: Es könnte auch schneller gehen. Das Tempo der Produktion ist aber ein weiterer wichtiger Faktor für den wirtschaftlichen Schwung. Für Regionen, die wegen ihrer Tourismusabhängigkeit speziell gebeutelt wurden, wäre eine Verteilung vor der Sommersaison Milliarden wert. Und insgesamt erhalten Staaten, die sich dank Macht und guten Verträgen früher aus der Lockdown- und Fallzahlenspirale befreien können, nun einen gewissen Vorteil. So dürfen die USA und die EU (die 300 Millionen Dosen des Biontech-Impfstoffs BNT162b2 reserviert haben) nun darauf hoffen, den relativen Vorsprung der im Jahr 2020 weniger vom Virus geplagten asiatischen Länder etwas aufzuholen.

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