Herr Cucinelli, Sie begannen vor vierzig Jahren mit ein paar hundert Franken und drei Angestellten. Heute ist Ihre Firma an der Mailänder Börse 2 Milliarden Franken wert. Wie schafft man das?
Brunello Cucinelli*: Mit einer Vision, höchsten Qualitätsansprüchen und motivierten Mitarbeitenden.

Wie läuft das Geschäft zurzeit?
Wir sind sehr, sehr zufrieden. Umsatz und Gewinn wachsen zweistellig. Zuversichtlich bin ich auch für 2018, die Kollektion für Frühling und Sommer kommt sehr gut an. Unser Statement – zeitgenössische Eleganz gepaart mit informellem Chic – fasziniert.

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Alle reden vom Wachstum dank E-Commerce. Sie auch?
Am 7. November sitze ich an einer Diskussion in San Francisco im Moscone Convention Center, wo Steve Jobs einst seine neuen Produkte präsentierte. Dabei geht es um unseren Umgang mit dem Internet. Ich bin überzeugt: Diesen müssen wir stärker orchestrieren.

Orchestrieren?
Die Digitalisierung ist auch in der Modeindustrie nicht aufzuhalten. Ich stemme mich nicht gegen Innovation und technische Entwicklung. Wir selber haben in der Produktion Lasertechnologie im Einsatz. Aber ich bin überzeugt, dass wir den Umgang mit Technologie viel bewusster gestalten müssen. Ich sehe die Gefahr, dass der permanente Online-Modus uns die Kraft für Kreativität raubt.

Sie haben mittlerweile selber eine Website, wo man rund um die Uhr einkaufen kann.
Klar müssen wir in technischen Fragen vorne dabei sein. Ich bin ja auch kein Bilderstürmer, ich sage nur, dass wir den Umgang mit Technologien orchestrieren müssen. Zu unserer Website: Wir haben seit Anfang Jahr zwei Schaufenster, eines präsentiert die Werte und die Kultur unserer Firma und der Region Umbrien. Das andere ist die Online-Boutique, wo man sich inspirieren lassen und einkaufen kann.

Sie sind sehr spät in den E-Commerce eingestiegen. Andere sind seit Jahren aktiv. Eine Strategie oder den Trend verschlafen?
Der E-Commerce floriert weltweit, unbestritten. Wir stehen da mit unserer Luxusmarke in einem Spannungsfeld: Das Web führt zu einer Einebnung der Differenzierung, wir aber stellen sehr exklusive Produkte her. Kürzlich war ich an der Fashion Show in Mailand. Da kam eine junge Frau zu mir und sagte: Dieses Hemd ist zwar sehr schön, aber ich will es nicht tragen, weil ich es im Netz schon fünfmal gesehen habe. Das Internet ist faszinierend, aber wir haben unsere Einzigartigkeit vor der Verlockung der Vermassung zu bewahren.

Wie viele E-Mails kriegen Sie pro Tag?
Fünf bis sieben, ich selber verschicke maximal drei Mails.

Sie sehen sich als Bändiger des Internets? Immerhin ist es in Ihrer Firma verpönt, nach 17 Uhr dreissig Mails zu verschicken und mehr als zwei Personen ins CC zu setzen.
Wenn einer in der Bank ein Mail nachts um 2 Uhr verschickt, ist der Chef stolz auf den Mitarbeiter. Bei mir wird er entlassen (lacht). Wir müssen der Hektik die Kunst der Musse entgegensetzen. In meiner Firma leiste ich einen Beitrag dazu.

Ihre 1700 Mitarbeiter üben sich in Geduld?
Wir beginnen um punkt 8 Uhr mit der Arbeit, da bin ich sehr strikt, ganz schweizerisch (lacht). Dafür beenden wir die Arbeit um 17 Uhr 30. Dazwischen gönnen wir uns von 13 bis 14 Uhr 30 eine Mittagspause. Auch die ist sehr wichtig bei uns.

Angeblich kostet ein Menu in Ihrer Kantine 3 Euro.
Es sind exakt 2 Euro 90. Ich will übrigens nicht, dass jemand am Tisch oder an Sitzungen das Handy auf den Tisch legt und darauf schielt. Ich will, dass die Leute in Ruhe essen können oder bei der Arbeit voll konzentriert sind. Einstein hat einmal gesagt, dass ein Mensch nur fünf Stunden am Tag voll konzentriert sein kann. Ich sage, das Smartphone hält von der Kreativität ab. Denn dafür muss man sich vertiefen.

