20 Jahre lang hat Helmut Maucher den Weltkonzern Nestlé geführt. Nun ist die Managerlegende im Alter von 90 Jahren gestorben. 2007 sprach er mit BILANZ über Anstand im Unternehmen, mächtige Verwaltungsräte und fantasievolle Personalabteilungen:

BILANZ: Kurz vor Ihrem 80. Geburtstag publizieren Sie ein Buch über richtiges Management. Ihr Vermächtnis?
Helmut Maucher: Mein Testament, meinen Sie? Gut, ich wurde oft gefragt, ob ich keine Autobiografie schreiben würde.

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Keine gute Idee?
Nein, denn meine Eitelkeiten brauche ich wahrlich niemandem zu erzählen. Letzten Frühling ist mir stattdessen der Einfall gekommen, ein Management-Brevier zu schreiben.

Brevier, das tönt fast schon wie «Die Zehn Gebote».
Der von mir gewählte Titel zielt darauf ab, in konzentrierter Form grundlegende Erkenntnisse erfolgreichen Managements niederzulegen. Es ist als Nachschlagewerk für die Praxis konzipiert einfach, klar und für den regelmässigen Gebrauch. Ich stamme aus dem katholischen Allgäu, da weiss jeder, dass der Priester täglich in seinem Brevier liest.

Nun soll das Management-Brevier ein Verkaufserfolg werden?
Selbstverständlich freue ich mich über jedes verkaufte Buch, aber das Kommerzielle steht nicht im Vordergrund. Ich möchte den an Wirtschaft und Management Interessierten zeigen, welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen ich aus meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Manager ziehe.

Das Renommée der Topmanager hat in letzter Zeit arg gelitten. Nun wollen Sie die Manager zurück auf den Pfad der Tugend führen?
Nein, ich muss und will keinen Berufsstand retten. Mir ging es darum, gewisse Dinge ins richtige Licht zu rücken. Vielleicht werden sich einige fragen, warum ich mir das antue. Aber mit meinem Abstand zum Tagesgeschäft und meiner Autorität müssen gelegentlich Dinge wieder klar und deutlich ausgesprochen werden.

Woran denken Sie?
Ich denke vor allem an gewisse Übertreibungen. Ich bin dafür, dass sich im Human Resources Management die Vorgesetzten wieder mehr um die Mitarbeiter kümmern und sich weniger hinter bürokratischen Systemen verstecken. Oder früher, als die Stakeholder-Theorie aktuell war, habe ich gesagt: Vergesst mir die Aktionäre nicht. Heute, nachdem besonders der kurzfristige Share Value mehr in den Mittelpunkt der Unternehmenspolitik gerückt ist, betone ich immer wieder die langfristige Entwicklung des Aktienkurses und der Gewinne. Die angelsächsische Einflussnahme in der kurzfristigen Betrachtung von Firmen und die Bedeutung der Aktienkurse gehen heute viel zu weit. Der Aktienmarkt ist ein Markt, in dem unzählige Leute mitspielen. Hedge Funds verstärken die Effekte noch. Ich habe mal gesagt: Ich bin lieber Shareholder statt Sharetrader. Das gilt immer noch.

Helmut Maucher und Peter Brabeck

1997: Helmut Maucher gibt die operative Führung an den Österreicher Peter Brabeck-Letmathe ab.

Quelle: Keystone

Das sind die Regeln der Marktwirtschaft.
Klar muss ich damit leben, dass es unter den Investoren zu Druck und Übertreibungen kommt. Und ich akzeptiere auch, dass die Medienintensität stark zugenommen hat. Was ich kritisiere, ist, dass Manager diesem kurzfristigen Druck nachgeben. Gefährlich wird es dann, wenn deswegen eine langfristige Strategie über Bord geworfen wird. Darum fordere ich: Manager müssen stärker und resistenter werden. Sie dürfen ihre langfristige Strategie nicht aus den Augen verlieren. Tatsache ist doch, dass eine Akquisition für den Käufer innerhalb der ersten zwei, drei Jahre zur finanziellen Belastung werden kann. Heute können mir meine Nachfolger dankbar sein, dass wir in der Vergangenheit all diese Akquisitionen getätigt und Milliarden in die Zukunft investiert haben. Manchmal wird die Ernte halt erst nach ein paar Jahren eingefahren. Dass das dem kurzfristig orientierten Investor nicht passt, ist verständlich.

