Nach 22 Jahren ist Schluss. Vielleicht hatte man ihr einmal gesagt, dass sie doch ihr Pensum aufstocken solle, aber für die zweifache Mutter kam das nicht in Frage. Sie wollte noch Zeit mit ihren Kindern verbringen. Gemeinsam mit einem Kollegen leitete sie ein Outsourcing-Projekt bei einem Rückversicherer. Als dieses beendet war, musste auch sie gehen – die Kündigung war ein Schock.

Ihren Namen nennen möchte sie nicht. Zu gross ist die Angst vor negativen Konsequenzen, besser, man erkennt sie nicht. Sie, die so viele Jahre Loyalität zum gleichen Arbeitgeber zeigte und dann mit 50 Jahren gebeten wurde, zu gehen. «Man hat nicht einmal nach internen Möglichkeiten gesucht», sagt sie. Einen Monat zuvor hatte auch ihr Mann die Kündigung erhalten.

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Zeit zum Nachdenken

Trotz ungewisser Zukunft sei es für sie ein guter Zeitpunkt gewesen, zu überlegen, was sie sonst noch machen könnte. «Ich habe mir die Zeit für ein Einzel-Coaching genommen. Zu sehen, wo man steht, hat gutgetan.» Nach einem halben Jahr fand sie eine neue Stelle in ihrem alten Beruf. Doch die Freude währte kurz: Nach einem halben Jahr wurde ihre Stelle abgebaut.

Mit 52 Jahren ist die Projektleiterin wieder arbeitslos, eine neue Stelle findet sie dieses Mal nicht so schnell: Rund 70 Bewerbungen hat sie bereits geschrieben, bis auf drei Vorstellungsgespräche kamen nur Absagen – der Arbeitsmarkt macht es ihr nicht leicht. Und das, obwohl sie Erfahrung hat, offen und bereit ist, Neues zu lernen. «Doch wie verkauft man das in seinem Lebenslauf?» Eine neue Stelle braucht sie, denn die Kinder wollen studieren.

Zahl der Arbeitslosen 50 plus steigt

Wer mit über 50 Jahren seinen Job verliert, hat es schwer, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Auf den ersten Blick scheint die Lage gut, denn im internationalen Vergleich ist die Arbeitsmarktbeteiligung der 50- bis 64-Jährigen in der Schweiz mit über 80 Prozent hoch. Doch der Schein trügt: Schaut man genauer hin, zeigt sich, dass die Zahl der Arbeitslosen im Alter 50 plus seit 2012 ansteigt.

2015 zählte das Staatssekretariat für Wirtschaft 35'155 Arbeitslose im Alter von über 50 – über 20 Prozent mehr als drei Jahre zuvor. Wirft man dann einen Blick auf die Statistik der Langzeitarbeitslosen, wird deutlich, dass es für Arbeitsuchende in dieser Altersgruppe besonders schwer ist, eine Stelle zu finden: 43 Prozent suchen seit einem Jahr oder länger einen Job. Und mit der Dauer der Arbeitslosigkeit sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Reintegration in den Arbeitsmarkt.

Neue Anforderungen

«Heute ist es im mittleren Management weniger wichtig, welche Erfahrungen Sie mitbringen, sondern dass Sie den Blick auf die Zukunft gerichtet haben. Der Führungsstil hat sich verändert: Man sucht weniger Führungspersönlichkeiten und immer mehr Know-how-Träger - das können ebenso gut die Jungen sein», sagt Philippe Tschannen, Partner beim Executive-Search-Unternehmen Heidrick & Struggles.

Für Grosskonzerne sucht er die richtigen Köpfe im Top-Management. Dass sich eine Person, die vorher als Projektleiter tätig war, automatisch für jede ähnliche Position eignet, stimmt aus seiner Sicht nicht. Wenn diese Person zudem über 55 sei, müsse Tschannen schon sehr gute Argumente bringen, warum er sie für die richtige halte. «Wenn man den Kandidaten als richtige Besetzung nicht gut erklären kann, hat er keine Chance.»