Sie haben einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz ausgerufen – weniger arbeiten, weniger Mails, weniger Hektik?
Es geht viel weiter. Es geht darum, Werte und Traditionen zu erhalten, einen angemessenen Gewinn zu erzielen, die Mitarbeitenden überdurchschnittlich zu entlöhnen, Produkte herzustellen, die man nicht wegwirft, mit Ressourcen haushälterischumzugehen, den Leuten Freiraum zu gewähren, über Jahrhunderte gelerntes Handwerk schätzen.

Sie machen in den USA 35 Prozent des Umsatzes. Wie kommt da Ihr menschlicher Kapitalismus an?
Ich bin viel in den USA und rede mit unserer Kundschaft, auch mit den Millennials in Kalifornien. Sie hören stets aufmerksam zu, wenn ich eine Zähmung des Internets fordere. Ich will nicht täglich 24 Stunden online sein und 500 Mails abarbeiten, viel wichtiger ist mir der persönliche Kontakt.

Und wie reagieren andere CEO, wenn Sie Ihr Antistress-Programm verkünden?
Viele Manager finden es toll, wenn sie erzählen können, sie seien immer erreichbar, rund um die Uhr am Arbeiten und flögen für eine einzige Sitzung nach New York. Ich sage ihnen dann: Dich würde ich sicher nicht einstellen. Im Ernst: Mein Lebenstraum war es, mich auch im Geschäftsalltag für die moralische und wirtschaftliche Würde der Menschen einzusetzen. Daraus entstehen spannende Gespräche.

Was kostet Ihr Kaschmir-Jackett?
4000 Franken.

Der Gürtel?
700 Franken, dafür ist er 15 Jahre lang eine exklusive Zierde.

Wie soll ein Millennial das bezahlen?
Es gibt in Italien einen Spruch: Ein Produkt ist entweder teuer oder wertvoll. Unsere sind wertvoll.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit Mytheresa und Net-a-Porter, wo Ihre Kollektion verkauft wird?
Die Beziehung ist äusserst konstruktiv und basiert auf gegenseitigem Respekt. Mytheresa und Net-a-Porter sind für uns die schönsten Online-Mehrmarkenshops der Welt. Zentral sind ein schönes Visual, attraktive Verpackungen und eine charmante Beziehung zum Kunden.

Das Magazin «The New Yorker» hat Sie als «King of Cashmere» betitelt. Wo kriegen Sie die Inspiration für Kollektionen her?
Indem wir die Leute in den Strassen beobachten, uns in Metropolen inspirieren lassen und unseren Stil weiterentwickeln.

Sie beziehen Ihren Kaschmir aus der Mongolei. Wie stellen Sie die Qualität der Lieferanten sicher?
Wir kaufen Kaschmir aus der Mongolei und der Region Innere Mongolei von China. Die Qualität wird von den Produzenten garantiert, die seit langem Kontakt zu den Schäfern haben. Dann haben wir unsere interne Qualitätskontrolle.

Wie können Sie im hart umkämpften Modemarkt kompetitiv sein, wenn ab 17 Uhr 30 Feierabend ist und am Wochenende keiner erreichbar?
Ich komme gerne einen Tag als Assistent in Ihr Büro und am Abend zeige ich Ihnen, wie Sie 20 Prozent Ihrer Arbeitszeit einsparen können. Diese Zeit können Sie zur Stärkung Ihrer Konzentration einsetzen oder für die Familie. Ich bin stolz auf unsere Firmenkultur und meine Mitarbeitenden wissen es zu schätzen. Sie sind sehr motiviert, sehr loyal, die Fluktuationsrate ist tief. Ich bin überzeugt: Wenn man die Angestellten gut behandelt, dann arbeiten sie besser. Jeder Mensch hat seine Würde – diese muss man respektieren.

Sie haben drei CEO in Ihrem Modekonzern. Sie sind das Aushängeschild, die andern beiden führen das Unternehmen und erledigen die Mails?
Halt, es gibt nur einen CEO, nämlich mich, dazu bin ich Verwaltungsratspräsident der Firma. Dann habe ich zwei Co-CEO, die mich unterstützen.

Ihre Töchter, Camilla und Carolina, sitzen auch in der Konzernleitung, das tönt nach Kompetenzgerangel.
Absolut nicht. Die ältere Tochter ist Co-Leiterin der Damenkollektion, die 24-Jährige arbeitet in der digitalen Kommunikation.