Wie viele Manager widerstehen dem tagesaktuellen Druck nicht?
Die Hälfte, schätze ich, vielleicht mehr. Es gibt aber auch positive Beispiele. Nehmen Sie BASF, ein tolles Management, man verdient gut, aber will nicht kurzfristig einen möglichst hohen Gewinn rauspressen weil man eine langfristige Strategie verfolgt. Roche wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, trotzdem hat man Kurs gehalten. BASF und Roche sind Firmen, die langfristig Erfolg haben. Dazu gehört, wenn Sie erlauben, auch Nestlé. Die Firma hat keine Akquisition ausgelassen, wenn sie sinnvoll war. Und sie war nie auf schnelle Gewinnmaximierung aus.

Immerhin lassen sich die Manager für die Druckversuche fürstlich belohnen.
Es soll bitte keiner jammern. Früher wäre man gar nicht auf die Idee gekommen, ein Salär in zweistelliger Millionenhöhe zu fordern.

Die Zeiten haben sich geändert: Heute kassiert Nestlé-Chef Peter Brabeck gegen 14 Millionen Franken.
Ich bin durchaus dafür, dass die Topmanager gut und angemessen verdienen. Ich selbst habe bei Nestlé die Stock Options eingeführt. Doch alles ist eine Frage des Masses.

Wir rekapitulieren: Ein zweistelliges Millionensalär halten Sie für überrissen?
Nein, nicht generell. Ich bin trotzdem gegen Übertreibungen: nicht weil ich das Geld niemandem gönne, sondern primär aus sozialpolitischen Gründen. Und weil es die Akzeptanz der Marktwirtschaft in Frage stellt. Das ist der Kern meiner Überlegungen. Jeden Tag muss ich als Konzernchef meine Leute zu Kostenbewusstsein anhalten. Meine Glaubwürdigkeit sinkt jedoch, wenn ich gleichzeitig beim eigenen Salär tüchtig zulange. Deshalb sage ich: Überzogene Gehälter sind das falsche Signal. Im Übrigen wird bei der heutigen Transparenz, welche die Medien mit ihren Gehaltsranglisten erzeugen, ein Ungleichgewicht schnell zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion.

Helmut Maucher und Peter Brabeck 1999

1999: VR-Präsident Helmut Maucher mit CEO Peter Brabeck-Letmathe an der Generalversammlung in Lausanne.

Quelle: Keystone

Sie haben als Nestlé-Konzernchef täglich weit reichende Entscheide getroffen. Worauf haben Sie mehr gehört auf Kopf oder Bauch?
Letztlich weiss niemand genau, weshalb man sich für oder gegen etwas entscheidet. Ich bin überzeugt, dass bei aller wissenschaftlich fundierten Betriebsführung und exakten Analyse etwas in den Entscheidungsprozess einfliesst, das man nicht begründen kann.

Und wenn Sie einmal nicht mehr weiterwussten?
Dann bin ich meinem inneren Kompass gefolgt. Der ist über die Jahre aus Logik und Erfahrung entstanden. Vielleicht ist das Intuition, diese kreative Verwertung von Informationen. Nicht allen ist das gegeben. Manche Manager kriegen einen Haufen Daten vorgesetzt, doch sie können damit nichts anfangen. Die zweite Gefahr: Wenn man sich einmal entschieden hat, wird zu lange gezögert. Konsequenz ist da ganz wichtig. Dann muss man handeln.

Wie sind Sie mit Fehlern umgegangen?
Man trifft manchmal auch Fehlentscheidungen. Diese werden aber erst zur Katastrophe, wenn man nicht darauf reagiert. Gute Leute haben die Fähigkeit, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Gefährlich wird es erst, wenn einer aus Stolz oder Sturheit am falschen Weg festhält.

Bei der heutigen Managergeneration spielen Zahlen und Analysen eine viel wichtigere Rolle als Bauch und Intuition. Richtig?
Zweifellos. Vielleicht gibt es ja auch mehr Informationen, die zu beachten sind. Aber ich bin der Überzeugung, dass Manager ohne Intuition schlechter entscheiden. Zudem besteht die Gefahr, dass keiner neue Wege geht, weil alle auf dieselben rationalen Grundlagen vertrauen.

Vor dem Kauf des US-Konzerns Carnation, der damals grössten transatlantischen Akquisition, haben Sie dem Nestlé-Verwaltungsrat exakt 13 Seiten Unterlagen abgeliefert. Das ist heute unvorstellbar.
Stimmt. Heute werden 1000 Seiten geschrieben, 30 Juristen eingeschaltet und ein Dutzend Investment Banker, die auch noch ein paar Millionen verdienen. Das ist nicht notwendig.

