Nachhaltiges Bauen: ETH-Professorin Catherine De Wolf: «Recycling ist oft nur Greenwashing»

Sie beschäftigen sich mit Kreislaufwirtschaft im Bausektor. Warum ist das ein wichtiges Thema? Jede Sekunde werden in der Schweiz 500 Kilo Bauabfälle durch Abriss von Bauten verursacht. Die Baubranche ist für 80 Prozent der gesamten Abfälle in der Schweiz verantwortlich. Ist die Schweiz ein Sonderfall im Produzieren von Bauabfall? Zum Vergleich: In der EU fallen nur 35 Prozent der Abfälle aus der Baubranche an. Das hat zwei Gründe. Erstens erhöhen die hohen Bodenpreise hierzulande den Druck auf eine optimierte Ausnützung. Und zum Zweiten sehen wir auch eine Korrelation zwischen dem Reichtum eines Landes, der Höhe der Löhne und der Wertschätzung für Materialien. Was ist die Alternative? Die meisten Gebäude, die heute abgerissen werden, könnte man weiternutzen. Aber viele Investoren und die Baubranche argumentieren damit, dass heutige Neubauten fünf- bis siebenmal energieeffizienter sind als fast alle Bauten, die vor 1980 entstanden. Dieses Narrativ ist aber interessengetrieben und berücksichtigt nicht, wie viel graue Energie durch einen Abriss verloren geht. Wichtige Faktoren sind und bleiben der knappe Boden und die Möglichkeit, durch Abriss und Verdichtung einen finanziellen Mehrwert zu schaffen. Sie empfehlen also Renovationen und Dämmungen statt Abreissen? Renovieren ist in der Schweiz leider sehr stark reguliert. Es gibt so viele Normen und Vorschriften, sodass eine Renovation in der Regel teurer als ein Neubau wird. Zudem sind die Vorschriften sehr standardisiert. Aber Bauten sind keine Standardprodukte wie zum Beispiel Kühlschränke, bei denen man problemlos mit Energieklassen arbeiten kann. Jedes Gebäude ist ein Unikat. Wenn man zum Beispiel den Energieverbrauch pro Quadratmeter als Parameter nimmt, macht es einen riesigen Unterschied, ob es sich auf ein Gebäude bezieht, in dem zwei Personen wohnen, oder auf ein Spital. Das Gesetz macht hier zu wenig Unterschiede bezüglich wichtiger Kriterien wie Nutzung, Lage oder Besonnung einer Liegenschaft. Es bräuchte meines Erachtens für jedes Gebäude ein Einzel-Assessment durch Experten und keine «One size fits all»-Regelwerke. Aber die bessere Energieeffizienz neuer Gebäude müsste doch auch Ihnen ein Anliegen sein? Der Schweizer Immobilienbestand ist im Vergleich zu anderen Ländern im Schnitt bereits ziemlich gut isoliert. Wir konnten praktisch in allen von uns untersuchten Fällen nachweisen, dass eine Renovation ökologisch sinnvoller wäre als ein Neubau. Es gibt aber doch auch viele Baumaterialien, die nach dem Abriss recycelt werden. Genügt das nicht? Recycling erfordert auch eine Menge Energie. Wenn Sie zum Beispiel Stahl wiederverwenden wollen, müssen Sie es unter hoher Hitze einschmelzen. Auch beim Beton-Recycling ist der Energiebedarf enorm. Zudem ist die Qualität des recycelten Betons nicht gut genug. Mit Recycling wird zwar Abfall vermieden, aber die Energiebilanz ist schlecht. In meinen Augen ist das oftmals nur Greenwashing. Wo sehen Sie die besten Chancen, um ein Umdenken herbeizuführen? Es muss bei den Auftraggebern und bei den Architekten beginnen. Letztere haben die Tendenz, so zu bauen, wie wenn sie für die Ewigkeit bauen würden. Sie verwenden Stahl, es wird geschweisst und geklebt. Zeitgenössische Bauten überleben aber oft nur 20 bis 50 Jahre. Also sollte man entweder so bauen, dass ein Gebäude so langlebig wie möglich ist, und schon beim Bauen darauf achten, dass Materialien, Bestandteile und Bauweisen verwendet werden, die leicht auseinanderzunehmen sind und die Einzelteile wiederverwendet werden können. Die Japaner sind gut darin, Gebäudeteile so zu verbinden, dass sie ohne Kompositstoffe auskommen und damit leicht wieder auseinandergenommen und einer neuen Verwendung zugeführt werden können. Re-use ist besser als Re-cycle. Täuscht der Eindruck, oder wurde früher generell besser und langlebiger gebaut? Natürlich gibt es Bauten, die in der Antike entstanden sind und heute noch Bestand haben, zum Beispiel das Pantheon in Rom. Dieser Kuppelbau wurde aus Beton mit Vulkanasche und weiteren Substanzen wie Kalk erstellt, und es hat sich gezeigt, dass dieses Material in Verbindung mit Regen sehr langlebig ist. Denn es kann kleine Risse mit Hilfe von Regenwasser selbst reparieren, bevor grössere Risse entstehen. Beton wird heute ja oft als grösster Klimasünder unter den Baustoffen bezeichnet. Gibt es aus Ihrer Perspektive ein Ranking der idealen Baustoffe? Alle möchten immer