Nachhaltigkeits-Ranking: Schweizer Firmen legen leicht zu

Die einen sind Ignoranten, grummlig und verschlafen, die anderen Blender, laut und schönfärberisch. Und dann gibt es die Dritten: Sie machen Ernst mit dem Schutz von Umwelt, Klima, Gesellschaft und guter Unternehmensführung; arbeiten sich unaufgeregt Schritt für Schritt vor. Zu ihnen gehören Sonova, Migros und Novartis. Und im Gegensatz zu jenen, die im Wochentakt vermeintliche oder tatsächliche Erfolgsmeldungen mit den Affichen «grün», «fair» oder «nachhaltig» verschicken, stehen sie auf dem Siegerpodest im neuen Nachhaltigkeitsranking der «Handelszeitung». Im Schnitt etwas besser Zum zweiten Mal haben wir Nachhaltigkeitsratings des Investorendienstleisters ISS ESG zu mehr als 150 börsenkotierten Schweizer Unternehmen und einigen Grossgenossenschaften ausgewertet. Erfasst wurde das Who’s Who der Schweizer Wirtschaft; von der Detailhändlerin Migros bis zur Grossbank UBS, vom Tech-Anbieter Logitech bis zu den Kraftwerken Oberhasli. Fazit: Im Schnitt erhielten die Unternehmen ein leicht besseres Rating im Vergleich zum Vorjahr; doch vom Maximalwert von 100 Punkten sind die meisten nach wie vor weit entfernt. Die 20 im SMI vereinten Unternehmen bringen es im Schnitt auf gerade mal 53 Punkte. Die leichte Verbesserung zum Vorjahr von 2,4 Punkten hat in erster Linie damit zu tun, dass die bei Umwelt, Klima und Gesellschaft notorisch tief bewertete Swatch Group – der Uhrenhersteller kam 2020 auf gerade mal 16,9 Punkte – aus dem SMI fiel und von der beim Thema Nachhaltigkeit deutlich besser abschliessenden Logitech (49,9 Punkte) abgelöst wurde. And the Winner is: Sonova Auf dem ersten Rang der 153 untersuchten Unternehmen liegt Sonova. Der Hörgerätehersteller schafft 68 von 100 Punkten und ist ein Beispiel dafür, wie man sich dem Kampf gegen Ressourcenverschleiss, Umweltverschmutzung, Klimawandel und Ausbeutung besonders konsequent verschreibt. Sonova hat den CO₂-Ausstoss in den letzten zwölf Monaten um 9,5 Prozent gesenkt, den von Treibhausgasen aller Art gar um 20 Prozent. Noch gibt es viel zu tun, das weiss auch die Firma. Etwa beim Strommix, wo der Anteil aus erneuerbaren Quellen wie Wind oder Sonne erst bei 18 Prozent steht – und nun kontinuierlich gesteigert werden soll. Strom will man bei Sonova bereits ab nächstem Jahr nur noch aus nachhaltigen Quellen beziehen, so die steile Vorgabe. Die Firma ordnet sich bei ihren Bestrebungen dem strengen Regime der Taskforce on Climate-related Disclosures (TCFD) unter, die sich am Financial Stability Board (FSB) orientiert. Wer bei der TCFD mitmacht, verpflichtet sich auf einen ambitionierten Nachhaltigkeitspfad, und zwar mess- und überprüfbar. 700 Kriterien für Nachhaltigkeit So etwas freut das Research-Unternehmen ISS ESG, welches die Bereiche Ökologisches, Soziales und Unternehmensführung abgreift und auf dessen Datenanalyse das «Handelszeitung»-Ranking fusst. ISS ESG gehört der Deutschen Börse und misst seit Jahrzehnten den Nachhaltigkeitsgrad von 10 000 Unternehmen weltweit, unter Verwendung von 700, überwiegend branchenspezifischen Kriterien. Zu den Parametern gehören Unfallstatistiken, CO₂-Ausstoss, Diversitätskriterien wie der Frauenanteil im Kader, Wasserverbrauch oder Konflikte mit der lokalen Bevölkerung. Die Firma zählt 500 Expertinnen und Experten, Mathematiker, Methodologinnen und Softwareexperten. Was ihre Knobelarbeit besonders wertvoll macht, ist die Vergleichbarkeit. Die Firmendaten seien nach Branchen gewichtet und entsprechend über die Sektoren vergleichbar, sagt ISS-ESG-Managing-Director Robert Hassler. So ist eine Grossbank, die es in der Endabrechnung auf 65 Punkte bringt, in der Disziplin Nachhaltigkeit gleich gut unterwegs wie eine Maschinenfirma oder ein Retailer mit demselben Score. Das erleichtert die Arbeit von Pensionskassenmanagern oder Privatinvestorinnen, wenn sie ihre Portfolios auf mehr Nachhaltigkeit ausrichten wollen. Von den 50 wichtigsten Unternehmen erzielt die Migros mit 66,56 Punkten das zweitbeste Ergebnis. Insgesamt liegt sie auf dem dritten Rang hinter der neu erfassten Emissionszentrale für gemeinnützige Wohnbauträger (67,3 Punkte). Überraschend ist das