Es gilt, Risiken frühzeitig zu minimieren.
Wir haben uns bei Nestlé, als das Thema Diversifikation Mode war, ja nicht auf ein unbekanntes Terrain begeben und Fahrradfabriken gekauft, sondern in Branchen investiert, die wir kannten. Deswegen müssen wir auch heute, da Kerngeschäft und Fokussierung in Mode sind, keine Fahrradfabriken verkaufen. Den US-Konzern Carnation hatten wir schon lange auf dem Radarschirm. Wir kannten die Marken, ihren Wert, die Marktanteile, Wachstumsraten. Dazu haben wir natürlich ein bisserl gerechnet, haben die Synergien, die finanzielle Belastung geprüft. Das waren aber keine Aktenberge. Ich behaupte: Zusätzliche Informationen bringen oft keinen Zusatznutzen. Das Wichtigste und Entscheidende kann man auf 13 Seiten schreiben.

Heute würden bei einer Milliardentransaktion weiterhin 13 Seiten genügen?
Vielleicht sind einige Dinge heute komplizierter, vielleicht müsste man ein paar zusätzliche Juristen einschalten, aber ich bleibe dabei: Es wird übertrieben. Ich fädelte in den neunziger Jahren ein Joint Venture mit General Mills ein. Dafür redete ich zwei Stunden lang mit deren CEO, Bruce Atwater, dann entschieden wir uns. Anschliessend haben wir die Juristen beauftragt, diese Kooperation unter dem Namen Cereal Partners Worldwide in einen Vertrag zu giessen. Für uns beide war völlig klar, was wir wollten. Und wir wussten beide, dass dies der richtige Weg war. Heute bereitet dieses Joint Venture Nestlé ganz viel Freude.

Der Verwaltungsrat hat Sie nie in Ihrem Expansionsdrang gebremst?
Offenkundig konnte ich sie immer überzeugen. Einzelne haben ab und zu Blut geschwitzt. Einer hat mich nach der Carnation-Sitzung gefragt: Mensch, Helmut, haben wir das jetzt richtig gemacht? Letztlich haben sie mir vertraut, weil sie wussten: Was der Maucher erzählt, macht Sinn. Und weil sie überzeugt waren, dass auf den Mann Verlass ist.

Helmut Maucher und Peter Brabeck 2004

2004: Helmut Maucher, Ehrenpraesident des Verwaltungsrates und Peter Brabeck-Letmathe, CEO der Nestle AG, im neuen Product Technology Centre (PTC) in Singen, Deutschland.

Quelle: Keystone

Ihre Macht bei Nestlé war fast absolut, spätestens als Sie CEO und VR-Präsident waren.
Ach, da gab es keinen grossen Unterschied ob ich nun CEO war oder CEO und Präsident des Verwaltungsrates. Das hat bezüglich meiner wirklichen Verantwortung nicht viel geändert. Ich habe immer geführt und entschieden.

Eben, die Allmacht des Helmut Maucher.
Falsch, ich hatte einen fünfköpfigen Verwaltungsratsausschuss, der mich eng begleitete. Da sassen weiss Gott keine Dummköpfe drin: Fritz Leutwyler, der ehemalige Nationalbank-Präsident, François Dalle, damaliger Chef von L'Oréal, Fritz Gerber von der Roche, Rainer Gut von der Credit Suisse. Diese Herren wussten exakt Bescheid und haben mir auf die Finger geschaut. Wenn diese Truppe das Gefühl gehabt hätte, dass der Maucher abhebt, hätten die mich gnadenlos auf den Boden geholt oder hinausgeschmissen.

Sie waren trotzdem ein «Klumpenrisiko». Nestlé war 20 Jahre lang Maucher.
Wenn man CEO und VR-Präsident ist, müssen zwei Dinge gewährleistet sein: Es braucht einen starken VR-Ausschuss, der im Notfall rigoros durchgreift. Auch habe ich immer darauf geachtet, dass da starke Leute drin sassen. Ich selber habe stets auf einen Vertrag über ein Jahr gepocht. Zweitens habe ich dafür gesorgt, dass ein möglicher Nachfolger bestimmt war, falls ich einmal tot aus einem Flugzeug gefallen wäre. Im Verwaltungsrat sind wir jedes Jahr das Topmanagement durchgegangen und haben die Leute bewertet. Da wurde auch die Nummer zwei bestimmt. Ich habe nach der Sitzung jeweils das Protokoll geschrieben, dann wurde es sicher versorgt. Wäre mir etwas zugestossen, hätte mein Nachfolger das Couvert aufgemacht und eine Analyse des Managementteams vorgefunden.