Digitalisierung als Hürde

Eine weitere Hürde sei die voranschreitende Digitalisierung, denn die älteren Kandidaten brächten entsprechendes Wissen oft nicht mit. Und hätten sich auch seit Jahren nicht mehr auf den aktuellen Stand gebracht. «Wer sich erst dazu entschliesst, sich weiterzubilden, wenn er keinen Job mehr hat, ist definitiv zu spät. Man muss sich schon mit 40 fragen, wo die Reise hingehen soll.» Tschannen meint damit vor allem die Veränderungen innerhalb einer Branche über die Jahre: «Wer nicht mit der Entwicklung geht, hat es schwer.»

Für die über 50-Jährigen sieht der Headhunter zwei Möglichkeiten, einen neuen Job zu finden: Die Person müsse in erster Linie Fähigkeiten mitbringen, die das neue Unternehmen in Zukunft nach vorne oder gezielt von A nach B bringen könnten. «Sonst sehe ich für den Arbeitgeber keinen Grund, jemanden einzustellen.» Bei der Generation 50 plus spiele zudem die wirtschaftliche Lage eine wichtige Rolle. Denn ältere Arbeitnehmer verursachen höhere Lohnnebenkosten.

Befristete Verträge als Chance

Um älteren Arbeitnehmern die Eingliederung ins Arbeitsleben zu erleichtern, schlägt Tschannen ein befristetes Anstellungsverhältnis für bestimmte Projekte vor. Denn es sei schon lange nicht mehr gang und gäbe, dass jemand in einem Unternehmen anfange und dort auch pensioniert werde. Speziell im Management spreche man eher von Mandaten als einer Lebensaufgabe. «Ich stelle also jemanden an, damit er das Unternehmen von A nach B bringt. Es handelt sich um Aufträge von drei oder fünf Jahren.»

So könnten ältere Arbeitnehmer spezifisch eingesetzt werden und hätten gleichzeitig eine Expertise für weiterführende Jobs. Beide Seiten könnten nur gewinnen: «Die grösste Angst der Unternehmen ist es, jemanden, den sie mit über 50 angestellt haben, mit über 58 nicht mehr loszuwerden, ohne einen Skandal zu verursachen.» Zudem werde es teuer: Abfindung, Outplacement, vielleicht eine Weiterbildung. Dieses Risiko gehen Unternehmen ungern ein.

Mit Arbeitslosigkeit kaum auseinandergesetzt

Einen auf ein Projekt befristeten Arbeitsvertrag hatte ein 56-jähriger Banker unterschrieben. Auch er möchte seinen Namen nicht nennen, denn sein Vertrag wurde nicht verlängert, derzeit ist er auf Jobsuche. Grundsätzlich hatte er gehofft, dass sich innerhalb der Bank doch noch eine passende Stelle finden würde.

Mit der drohenden Arbeitslosigkeit setzte er sich angesichts der täglichen Herausforderungen kaum auseinander. «Dass die Stelle doch einmal gekündigt werden könnte, war mir bewusst, dennoch ist die Nachricht ein Schock.» Bereits einige Jahre zuvor hatte er unerwartet seinen Job bei einer Grossbank verloren, dank Netzwerk aber schnell einen neuen gefunden. Dass es dieses Mal wieder so laufen wird, davon ist er überzeugt.

Die Chance fehlt

Kinder hat er keine, der finanzielle Druck, schnell wieder einen Job zu finden, ist nicht zu gross. 25 Jahre war der studierte Jurist in verschiedenen Risk- Management- und Controlling-Funktionen von Banken tätig, zuletzt in einer Führungsposition. «Ich stelle mir die Frage, ob es unbedingt wieder eine Führungsposition sein muss oder ob ich auch einen Schritt zurückgehen könnte. Dazu wäre ich grundsätzlich bereit.» Er sei erfahren und fachlich breit aufgestellt: «Aber wo ist der Arbeitgeber, der mir die Chance gibt, das zu beweisen?»