nicht; die Migros gehört – noch deutlich vor dem auf Rang zehn positionierten Coop (60,75 Punkte) – zu den fortschrittlichsten Retailern überhaupt. Die Anstrengungen der Duttweiler-Nachfolger sind in vielen Bereichen vorbildlich. So ist die Zürcher Detailhändlerin etwa daran, die Fahrzeugflotte auf wasserstoffbetriebene LKW umzurüsten, welche 80 Prozent weniger CO₂ ausstossen als Diesellaster. Auch beim Recycling setzt der orange Riese Standards: Die Rezyklierquote in der Migros-Gruppe beträgt mittlerweile stolze 78 Prozent. In den Läden will man dem immer noch exorbitanten Verpackungsanteil zu Leibe rücken, etwa mit Zero-Waste-Abfüllstationen für Biolebensmittel oder für Wasch- und Reinigungsmittel. Das Augenmerk gilt künftig noch stärker dem Energiekonsum, bei dem der Hebel besonders gross ist. Bis 2025 will die Migros Gemüse und Früchte aus beheiztem Anbau nur noch aus Gewächshäusern mit erneuerbarer Energiequelle anbieten. Damit erhofft Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen, die Welt vor 75 000 Tonnen an CO₂ zu bewahren. Bei den SMI-Konzernen hat Novartis die Nase vorn Neben den bestplatzierten Sonova und Migros schlägt auch Novartis beim Thema Klima, Umwelt und Gesellschaft obenaus – und dies ebenfalls seit Jahren. Nun hat sich der Basler Pharmakonzern gegenüber 2019 bei der Notengebung gar von 62,13 auf 66,22 Punkte (Maximum: 100 Punkte) gesteigert und schafft es damit an die Spitze der 20 SMI-Konzerne. Dort löst er die Genfer Prüfgesellschaft SGS als vormalige Siegerin ab. Konzernchef Vas Narasimhan macht Tempo, sein Anspruch ist hoch: Novartis soll nicht nur im Vergleich zur Konkurrenz, sondern zur gesamten Industrie führend sein. Und zwar nicht erst Mitte des Jahrhunderts, wie im Abkommen von Paris vorgesehen, sondern schon 2030. Um seine Ambitionen zu unterstreichen, hat Narasimhan vor einem Jahr eine Nachhaltigkeitschefin berufen – ihr Name: Montse Montaner Picart. Sie hat in Barcelona Pharmazie und Industrietechnologie studiert. Ihre Position als Chief Sustainabiliy Officer ist zwei Stufen unter der Konzernleitung angesiedelt, zudem ist sie Mitglied des firmeninternen ESG-Committee. Andere Firmen sind da forscher und haben das Dossier Sustainability in die Geschäftsleitung transferiert; doch die Spanierin geniesst das «Backing» von Big Boss Narasimhan. 90 Prozent des CO₂ von Zulieferern Die Arbeit des Duos Narasimhan/Montaner Picart ist anspruchsvoll. Denn sie haben nur einen Bruchteil der Novartis-Klimaemissionen von 69 Millionen Tonnen jährlich selber in der Hand. Das Spiel entscheidet sich nicht im eigenen Unternehmen, sondern bei den Lieferanten. Konkret: 91 Prozent des Fussabdrucks geht aufs Konto von Novartis-Zulieferern wie Lonza. Gut, dass sich einige der Zulieferer inzwischen selbst der Klimaneutralität verpflichtet haben. Die anderen Externen werden nun mit einem speziellen «Supplier Program» auf Kurs getrimmt. Fürs Erste hat Novartis 100 Firmen im Visier; sie sind zusammen für 45 Prozent der Emissionen der Lieferanten verantwortlich. Bis 2023 sollen insgesamt 1000 Zulieferer aufs strenge Sustainability-Regime eingefuxt sein, womit 98 Prozent der Klimaemissionen abgedeckt wären. Das alles geht nicht ohne – zumindest sanften – Druck. Zuerst ermuntert man zum Mittun. «Wir wollen die Lieferanten einbeziehen», sagt Nachhaltigkeitschefin Montse Montaner Picart. Doch wer nicht mitziehe, der riskiere über kurz oder lang, den Auftrag zu verlieren. Die Betrachtung über die ganze Wertschöpfungskette muss sein. Neben dem eigenen CO₂-Fussabdruck auch den der Stromlieferanten und aller anderen Lieferanten ins CO₂-Budget einzubeziehen, ist Standard. Und gerade für Grosskonzerne wie Novartis und Nestlé bildet es eine Möglichkeit, beim Klimaschutz ihr ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen, um als Hebel für eine klimafreundlichere Welt zu wirken. Zudem ist Novartis zusammen mit andern Pharmagiganten wie Pfizer, Johnson & Johnson und der britischen GSK Teil einer industrieweiten Initiative, um die Energielieferanten beim Klima auf Kurs zu bringen. An der Spitze der Initiative steht die französische Schneider Electric –das Unternehmen setzt bei der Energiegewinnung