Grossbritannien verlässt die EU: 51,9 Prozent der wahlberechtigten Briten haben sich für den Brexit ausgesprochen. Was zu diesem Ergebnis geführt hat, was es für Grossbritannien und die EU heisst, und wie es nun weitergeht, erklärt EU-Experte Josef Janning,

Herr Janning, was hat die Briten dazu bewogen, zu gehen?
Josef Janning*: Ein Bündel von falschen Vorstellungen und das Gefühl, die Dinge wieder selbst in die Hand nehmen zu wollen. Es gab im Vorfeld der Abstimmung kein nüchternes Abwägen von Argumenten, die Entscheidung für den Brexit basierte rein auf Gefühlen. Ausschlaggebend war die Vorstellung, dass man durch die EU fremdbestimmt würde, seine Identität verliere. Ausserdem hat keine Partei ein glaubwürdiges Gegenangebot gemacht, um zu zeigen, dass die EU ein Instrument ist, um seine Interessen, Werte und Vorstellungen zu bewahren. Das Gegner-Camp von Premier David Cameron litt an einem Glaubwürdigkeitsproblem: Der gleiche Premierminister, der vor Jahren erklärte, die EU sei schlecht und mit dem Ausstieg drohte, warb nun dafür, in der EU zu bleiben.

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Was heisst der Austritt aus der EU nun für Grossbritannien?
Das Ergebnis war eher knapp. Das bedeutet, dass jetzt ein Prozess in Gang kommt, den fast die Hälfte jener, die abgestimmt haben, nicht wollen. Diese tiefen Gräben, die in der Bevölkerung entstanden sind, diese Polarisierung, wird weiter voranschreiten. Vor allem weil der Ausgang der Wahl auch leicht anders hätte sein können. Weiter geht von der Entscheidung eine Art Signalwirkung auf Populisten in anderen EU-Staaten aus. Viel wird deshalb davon abhängen, wie die Reaktionen von europäischen Regierungen ausfallen. Politiker ausserhalb dieser populistischen Strömungen müssen versuchen, sich in die Denkweise der Populisten hineinzuversetzen – um diesen nicht ungewollt weitere Munition zu liefern. Aus diesem Grund hatte die EU sich auch während des Wahlkampfes im Vorfeld bedeckt gehalten.

Haben die Brexit-Gegner noch eine Chance, den Austritt aus der EU abzuwenden?
Es könnte sein, dass nachdem die Vertragsbedingungen eines EU-Austritts verhandelt worden sind, erneut ein Referendum über diese Bedingungen stattfindet. Darüber, ob das wirklich die Bedingungen sind, zu denen die Briten aus der EU ausscheiden wollen. Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Bewegung ins Rollen kommt, um zu retten, was noch zu retten ist. Eine wirkliche Chance gebe ich dem aber nicht.

Viele Befürworter des Brexits wünschen sich für Grossbritannien ein Modell ähnlich dem der Schweiz. Halten Sie ein solches für umsetzbar?
Sicher nicht sofort nach der Abstimmung. Jetzt wird die Unsicherheit über die Zukunft zunächst einmal zu schweren Turbulenzen führen. Ein solches Vorbild käme dann zum Tragen, wenn mit der EU die Bedingungen für den Zugang zum europäischen Markt ausgehandelt werden müssen. Die Briten werden schnell merken, dass ein Zugang zum europäischen Binnenmarkt, wie ihn die Schweiz oder auch Norwegen haben, Pflichten mit sich bringt. Diese bestehen darin, das Regelwerk der EU anzuerkennen und einen Beitrag zu den Systemen des Finanzausgleichs innerhalb der EU zu leisten. Bürger von kleineren Ländern wie der Schweiz und Norwegen haben sich daran gewöhnt, nicht an diesen Regeln der EU rütteln zu können. Brexit-Befürworter wollten mit ihrem «Ja» zur heutigen Vorlage aber genau das Gegenteil bezwecken: Sie wollen selbst bestimmen und sich nicht von der EU reinreden lassen. Mit einem Ausstieg aus der EU führen sie genau das Gegenteil herbei: Sie werden Vereinbarungen eingehen müssen, ohne überhaupt noch mit am Tisch zu sitzen, an dem diese Entscheidungen getroffen werden.

Die Briten erhalten also mit ihrem gewünschten Austritt eine Mogelpackung?
Ja, viele Wähler haben nur noch nicht realisiert, dass sie nach einem Brexit nicht am längeren Hebel sitzen, sondern die EU. Grossbritannien ist auf den europäischen Binnenmarkt angewiesen. Das Land ist zwar die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt – im Vergleich zum europäischen Binnenmarkt aber immer noch ein relativ kleiner Fisch. Sobald die Anhänger der «Leave»-Kampagne das merken, werden sie weiter verbittern, ihre EU-Ablehnung wird sich vertiefen. Ihnen zufolge ist ja genau das das Perverse an der EU: Dass man ihr sogar austreten kann und sie einen weiter knebelt.

