Aktienmärkte: Wird es kalt, wird es besser

Jetzt gehts los. Doch viele werden gerade in diesem Jahr nicht glauben, dass nun die beste Zeit der Aktienmärkte kommen soll, häufen sich doch gegenwärtig negative Schlagzeilen in beunruhigendem Tempo. Weltweit sorgen sich die Börsianerinnen und Börsianer wegen der Probleme an den chinesischen Immobilienmärkten, wegen der globalen Lieferengpässe und der abrupt steigenden Inflationsraten. «In Deutschland liegen diese so hoch, wie seit 28 Jahren nicht mehr», hat der Newslieferant Bloomberg festgestellt. Und von der Pandemiefront gibt es weiterhin keine Entspannungszeichen. Ein Giftcocktail aus besorgniserregenden Nachrichten also. Kommt hinzu, dass die Märkte ohnehin als hoch bewertet gelten. «Kaufkurse sehen anders aus», monieren viele Börsianer und Börsianerinnen. Mehr als ein Spruch Die Zweifler werden sich gewiss nicht von der simplen Börsenregel beeinflussen lassen, dass man Aktien am besten im Winter kauft. Oder genauer: dass man seine Aktien im Mai abstossen und im September wieder zurückkaufen soll. Geläufiger ist dieser Spruch auf Englisch: «Sell in May and go away, but remember to come back in September». Denn warum in aller Welt sollten denn die Dividendenwerte nur im Winter steigen? Da ist schlicht keine Logik dahinter. «Das ist aber auch nicht nötig», sagt der Markttechniker Alfons Cortes: «Wichtig ist es nur, die Fakten feststellen. Denn allein das Faktische entscheidet über den Erfolg oder Misserfolg an den Finanzmärkten. Ganz unabhängig davon, ob es verstanden wird». Der Winter bringts – fast nur der Winter Und diese Fakten sind im Falle der Saisonalität von geradezu erschlagender Evidenz: Alle grossen Aktienmärkte verzeichnen seit Jahren und Jahrzehnten eine regelmässige Sommerflaute, ein kräftiges Herbsttief und einen schönen Börsenwinter. Dieses Muster gehört zu den auffälligsten Regelmässigkeiten an diesen sonst so wenig berechenbaren Märkten. In Grossbritannien kann das Konzept der Saisonalität bereits seit mehr als 200 Jahren beobachtet werden. Für den Leitmarkt USA haben die beiden Ökonomen Jeffrey und Yale Hirsch nachgewiesen, dass die Monate November bis April meist ausgesprochen starke Börsenmonate sind, währendem die Monate Mai bis Oktober nur schwach abschneiden. Dies wirkt sich vor allem langfristig in geradezu verblüffenden Performanceunterschieden aus. Hätte eine Investorin ihr Kapital seit 1950 nur in den sechs Wintermonaten in den Dow Jones Industrial investiert, wäre ihr Vermögen um das über Hundertfache gestiegen. Wer dagegen lediglich in den Sommermonaten engagiert war, hätte in den letzten 68 Jahren in der Sommersaison total nur magere 10 Prozent verdient. Winterrendite schlägt Sommerrendite um 10 Prozent In seinen Berechnungen kommt das «Financial Analysts Journal» zu einem ähnlichen Schluss: «Die Aktienrenditen im Winterhalbjahr liegen um 10 Prozent höher als im Sommerhalbjahr.» Und der Saisoneffekt sei allgegenwärtig. «Vier der fünf historisch grössten Kurseinbrüche an den Aktienmärkten seit 1950 haben sich zwischen Mai und September ereignet», ergänzt das US-Fondsunternehmen America First, das einen der wenigen Saisonalitätenfonds im Angebot hat: den American Seasonal Rotation Fund. Besonders akribisch hat der neuseeländische Finanzmarktforscher Ben Jacobsen das Phänomen unter die Lupe genommen und die Saisonalität gleich in 109 Ländern erforscht. Die eindeutigen Resultate seines Forschens: Im Winterhalbjahr rentieren die Aktienmärkte weltweit mit 6,9 Prozent, im Sommerhalbjahr mit bescheidenen 2,4 Prozent. Schweiz für einmal kein Sonderfall Doch gilt dies auch für die Schweiz? Oder tickt sie wieder einmal völlig anders als alle anderen Länder? Die Genfer Bank Pictet hat nachgerechnet: Nach ihren Berechnungen sind die Aktienkurse in den letzten 93 Jahren im Schnitt um 9,7 Prozent pro Jahr oder um 0,8 Prozent pro Monat gestiegen. Doch in drei Monaten war die Performance im Durchschnitt negativ: im März, im Mai und im September. Und in der Periode von April bis Oktober lag – wen wunderts noch – meist nur wenig drin. Für den Zeitraum 1998 bis 2021 ergeben sich für den Schweizer Aktienindex SPI konkret folgende Resultate. Einer durchschnittlichen Performance von 6,1 Prozent (Strategie «November bis April») steht eine magere Performance von 0,5 Prozent (Strategie «Mai bis