abseits von Kohle neue Massstäbe. Holcim: Zurück nach einem Zwischentief Nach Novartis fällt unter den Grossfirmen der Versicherer Swiss Life auf. Mit 50,1 Punkten dümpelt er zwar nach wie vor im Mittelfeld, konnte sich aber von zuletzt 42,1 Punkten im Jahr 2021 deutlich verbessern. Mathematisches Pech: Für einen Ranggewinn reicht es trotzdem nicht. Der Zürcher Versicherer landet erneut auf Platz 13 der SMI-Konzerne, knapp hinter Alcon, dem Hersteller von augenchirurgischen Geräten und Kontaktlinsen, den Novartis 2019 in die Selbstständigkeit entlassen hatte. Grösster Verlierer nach Punkten im Betrachtungszeitraum war Holcim. Der Zementgigant fiel zwischenzeitlich von 55,6 auf 54,2 Punkte ab. Für Konzernchef Jan Jenisch muss das frustrierend gewesen sein. Denn die Firma, die aus dem Portfolio von Milliardär Thomas Schmidheiny hervorging, treibt vor allem beim Klimaschutz seine Mitbewerber vor sich her. Holcim hat sich zum Netto-Null bis 2050 verpflichtet und orientiert sich am wissenschaftlich fundierten Absenkungspfad, wie ihn die Science Based Target Initiative (SBTI) für die Zementindustrie vorgibt. Besonders schwierig dabei: Mit erneuerbaren Energien lässt sich bei der Zementherstellung weit weniger machen als in anderen Industrien. Sie sind nur für einen Drittel der CO₂-Emissionen verantwortlich, die bei der Herstellung von Zement entstehen. Die anderen zwei Drittel rühren von den chemischen Reaktionen her, die bei der Herstellung von Klinker – dem Material, das den Zement zusammenhält – ablaufen. Alternativen gibt es: etwa Schlacke aus der Stahlindustrie, Flugasche aus der Kohleindustrie oder kalzinierter Ton. Auch das funktioniert als Kitt für Beton. Doch dafür braucht es Innovation, und dafür soll vor allem sie sorgen: Magali Anderson, Holcim-Nachhaltigkeitschefin und Mitglied der Geschäftsleitung seit einem Jahr und seit März 2021 auch für die Innovation zuständig. Zudem finanziert der Zementriese eine Professur für nachhaltiges Bauen an der ETH Zürich. Die Anstrengungen haben sich ausgezahlt – in einem jüngst nach Abschluss des Referenzzeitraums erfolgten Updates des ESG-Ratings von Holcim sprang die Unternehmensbewertung auf 57,8 Punkte. ESG wird zum Pluspunkt bei Investoren Die Anstrengungen der Firmen sind löblich – und helfen dem eigenen Geschäft: Man spart Kosten und Bussen – und bei der Kundschaft kann man sich mit Öko differenzieren. Aber auch beim Umgang mit Investoren wird die ESG-Performance zunehmend wichtig. Denn der Trend an den Finanzmärkten geht unweigerlich in Richtung Nachhaltigkeit. Umweltbewusste und renditeorientierte Investoren leiten ihr Kapital bevorzugt in jene Firmen, welche nachhaltig geschäften, und schliessen entsprechend umweltbelastende Firmen aus Risikogründen aus. Damit steigen die Kapitalkosten der umweltschädigenden Unternehmen an, was die Investitionstätigkeit und langfristig die gesamte Geschäftstätigkeit des entsprechenden Unternehmens bremst. Wohin es geht, macht der Nachhaltigkeitschampion SGS aus Genf vor, der letztes Jahr das Ranking anführte. Der Messkonzern hat soeben einen Milliarden-Euro-Kredit aufgesetzt, dessen Zinshöhe sich an eigenen Nachhaltigkeitszahlen orientiert, nämlich am CO₂-Ausstoss, am Anteil Frauen im Kader und am Arbeitsausfall durch Zwischenfälle. Erreicht die SGS die Ziele, sinken ihre Zinskosten und damit ihre finanzielle Belastung. So wird das Finanzergebnis direkt an die Nachhaltigkeitsambitionen der Firma gekoppelt. Ein Meilenstein fürs Unternehmen – davon ist SGS-Finanzchef Dominik de Daniel überzeugt. Und wohl ein Trumpf bei Kreditgebern wie Pensionskassen. Wohin die Reise geht, zeigt auch Hubert Keller, Managing Partner bei der Privatbank Lombard Odier, die wie kaum eine andere Schweizer Bank auf die Transformation setzt: «Wir haben Nachhaltigkeit ins Zentrum unserer Investmentstrategie gestellt. Dabei sagen wir der Kundschaft: Klima und Umwelt werden einen massgeblichen Einfluss auf Ihr Portfolio haben, positiv und negativ.» Wer dieses Umdenken als Firma nicht einbezieht, wird früher oder später ein Problem bekommen. «Es gibt Firmen, bei denen man noch den Kopf in den Sand steckt», sagt Vermögensverwalter Keller.