Das Telefon klingelte um 16 Uhr – umgehend hob Gérald Genta, der später als Stardesigner weltberühmt werden sollte, den Hörer ab. Und so nahm ein Telefongespräch seinen Lauf, welches eines der folgenreichsten in der Schweizer Uhrengeschichte werden sollte. Am anderen Ende der Leitung war nämlich Georges Golay, der charismatische Generaldirektor der Marke Audemars Piguet. «Herr Genta», sprach Golay, «ich brauche eine Sportuhr, wie es sie noch nie gegeben hat. Ich möchte, dass es etwas Wasserdichtes und völlig Neues ist. Und ich benötige ihren Entwurf bis morgen.»
Nun, antwortete Genta höflich, das mache er zwar sehr gerne – aber, mit Verlaub, terminlich sei dies doch etwas ambitioniert. «Ich weiss, sie brauchen Zeit», wischte der Patron den Einwand unbeeindruckt zur Seite, «deshalb treffen wir uns morgen erst um 10 Uhr.»
Das Ergebnis, das Uhrenmodell Audemars Piguet Royal Oak, wurde kurz darauf an der Basler Mustermesse 1972 präsentiert – und geriet zu einer der fünf legendärsten Ikonen der Uhrengeschichte. Ein Zeitmesser vor allem auch, der ein neues Genre begründete: die Sport-Chic-Uhr.
Sport-Chic-Uhren heissen so, weil sie den Spagat zwischen Eleganz und Alltagstauglichkeit wagen: Sie verbinden sportliche Robustheit – etwa durch integrierte Gehäuse-Band-Verbindungen – mit einer elegant-urbanen Ästhetik. Berühmte Vertreter dieser Gattung sind neben der Audemars Piguet Royal Oak die Patek Philippe Nautilus oder die Vacheron Constantin Overseas – Modelle, die in den 1970er-Jahren den Begriff «Sport-Chic» überhaupt erst geprägt haben. Heute gilt die Kategorie als das Mass aller Dinge für Marken, die sich zwischen Luxus und Lässigkeit positionieren wollen. Das Angebot reicht vom Modell 222 bei Vacheron Constantin in Gelbgold für 71’000 Franken oder noch teureren Uhren bis zur PRX von Tissot zu 685 Franken.

Vacheron Constantin, 222
Die Neuauflage des historischen Modells aus den 1970ern: Klare Linienführung und schlanke Form verbinden sich in einer kühnen Monobloc-Tonneau-Form: die Historiques 222. Preis: 30’700 Franken.
Die Rolex Land-Dweller als jüngste Schöpfung
Und es ist ein Uhrentypus, welcher einen beispiellosen Siegeszug angetreten hat, wie auch Branchenkenner Oliver Müller vom Beratungsunternehmen Luxeconsult bestätigt. «Von zehn Projekten, bei denen ich um Rat gefragt werde», so berichtet er, «betreffen mittlerweile sieben oder acht ein Sport-Chic-Modell mit integriertem Metallband.» Einziger bremsender Faktor: Wenn man als junge Marke auf die Lancierung eines Goldmodells schiele, könne das beim aktuellen Preis des Edelmetalls mitunter hochfliegende Pläne etwas abkühlen. Rolex, der grösste Goldverarbeiter im Land, muss das nicht abschrecken – so oder so reisst sich die Klientel um Uhren mit dem Kronenlogo auf dem Zifferblatt. Und dieses Jahr präsentierte die Luxusmarke eine neue Uhrenkollektion; Land-Dweller heisst sie und gehört, als müsse der Trend noch geadelt werden, in die Kategorie der Sport-Chic-Uhren mit integriertem Armband.
Geburtshelferin der Gattung war 1972 die pure Verzweiflung. Heulen und Zähneklappern herrschte in der Branche, die Quarzkrise hatte ihr brutal zugesetzt. Auch die eingangs erwähnte Marke Audemars Piguet befand sich in einer schwierigen Kurve. Man schrieb schon länger schlechte Zahlen, dringend musste ein Erfolg her, und dafür setzte Generaldirektor Georges Golay alles auf eine Karte: das Modell Royal Oak, die Uhr im Design von Gérald Genta – gerne als «Picasso des Uhrendesigns» bezeichnet.