Oktober») gegenüber. Bemerkenswerterweise waren die Ergebnisse im Winter sogar dann besser, wenn die Aktienkursnotierungen insgesamt rückläufig waren, wie 2000/01, 2015/16 oder 20017/18. Nur gerade während der Finanzkrisenjahre 2007 bis 2009, 2002/03 sowie im ersten Pandemiejahr 2020 schnitten die Sommermonate besser ab. In den letzten zwölf Jahren haben sich die Performanceunterschiede zwischen Sommer und Winter in den letzten Jahren nicht etwa eingeebnet, sondern noch verstärkt. Gerade auch in der Schweiz, wie unsere Tabelle zeigt. Der Saisoneffekt verstärkt sich stetig Ein einleuchtender Grund, weshalb sich diese verblüffende Differenz trotz der zunehmenden Professionalisierung der Finanzindustrie tendenziell noch verstärkt hat, wurde noch nicht gefunden. Wirklich überzeugende Erklärungen fehlen. Für den Dezember- und Januareffekt werden beispielsweise Bonuszahlungen, 13. Monatslöhne und Gewinnverschiebungen ins neue Jahr verantwortlich gemacht. Oder auch die Tatsache, dass die institutionellen Investoren wie Pensionskassen und Versicherungen die ihnen zufliessenden Mittel hauptsächlich Ende und Anfang Jahr anzulegen haben. Für den Neuseeländer Ökonomen Ben Jacobsen sind die stark reduzierten Börsenaktivitäten während der Sommerferien der naheliegendste und plausibelste Grund. Reduktion des Risikos im Laufe des Jahres Die bisher einleuchtendste Begründung stammt vom Genfer Assetmanager Jean-Evrard Dominicé. Theoretisch müssten sich solche Unterschiede (oder Marktineffizienzen, wie die Börsianer sagen) ja einebnen, sobald sie bekannt sind. Es gebe aber Ineffizienzen, die sich gerade aus dem rationalen Verhalten der Marktakteure ergäben: «Genau das ist bei der Saisonalität der Fall: Rationale Investoren und insbesondere Vermögensverwalter nehmen am Anfang des Jahres mehr Risiko auf sich, um die angestrebten Renditeziele zu erreichen, und reduzieren das Risiko dann im Laufe des Jahres, sobald sie ihre Performanceziele erreicht haben.» Für Investmentprofis gehe es ja auch um ihre Karriere. Hätten sie die Ziele ihrer Klienten und Klientinnen im Laufe des Jahres erreicht, gebe es für sie keinen Grund mehr, weiterhin riskante Anlagen zu halten und so vielleicht die ganze Performance zu verlieren. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste Exakt ein solches Verhalten hat die NZZ im Jahr 2017 bei den Schweizer Vermögensverwaltern festgestellt und kritisiert: «Bis Mitte Jahr war es den Geldmanagern im Schnitt gelungen, höhere Renditen zu erzielen als die Marktentwicklung. Zum Jahresende war der Vorteil aber wieder weg. Obwohl sich an ihrer positiven Markteinschätzung nichts änderte, reduzierten viele Vermögensverwalter dann die Risiken, um nicht Gefahr zu laufen, am Jahresende doch noch einen Verlust ausweisen zu müssen.» Wenig erstaunlich also, dass sich der Halloween-Effekt, wie die Saisonalität in angelsächsischen Ländern genannt wird, mit der zunehmenden Professionalisierung der Finanzbranche noch verstärkt hat. Die oben erwähnten Studien von Jeffrey und Yale Hirsch und von Jacobsen bestätigen dies: «Tatsächlich hat sich der Halloween-Effekt in den letzten fünfzig Jahren stetig verstärkt.» Auch heuer eine Winterrally? Gewiss, Börsenkursentwicklungen basieren auf menschlichen Entscheiden – und diese können nicht zuletzt an den Finanzmärkten höchst irrational sein. Doch meist nur vorübergehend. Die Robustheit der Saisonregel und müsste demzufolge den helvetischen Aktienanlegern und Aktienanlegerinnen auch heuer Mut machen. Trotz der eingangs erwähnten Besorgnisse und trotz der Crash-Ängste vieler Marktteilnehmenden. Der Winter mag noch so eisig ausfallen, an den Aktienmärkten wird es spätestens im Dezember deutlich wärmer werden. So, wie es (fast) immer der Fall war. Nicht auf Einmaleffekt setzen Aber doch noch ein Wort zur Vorsicht. «Sell in May» funktioniert allenfalls als langfristige Strategie, nicht als kurzfristige taktische Entscheidung. Anlegerinnen und Anleger müssen sich also jahrelang diszipliniert an diese Strategie halten, damit sie Früchte tragen kann. Wer dieses Jahr auf «Buy in November» setzt, aber nächstes Jahr bereits wieder zu einer anderen Strategie wechselt, vergrössert eher seine Risiken, als dass er sie senkt. Denn solche kurzfristigen Wechsel verzeiht nicht einmal eine Strategie, die auf 200 Jahre Erfolg zurückblicken kann.