Haben die Töchter das Zeug zur Firmenführung?
Weiss ich nicht, ich hab ja auch gar nicht im Sinn abzutreten. Man kann zwar Liegenschaften und Landstücke vererben, aber nicht einfach eine Firma. Da geht es auch um eine grosse Verantwortung.

In der Luxusindustrie ist eine Konsolidierung im Gang. Der italienische Brillenhersteller Luxottica schliesst sich mit dem französischen Glashersteller Essilor zusammen. LVMH will Christian Dior ganz übernehmen. Sie wollen nicht verkaufen?
Nein. Ausser Sie bringen mir einen Käufer, der mir schriftlich garantiert, dass unser Unternehmen weitere 200 Jahre in dieser Art weiterexistiert. Ich sage Ihnen jetzt schon: Sie werden zwar viele finden, die gerne die Firma kauften. Aber keiner, der die Garantie abgibt.

Sie halten noch 57 Prozent an der Firma. Wieso brachten Sie Ihr Familienunternehmen an die Börse?
Es bringt uns mehr Schub für die internationale Expansion, dann erhalten wir wichtige Impulse. Wir haben Grosses vor. Als wir begannen, gab es auf dieser Welt 2,5 Milliarden Leute, heute sind es 8 Milliarden. Und es werden immer mehr, die höchste Qualität schätzen und sich leisten.

Sie weisen seit Jahren ein Wachstum von über 10 Prozent aus, auch die Betriebsmarge auf Ebitda-Stufe liegt darüber.
Das nenne ich eben angemessenes Wachstum und Rendite. Eine Bruttomarge von 17 Prozent ist respektabel und respektvoll.

Sie sind seit Jahrzehnten erfolgreich mit Ihrer Strategie – ausgerechnet in Italien, das derart unternehmerfeindlich ist?
Italien ist weltweit die grösste Manufaktur, hat unglaublich viel handwerkliche Tradition auf höchstem Niveau. Die oft familiengeführten Firmen sind sehr kompetitiv. Der Standort kann nicht so schlecht sein.

Steuern, Bürokratie, Rechtsunsicherheit...
So mag es von aussen aussehen. Ich sage Ihnen: Ich bin ein Unternehmer, der stolz ist auf seine italienische Tradition. Ich habe eine Firma, die ausschliesslich in Umbrien, der Toscana und im Veneto produziert, ich habe in Italien Mitarbeitende, die motiviert sind und ein hohes Arbeitsethos haben. Ich bin ein Unternehmer, der in Italien seine Steuern zahlt, mit italienischen Banken arbeitet, dessen Firma in Italien kotiert ist und erfolgreich ist. Jetzt soll ich über den Standort Italien lamentieren? Ich bitte Sie. «Made in Italy» ist ein Versprechen.

Der Präsident der Republik hat Sie mit dem Orden «Cavaliere del Lavoro» ausgezeichnet. Aber die Steuerbelastung haben die Politiker nicht gesenkt.
Offen gesagt: Ich zahle in Italien 29 Prozent Gewinnsteuern. Ich glaube nicht, dass dies im internationalen Vergleich prohibitiv ist. Es gibt Länder, die liegen darüber.

Wir haben grössten Respekt vor italienischen Familienunternehmern, weil die Umstände schwierig sind, gerade im Vergleich zur Schweiz.
Die Schweiz ist ein grossartiges Land, hier habe ich ganz früh erste Erfolge erzielt. Mit dem Familienunternehmen Fein-Kaller habe ich früh geschäftet. Nur: Die Schweiz hat 8 Millionen Einwohner, Italien ist etwas grösser (lacht). Und es gibt auch bei uns Leute, die vermögend sind, höchste Qualität und Exklusivität schätzen. Nochmals: Ich fühle mich sehr wohl in Italien und bin mit den Rahmenbedingungen sehr zufrieden. So schlecht können die Umstände nicht sein, wenn ich sehe, wie viele Leute nach Italien fahren, das Leben hier geniessen, die Schönheit des Landes schätzen und italienische Produkte kaufen. Nein, ich bin fasziniert von dem, was Italien in vielen Sektoren hervorbringt: in der Mode, im Design, in der Architektur, in der Nahrungsmittelbranche, in der Industrie. Besuchen Sie mich beim nächsten Mal in Umbrien und ich zeige Ihnen das funktionierende Italien.