Die britische Wirtschaft wird vom Brexit also nicht profitieren?
Nein, im Gegenteil. Der Entscheid wird die wirtschaftliche Krise noch verschärfen. Je nachdem, wie die Verhandlungen über das Verhältnis zur EU ausgehen, wird der Finanzplatz Londons stark betroffen. Internationale Investoren und Fonds werden sich fragen, ob sie innerhalb der EU nicht besser agieren könnten, statt von ausserhalb. Der Kater des Austrittsprozesses wird bitter. Auf ihn folgt die Erkenntnis, dass die Welt ein wenig anders ist, als man sie sich gemalt hat. Das hat sich auch die «Remain»-Kampagne nicht eingestehen wollen. Cameron hat immer davon gesprochen, wie gross und vital das Land ist. Er erweckte stets den Eindruck, die EU könne stolz sein, Grossbritannien als Verstärkung dabei zu haben. Die Kampagne hätte den Briten aber auch ein realistisches Selbstbild vermitteln müssen. Dazu gehört nicht nur der Fakt, dass aus dem Empire ein Commonwealth geworden ist. Sondern auch, dass Grossbritannien selbst als Nuklearmacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat ein recht bedeutungsloses Land geworden ist. Vor allem dann, wenn es nicht mehr Teil des europäischen Verbunds ist und auch nicht mehr als dieses wahrgenommen wird.

Nach dem Ja zum Brexit rufen bereits Populisten in Frankreich, den Niederlanden und Dänemark nach einem ähnlichen Referendum. Ist dies das Ende der EU?
Wenn die EU nicht handelt, fällt sie auseinander. Sie muss in Bezug auf die Währungsunion, ihre Aussen- und Innenpolitik, die Einwanderungs-, Asyl- und Grenzschutzpolitik handeln, sonst wird sie zunehmend geschwächt. Gleichzeitig wird dieses populistische Momentum, das heute einen grossen Schub erhalten hat, stärker werden. Diesen Spagat hält Europa nicht lange aus. Dann werden weitere Neuaushandlungen oder Austritte folgen.

Angesichts der vielen antieuropäischen Tendenzen in den Bündnisländern steht die EU massiv unter Zeitdruck, Lösungen zu liefern. Wie könnte sie die Mitgliedsstaaten weiter von sich überzeugen?
Auf jeden Fall nicht mit vollmundigen Erklärungen, sondern mit konkreten Ergebnissen. Etwa in der Asylfrage: Ich kann mir vorstellen, dass sich in diesem Bereich eine Gruppe von Mitgliedstaaten dem Solidaritätsgedanken und einer gemeinsamen Lösung des Problems verschreibt. Dies könnte in einer Art «Schengen Plus» stattfinden, zu welcher nur Staaten gehören, die bereit sind, die Konsequenzen für die gemeinsame Politik zu tragen – die aber unter sich auch Solidarmechanismen entwickeln, an denen nur jene teilhaben, die sich an der gemeinsamen Politik beteiligen. Im Bezug auf die Flüchtlingskrise könnte dies in einem ersten Schritt heissen, jene Staaten zu unterstützen, die eine besondere Last in der Flüchtlingskrise tragen. In einer kleineren Gruppe liesse sich leichter ein Konsens erzielen. Darunter könnten Deutschland und Frankreich, die nordischen- und Beneluxländer und Österreich gehören. Die Frage ist jedoch tatsächlich, ob die Zeit ausreicht, diese Vereinbarungen zu entwickeln.

Halten Sie es angesichts der populistischen Strömungen überhaupt für realistisch, dass sich Staaten zu solch kleineren Gefügen zusammenraufen?
Die Politik in Staaten mit grossen populistischen Strömungen will diesen in der Öffentlichkeit etwas entgegensetzen. Das könnte eine Chance sein. Mein Eindruck ist auch, dass die Populisten, die momentan auf einer Welle reiten, noch nicht gewonnen haben. Dänemark oder die Niederlanden, wo es starke Euroskeptiker und migrationskritische Parteien gibt, werden sich den Fall Grossbritannien genau ansehen. Der Brexit ist ein Testfall, ob die populistischen Versprechungen eingehalten werden können oder nicht. Besonders gross ist die Wahrscheinlich dafür nicht.

War der Brexit also eine schlechte Entscheidung für Grossbritannien?
Ich denke, dass Grossbritannien auf längere Sicht eine schwierige Phase eingeläutet hat. Die Briten werden gezwungen, einzusehen, dass ihr Wunschtraum eines eigenständigen Grossbritanniens nicht aufgeht. Das wird schmerzhaft für sie.

 

*Josef Janning ist

Redaktorin Caroline Freigang
Caroline Freigangschreibt seit 2019 für den Beobachter – am liebsten über Nachhaltigkeit, Greenwashing und Konsumthemen.Mehr erfahren