Die Inhaberin und Geschäftsführerin der Out- und Newplacement-Firma Mäder & Partner, Regula Mäder, findet fast immer einen neuen Arbeitgeber für ihre Klienten – mehr als 90 Prozent der über 50-Jährigen haben laut ihrer Statistik im Schnitt nach sieben Monaten, 75 Prozent sogar nach fünf eine neue Stelle. Mit ihrem Team macht sie ehemalige Mitarbeiter unter anderem von Julius Bär, Credit Suisse oder Swiss Life fit für den Arbeitsmarkt. Über 35 Prozent kommen derzeit von Banken, und über 45 Prozent besetzten eine Führungsposition im mittleren oder oberen Kader.

Es gibt auch andere Optionen

Eine neue Herausforderung für ehemalige Führungskräfte über 50 zu finden, gehört zu Mäders Kernaufgaben. «Wer zu uns kommt, will meist wieder dort einsteigen, wo er aufgehört hat. Nachdem sie unser Coaching durchlaufen haben, merken sie, dass es auch weitere Optionen gibt.» Personen über 60 hätten es jedoch schwer, hier müsse man eine andere Lösung finden, um die Zeit bis zur Pensionierung zu überbrücken.

«Die meisten über 50-Jährigen, die zu uns kommen, haben Existenzängste und denken, sie kriegten nie wieder einen Job», sagt die Chefin, die mit ihrem Team dieses Jahr rund 300 Arbeitsuchende coacht, weit mehr als in den Jahren zuvor. Neben den Banken werden in der Mode-, der Industrie- und der Versicherungsbranche derzeit viele Führungsstufen wegrationalisiert.

Flexibilität ist wichtig

In mehreren Sitzungen geht es um die Fragen, die in dieser Altersgruppe über einen neuen Job oder Arbeitslosigkeit entscheiden: Bin ich flexibel? Kann ich mich auf etwas Neues einlassen? Kenne ich meine Fähigkeiten, und kann ich diese verkaufen? «Vielfach haben die Personen keinen aktuellen Lebenslauf, von den anderen nötigen Bewerbungsdokumenten ganz zu schweigen.»

Reichen die Kenntnisse nicht mehr aus, wird eine Fortbildung vorgeschlagen, die oftmals vom ehemaligen Arbeitgeber mitfinanziert wird. Am Ende platziert Mäder 75 
Prozent der Arbeitsuchenden wieder in ihrer alten Branche. Wer sich nicht mehr ins Hamsterrad begeben will, macht sich selbständig.

Verringertes Arbeitspensum

Damit sich vor allem Arbeitnehmer über 57 wieder leichter in den Arbeitsmarkt integrieren können, schlägt Mäder ein verringertes Arbeitspensum über einen längeren Zeitraum vor. Der Arbeitnehmer würde nur teilpensioniert, könnte so weiterhin im Unternehmen bleiben, und sein Wissen ginge nicht verloren. «Viele über 55-Jährige sind gerne bereit, ihr Know-how weiterzugeben.» Zudem stünde die Firma nicht mehr unter Druck, denn die Gehaltsansprüche würden mit einem verringerten Arbeitspensum zurückgehen.

«Eine Arbeitsdauer bis 67 Jahre in Teilzeitpensum ist der richtige Schritt, um ältere Arbeitnehmer weiterhin im Arbeitsprozess zu integrieren», sagt Mäder. Aber Alter sei nicht gleich Alter. «Es gibt viele über 50-Jährige, die sehr flexibel, neugierig oder technisch affin sind.»