Rolex, Land-Dweller 40
Auch die neuste Kreation der erfolgreichsten Uhrenmarke der Welt, Rolex, fällt in die Kategorie der Sport-Chic-Uhren: die Land-Dweller. Das abgebildete Modell, die Land-Dweller 40 Platinum, kostet 60’600 Franken.
Aus heutiger Sicht war das visionär: Die Royal Oak machte für die Marke später bisweilen deutlich über 80 Prozent des Geschäfts aus – nach wie vor ist sie das Gesicht von Audemars Piguet, die damit überaus erfolgreich agiert: Traut man den jüngsten Schätzungen der Privatbank Morgan Stanley mit dem Beratungsunternehmen Luxe Consult, hat die Marke letztes Jahr einen Umsatz von rund 2,4 Milliarden Franken erreicht und sich damit als viertgrösste Schweizer Marke positioniert.
Doch am Anfang blieb die Uhr wie Blei in den Regalen der Bijoutiers liegen – sie war ein Schock. Eine Luxusuhr aus Stahl? Unmöglich fand man das. Sichtbare Schrauben auf der Lünette? Skandalös! Ein integriertes Metallband statt feinen Leders? Grauenvoll! Bis eines Tages Stilikone und Fiat-Chef Gianni Agnelli mit einer Royal Oak gesichtet wurde, die er locker-lässig über der Hemdmanschette trug. Damit war das Eis für die Uhr gebrochen.
«Das ist doch keine Patek Philippe»
Und ebenfalls für das Genre: Mit der Nautilus lancierte auch Patek Philippe im Jahr 1976 eine Sport-Chic-Uhr mit integriertem Band – wiederum von Design-Grandseigneur Gérald Genta gestaltet. Erneut stiess man damit zunächst auf schroffe Ablehnung: «Was macht ihr da, das ist doch keine Patek Philippe», klagten die Juweliere, erinnerte sich Hank Edelman, damals Chairman von Patek Philippe, in einem Presseinterview: «Wir mussten den Juwelieren die Arme verdrehen, damit sie die Uhr überhaupt nahmen.» Doch auch die Nautilus wurde zum Bestseller. Zur eigentlichen Sensation geriet am 11. Dezember 2021 die Versteigerung einer Patek Philippe Nautilus Ref. 5711/1A-018 mit türkisblauem Tiffany-Zifferblatt beim Auktionshaus Phillips in New York: Die Uhr kam für 6’503’000 Dollar unter den Hammer – das ist enorm viel für eine Stahluhr.

Patek Philippe, Cubitus
Mit der Nautilus lancierte Patek Philippe 1976 seine erste Sport-Chic-Uhr, ebenfalls von Design-Grandseigneur Gérald Genta gestaltet. Die Cubitus ist der «kleine Bruder» der Nautilus. Diese Cubitus kostet 52’800 Franken.
Vor einem Jahr schob die Genfer Luxusmarke der grossen Ikone einen «kleinen Bruder» nach, wie Patek-Philippe-Präsident Thierry Stern es formulierte: die Patek Philippe Cubitus. «Ich wollte eine viereckige Uhr, die unsere sportlich-elegante Kollektion ergänzt», sagte Thierry Stern bei der Lancierung. Wie es sich bei dieser Stilrichtung gehört, rümpften ein paar selbsternannte Uhrenkenner zwar umgehend die Nase – vorab in den sozialen Medien. Doch der Erfolg gab der Marke recht: Auf dem Sekundärmarkt werden die Cubitus-Uhren deutlich über Ladenpreis gehandelt. Auch Chopard hatte mit der Lancierung ihrer Sport-Chic-Linie – sie heisst Alpine Eagle – ein glückliches Händchen: Schon bald nach deren Lancierung – das war 2019 – konnte Karl-Friedrich Scheufele, Co-Präsident von Chopard, über die Entwicklung der jüngsten Kollektion frohe Nachrichten verbreiten: «Die Alpine-Eagle-Idee hat sich durchgesetzt», sagt er. «So sehr, dass wir derzeit mit der Produktion verschiedener Modelle nicht mehr nachkommen.»