Was treibt Sie an?
Ich sehe mich nicht nur als Unternehmer, sondern als der Hüter eines wertvollen Erbes, einer Tradition und eines Handwerks. Und weil ich mich am Abend nicht im Internet oder vor dem TV-Bildschirm vergnüge, sondern lese, mit der Familie zusammen bin und Energie sammle, bin ich voller Tatendrang. Der grosse Benedikt hat im fünften Jahrhundert geschrieben: «Pflege jeden Tag deinen Geist durch das Studium und die Seele durch Gebet und Arbeit.»

Was überzeugte Sie zum IPO vor fünf Jahren?
2012 waren wir fast die einzigen, die sich an die Börse wagten. Banker hatten mich gewarnt und gemeint, es könnte schwierig werden. Dann aber hatten ganz viele Investoren Interesse an der Firma. Ich habe sie vorgängig nach Solomeo an unseren Firmensitz eingeladen, ihnen die Manufaktur gezeigt. Dann haben wir zu Hause gegessen; am Tisch habe ich ihnen meine Werte erklärt und gesagt: Wenn Sie 20, 30 Prozent Wachstum wollen jedes Jahr, dann sind Sie bei mir am falschen Ort.

Und was hat die Investoren überzeugt – das IPO war mehrfach überzeichnet?
Ich erklärte ihnen: Wenn Sie jedes Jahr 10, 15 Prozent Wachstum erwarten und einer Firma vertrauen, die ihre Mitarbeitenden fair entlöhnt und nicht auf Profitmaximierung und schon gar nicht auf Kurzfristigkeit aus ist und obendrein die Zulieferanten an unserer Erfolgsgeschichte teilhaben lässt, dann könnte es passen. Offenbar hat es überzeugt. Sie wurden nicht enttäuscht.

Sie haben Solomeo, Domizil Ihres Hauptsitzes, renoviert, Theater und Bibliothek gebaut und helfen mit Millionen beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Mittelitalien. Das kann Ihre Aktionäre, die auf Dividende setzen, nicht freuen.
Dieses Geld habe ich sicher nicht aus der Firma, sondern aus meinem Privatvermögen. Wissen Sie, ich stamme aus einer einfachen Bauernfamilie. Meine Eltern hatten zu Hause keinen Strom und kein fliessendes Wasser. Mein Vater, der mittlerweile 95 Jahre alt ist, arbeitete als Bauer, dann musste er in die Fabrik. Er hat mir vor Jahren gesagt: Brunello, du willst in Solomeo doch einmal nicht der reichste Mann auf dem Friedhof sein. Er hat recht, ich setze mich ein und möchte ein kleiner Verfechter der Menschlichkeit sein.

Börsenanalysten und Investmentbanker hätten keine Freude daran.
Ich habe noch keinen Investor gesehen, der mich belehrte oder mich vom Gegenteil überzeugen wollte. Kürzlich hab ich einen Hedgefonds-Manager in New York getroffen. Der fragte mich, wie denn die Zahlen in drei Monaten aussähen. Da hab ich ihm gesagt: Mich interessieren nicht drei Monate, sondern drei Jahre, dreissig Jahre, 300 Jahre. Dann lud ich ihn zum Espresso ein. Geschäftlich ist nichts daraus geworden.

Keine Ambition auf die italienische Politik?
Ich werde eher Papst als Politiker. Nein, im Ernst: Dafür habe ich keine Zeit. Sokrates sagte, er kenne einen Dichter, der sei in die Politik gegangen. Am Schluss hätte er nicht nur die Politik ruiniert, sondern auch seine Kreativität als Dichter zerstört (lacht). Das soll mir nicht passieren.

* Brunello Cucinelli ist Präsident und CEO von Brunelli Cucinelli. Der 64-Jährige startete sein Modelabel mit geliehenen 500'000 Lire und bunten Kaschmir-Pullis. Trotz grosser Expansion wird bis heute ausschliesslich in Italien produziert. Der Umsatz des Modehauses betrug letztes Jahr total 456 Millionen Euro. Die Gruppe hat 123 Mono-Brand-Boutiquen weltweit, davon 5 in der Schweiz. Neu ist die Marke auch bei Jelmoli. 2016 startet die Firma das Abenteuer E-Commerce. Wer im Online-Shop einkauft, wird direkt aus Solomeo beliefert. Für die persönliche Note sorgt bei jeder Bestellung eine handgeschriebene Notiz.