Die Politik will Anreize bieten

Der bestehende Handlungsbedarf, um Mitarbeitenden über 50 nach dem Jobverlust eine bessere Reintegration auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen, findet immer mehr Einzug in die politische Diskussion: Mit zwei neuen Vorstössen will die CVP ältere Arbeitnehmer stärken. Neben dem Vorrang für inländische 
Arbeitskräfte steht die Forderung nach Umschulungen auf der Agenda. So soll der Einstieg in Bereiche mit Fachkräftemangel ermöglicht werden. «Die älteren Arbeitnehmenden sollten eine Zielgruppe der nationalen Weiterbildungspolitik werden», fordert Nationalrat Stefan 
Müller-Altermatt.

Reduziert werden sollen die hohen Lohnnebenkosten. In der Diskussion um die Rentenreform 2020 wurde beschlossen, dass die Altersgutschriften-Sätze, die später das Alterskapital bilden, angepasst werden: Bis zum Alter 34 steigen sie um ein Prozent, bis 44 um zwei Prozent. «Ab 45 Jahren sollten die Gutschriften-Sätze 16 Prozentpunkte betragen und bis zum Referenzalter nicht mehr steigen», sagt der CVPler. Neu dürfen dazu Weiterbildungskosten von bis zu 12'000 Franken im Jahr von der Steuer abgezogen werden. So sollen neue Anreize für ältere Arbeitnehmer geschaffen werden.

Immer einen Plan B haben

Dass es ältere Mitarbeitende nach einer Umschulung leicht haben, eine neue Stelle zu finden, hält Stefan Häseli für eher unwahrscheinlich. Der Coach arbeitet unter anderem mit Führungskräften und gibt Kurse zum Thema Leadership. Zu seinen Kunden zählen aber auch Arbeitsuchende über 50.

«Jeder, egal ob er einen Job hat oder nicht, sollte immer einen Plan B haben, eine realistische Option zu seinem derzeitigen Job», sagt Häseli, der neben seiner Tätigkeit in der Schweiz Vizepräsident des deutschen Berufsverbandes für Trainer und Coaches BDVT e.V. ist. Er weiss, dass die Lage für über 50-Jährige auf dem deutschen Arbeitsmarkt noch weitaus dramatischer ist als in der Schweiz. «Nehmen wir Mecklenburg-Vorpommern: Hier ist der Arbeitsmarkt selbst für junge Leute ausgetrocknet, Selbständigkeit ist fast keine Option.»

Mit seinen Kunden arbeitet Stefan Häseli vor allem an einem Veränderungsprozess: «Die Menschen müssen Trauerarbeit leisten, um so über den Jobverlust hinwegzukommen. Erst dann können sie nach vorne blicken und sind offen für Neues.»

Neue Ansprüche ans Arbeitsleben

Neue Möglichkeiten sehen, Prioritäten anders setzen: Mit 52 Jahren ist der Wirtschaftsprüfer, der unerkannt bleiben möchte, wieder auf Jobsuche. 20 Jahre arbeitete er für das gleiche Unternehmen, viele davon in einer hohen Führungsposition, dann wurde der Sparstift angesetzt, und er musste gehen. «Ich habe eigentlich immer gearbeitet, auch in den Ferien. Die Entwicklung meiner drei Kinder habe ich verpasst.» Das soll sich mit dem neuen Job ändern.

Die Karriereleiter hat er erfolgreich erklommen, jetzt darf es auch eine weniger verantwortungsschwere Stelle sein, am besten in Teilzeit. Manchmal macht er sich Sorgen, keine passende Stelle zu finden: «Wenn man einmal viel verdient hat und sich auf eine niedrigere Position bewirbt, dann heisst es oft, man sei überqualifiziert. Dass man selbst ganz andere Ansprüche an die neue Stelle hat, versteht der Arbeitgeber selten.» Für den Wirtschaftsprüfer ist klar, dass er die nächsten Jahre mehr für seine Familie da sein will, auch das Thema Frühpensionierung klingt verlockend.