Alpine Eagle Platinum
Chopard erweitert seine Sportuhrenkollektion Alpine Eagle um eine Platinversion, die dasultraflache 41-XP-Gehäuse mit einem neu geformten Armband kombiniert. Preis auf Anfrage.
Hinter der Uhr steckt eine zauberhafte Familiengeschichte: Als Karl-Friedrich Scheufele Jahrzehnte vorher seinem Vater Karl vorschlug, für Chopard eine Sportuhr zu lancieren, biss er zunächst auf Granit. «Chopard hat noch nie Stahluhren gemacht», antwortete der Vater, «und überhaupt, wasserdichte Uhren und Sportuhren sind nicht wirklich unser Ding.» Sie gerieten im Gegenteil zum erfolgreichen Ding: Am Ende des Tages hatte sich der Vater nämlich doch überzeugen lassen, die Uhr wurde 1980 unter dem Namen «St. Moritz» vorgestellt – 15’000 Stück konnte Chopard verkaufen.
Der Appeal der 1970er-Jahre
Fast vierzig Jahre später wiederholte sich die Geschichte. Nur dass es diesmal die dritte Generation war, die das Neue anschob: Karl-Fritz Scheufele, Sohn von Karl-Friedrich, lag seinem Vater schon lange in den Ohren. Karl-Fritz hatte nämlich die «St. Moritz» zufällig in Vaters Büro entdeckt. Cool fand er sie, so etwas müsste man unbedingt wieder machen. Dass sich Karl-Friedrich überzeugen liess, hat mit einem starken Argument des Sohnes zu tun. 70 Prozent aller exportierten Uhren im Preisbereich über 3000 Franken hätten ein Metallarmband, hatte dieser herausgefunden, genau das aber fehle Chopard seit dem Produktionsende der «St. Moritz».
Die Alpine Eagle ist nicht die einzige junge Erfolgsgeschichte in dieser Uhrenkategorie – im Einsteigersegment sorgte die Swatch-Group-Marke Tissot mit dem Modell PRX für Furore, der Hommage an eine Tissot von 1978. Mit einer Inszenierung im Stil des Seventies-Glamours sprach man gezielt auch jüngere Kunden an. «Wir verkaufen zwanzigmal mehr als ursprünglich geplant», freute sich CEO Sylvain Dolla.

Tissot, PRX
Für preisbewusste Uhrenliebhaber bietet Tissot eine Reihe von Sport-Chic-Uhren. Im Bild die Tissot PRX Titan 38MM.Preis: 795 Franken
Es dürfte am Appeal der 1970er-Jahre liegen. Jedenfalls kam auch die Nobelmarke Vacheron Constantin kürzlich mit einer Uhr auf den Markt, deren Gene aus jenem Jahrzehnt stammen. 1977 war es, man feierte das 222-jährige Bestehen der Marke mit einer Uhr, welche Jörg Hysek entworfen hatte. Hysek hat als Gestalter für viele Uhrenmarken gearbeitet, für Rolex, Cartier, Ebel, Omega, Tiffany und eben Vacheron Constantin. Hauptmerkmal seiner Uhr namens 222 war, typisch für die Seventies, die Mischung aus Sportlichkeit und Eleganz. Die Uhr hatte ein integriertes Metallband, eine geriffelte Lünette und – als besonderes Erkennungszeichen – ein Malteserkreuz an der rechten unteren Gehäuseecke bei 5 Uhr. Zum 270-Jahr-Jubiläum dieses Jahr legte Vacheron Constantin eine Hommage der Uhr auf – aus Stahl.
Das Zifferblatt erinnert an Tic-Tac-Dragées
Man kann die Historie des Genres auch in einer ganz neuen Formensprache interpretieren – das taten für die Marke Louis Erard Designer Barth Nussbaumer und CEO Manuel Emch bei der eben lancierten Modellreihe 2340. Von Tabletten, Pillen oder auch Bonbons liessen sie sich bei der Gestaltung leiten und verpassten dem Zifferblatt ein Muster, das an Tic-Tac-Dragées erinnert. Künftig will man sich auch von Computerspielen und Manga-Comics inspirieren lassen. Ideen sind gefragt, denn der Sport-Chic-Markt ist heiss umkämpft. Weitere Player im Spiel sind unter anderem etwa Maurice Lacroix mit der dem Vernehmen nach sehr erfolgreichen Linie Aikon. Oder, schon lange dabei, Girard Perregaux mit der Laureato Fifty. Auch IWC Schaffhausen hat einen grossen Klassiker vorzuweisen: die Kollektion Ingenieur. Sie war 1955 als technisch wichtige, aber optisch eher brave Uhr auf den Markt gekommen. 1967 hatte es einen ersten Relaunch gegeben – doch richtig glücklich wurde man nicht damit: «Der Ansatz wurde bald als zu konservativ beurteilt», sagt IWC-Historiker David Seyffer. Eine neue Form müsse her, befand man, und 1974 ging ein entsprechender Auftrag an den Designer. Die Uhr, die es – designtechnisch aufgefrischt – immer noch im Katalog gibt, wurde, man ahnt es, ein Modell im Sport-Chic-Stil. Was nicht verwundert, wenn man den Designer kennt. Es war der Mann, der zwei Jahre zuvor einen folgenreichen Anruf erhalten hatte und wohl als Vater des Uhrentyps gelten kann: Gérald Genta.
Dieser Artikel ist im Millionär, einem Magazin der Handelszeitung, erschienen (Dezember 2025).