gerne hören, dass Holz der beste und nachhaltigste Baustoff ist. Aber man muss immer auch den Verwendungszweck berücksichtigen. Beton kann sehr hohe Druckkräfte aufnehmen und ist frei formbar. Darum eignet sich Beton hervorragend für den Bau von Kuppeln und Bogenkonstruktionen. Aber die Erzeugung von Zement, dem Ausgangsmaterial für Beton, verschlingt sehr viel Energie. Zudem braucht Beton oft Stahl als Verstärkung, damit es auch in der Dehnung und in der Biegung funktioniert. Stahl muss wiederum gegen Korrosion geschützt werden. Holz ist überlegen, wenn es um Ökologie geht, denn Holz ist ein nachwachsender Baustoff. Aber auch beim Holz gibt es riesige Unterschiede. Bambus wächst zum Beispiel extrem schnell, ist aber superstark und eignet sich daher hervorragend als Baumaterial. Aber es muss auch sichergestellt werden, dass Wälder wieder aufgeforstet werden. Und wie sehen Sie den Einsatz von Glas, das gerade im heutigen Wohnungsbau einen grossen Stellenwert hat? Glas hat ja keine statische Funktion, aber es entspricht dem heutigen Zeitgeist. Je nach Sonneneinstrahlung müssen Häuser mit grossen Fensterfronten stark gekühlt werden, brauchen also eine Menge Energie im Unterhalt. Erstaunlich ist ja, dass selbst mitten in der Wüste, zum Beispiel in den Golfstaaten, sehr stark auf Glas gesetzt wird, obwohl dies gar nicht in diese Klimazone passt. Und warum ist das so? Die Wahl von Materialen hat eine interessante kulturelle Komponente. Wenn in der Wüste Wolkenkratzer mit viel Stahl und Glas gebaut werden, dann imitiert man damit den Lifestyle von reichen Ländern und ignoriert gleichzeitig das kulturelle Erbe und die klimatischen Bedingungen. Umgekehrt sehen wir auch, dass bei uns immer öfter sehr aufwendig mit gestampftem Lehm gebaut wird, obwohl das sehr arbeitsintensiv und teuer ist und gar nicht zu unserem Kulturerbe gehört. Der Einsatz von Baumaterialien trägt also irrationale Züge? Für mich ist das eine verkehrte Welt: Bei uns ist gestampfter Lehm für die Reichen, in vielen Entwicklungsländern der Baustoff für die Armen. In Belgien, wo ich herkomme, sehen wir auch etwas Interessantes: Im Norden sind Backsteinbauten typisch, im Süden dominiert ein blauer Stein. Aber es gibt Häuser von reichen Leuten im Norden, die sich als Zeichen des Reichtums blaue Schmuckelemente geleistet haben, und umgekehrt. Bauen mit exotischen Materialien hat also viel mit Prestige, Moden und der Zurschaustellung von Reichtum zu tun? Ja, dabei müsste es genau umgekehrt sein. Umweltfreundlich zu bauen, müsste ein Anliegen der Reichen sein, weil sie mehr Geld haben. Genauso wie es sich die Reichen eher leisten sollten, mit dem Zug zu reisen, statt das Auto oder das Flugzeug zu nehmen. Häufig ist die umweltfreundliche die teurere Alternative, und deshalb sollten sie jene nutzen, die es sich leisten können. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnisse in den Köpfen mehr und mehr durchsetzen. Wie kann da die Wissenschaft mithelfen? Wir müssen dazu beitragen, dass ökologische Lösungen günstiger werden. Wir können etwa die Wiederverwertung von Baustoffen effizienter und damit bezahlbarer machen, indem wir die Digitalisierung nutzen. Wir sind dabei, eine Tauschbörse für gebrauchte Baustoffe zu lancieren, quasi ein Tinder für die Baubranche. Sie haben also vom Matchmaking auf Social-Media-Plattformen gelernt? Ja, aber wir haben auch von anderen Sektoren und ihren digitalen Nutzungen gelernt. Zum Beispiel von der Produktion in der Auto- und Flugzeugindustrie, wo Robotik und 3-D-Druck einen grossen Fortschritt ermöglicht haben. Solche Tools können uns neue Möglichkeiten aufzeigen, wie wir Gebäude unkompliziert zusammensetzen und später problemlos wieder auseinandernehmen können. Ausserdem haben wir dank Algorithmen, die von der Vergangenheit lernen, und dank der Nutzung von Big Data die Chance, besser zu prognostizieren, welche Gebäude in der nächsten Zeit zum Abbruch kommen könnten und welche Baumaterialien dabei anfallen werden. Wir helfen bei der Entwicklung dieser Technologien und möchten sie dann diversen Stakeholdern zur Nutzung zur Verfügung stellen. In welcher Form? Wir möchten unsere Software so offen wie möglich gestalten, also eine Open-Source-Lösung anbieten. Aber ich sehe hier grosse Businessmöglichkeiten, die weltweit skaliert werden können. Deshalb sind wir in alle Richtungen hin offen. Wir können uns ein Spin-off vorstellen oder mit geeigneten Industrie- oder Baupartnern in eine Kooperation eintreten. Bewerber, bitte melden! (Lacht.)