Mit dem Verwaltungsrat waren Sie auch in Personalfragen nie uneins?
Eigentlich nicht. Und wenn es dreimal gekracht hätte, hätte er sich einen neuen CEO suchen müssen. Hingegen hat es im Vorfeld immer wieder Diskussionen gegeben. Auch als ich Peter Brabeck als künftigen CEO vorstellte, wurde debattiert. Aber so etwas ist schliesslich eine Selbstverständlichkeit.

Worum ging es?
In Personalfragen hat jeder seine Vorstellungen.

Sie sagen: «Bescheidenheit, aber mit Stil» das sei Nestlé.
Richtig, ich wollte keine Angeber, das passt nicht zu Nestlé. Aber ich wünschte mir immer Stil, Niveau und Umgangsformen, auch mit anderen Kulturen. Topmanager haben die Aufgabe, zu loben, zu kritisieren, anzutreiben und die Werte einer Firma zu vermitteln.

Die Kultur als Spiegelbild einer Firma.
Aber bitte kein Sackhüpfen oder Baumklettern, um den Teamgeist zu stärken. All diese Eingriffe, die heute von kreativen Managern oder Human-Resources-Abteilungen gemacht werden, lehne ich ab. Ich wollte die Leute nie dazu bringen, etwas zu tun, das sie gar nicht wollten. Und ich verlangte auch nicht, dass die Manager am Wochenende in einem Spital Kinderpopos putzen oder Böden wischen. Aber ich habe die Leute sehr wohl danach beurteilt, ob sie soziale Kompetenz haben und ob jemand breit denken kann. Und wenn einer sich intrigant verhielt, dann griff ich gnadenlos durch.

Nestlé hätte die Züge eines Ordens, hiess es immer wieder.
Journalisten haben mal behauptet, Nestlé sei ein Kloster das ist völlig abwegig. Richtig aber ist, dass die Firmentreue sehr gross ist und dass ich zusammen mit Peter Brabeck «Management- und Führungsprinzipien» niedergeschrieben habe, die Bestandteil der Firmenkultur sind. Nein, die Nestlé-Kultur ist offen für Veränderungen und akzeptiert andere Kulturen.

Mit Mario Corti steht Ihr ehemaliger Finanzchef vor Gericht. Ihre Einschätzung?
Mario Corti ist ein hochanständiger Mann. Er ist in diese Sache hineingeraten, weil er das Unternehmen Swissair retten wollte. Eine Tragödie.

Immerhin hat er sich vorgängig zwölf Millionen Franken auszahlen lassen.
Das Risiko, das er einging, war wahnsinnig hoch. Aber ich verstehe auch, dass dieser Bezug die Diskussion nicht einfacher macht. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass Mario Corti viel Unrecht getan wurde.

Wie haben Sie es geschafft, all die Managerjahre ohne Schaden zu überstehen?
Ich bin mit 72 Jahren bei Nestlé ausgetreten und war überhaupt nicht erschöpft und bin es auch heute nicht. Mir hat es immer Spass gemacht, ich war stets neugierig, durfte immer wieder dazulernen. Ich war auch nie gestresst und habe immer gut geschlafen. Ich litt nie unter dem täglichen Druck, ich habe ja auch nie hochriskante Dinge angerissen.

Ihre Familie hat nie geklagt?
In meiner Generation haben Frauen die berufliche Situation ihres Mannes eher akzeptiert und haben bei der Kindererziehung, der Haushaltsführung und in der «Haustechnik» mehr Verantwortung übernommen.

Wie haben Sie es geschafft, als Managerlegende nicht abzuheben?
Als Alemanne, der in einem Dorf aufgewachsen ist, hebt man nicht so schnell ab. Ich bin auch nie im stillen Kämmerlein vor dem Spiegel gestanden und habe gesagt: Mensch, Maucher, du bist der Grösste. Das entspricht nicht meinem Charakter.

Sie waren zeitlebens bei Nestlé. Hätten Sie sich auch eine andere Karriere vorstellen können?
Sicher. Ich habe ab und zu mit einer politischen Karriere geliebäugelt. Mancher hat es mir sogar empfohlen. Als junger Mann im Allgäu hat mich aus der damaligen Sicht der Posten eines Landrates gereizt.

Als Nestlé-Chef haben Sie Entscheidungen durchgebracht, als Bundeskanzler wäre dies kaum möglich gewesen.
Jeder gute Mann hat eine etwas grössere Chance, etwas durchzubringen. Ein Bismarck, ein Adenauer oder ein Kohl haben einiges bewirkt. Ich habe mit Helmut Kohl ab und zu geredet und ihn gelegentlich auch kritisiert. Dann hat er jeweils zu mir gesagt: «Ach, Maucher, du nimmst das alles viel zu ernst.» Nein, am Schluss war ich glücklich, dass ich in der Wirtschaft geblieben war.