Sechs konkrete Trends für die Stadt der Zukunft

Die Stadt der Zukunft ist ein grosses Blabla. Im Nu finden Sie Tausende Vorschläge – oder genauer: «Visionen» –, wie diese Stadt aussehen wird, gern auch mit farbigen 3D-Renderings: Die sehen alle etwa gleich künstlich aus; es fragt sich höchstens, ob sie völlig futuristisch sind (wobei dann irgendwelche fliegenden Taxis herumschwirren), ob sie uns eine Fortführung einer heutigen Siedlung à la Dubai in noch grössere Höhen vorgaukeln, oder ob sie eine Stadt à la Kopenhagen noch heimeliger disneylandisieren. Wenn Sie aber wirklich spüren wollen, was eine Stadt der Zukunft ist, dann reichen Sie doch einfach ein Baubewilligungsgesuch ein. Zum Beispiel in Basel, Bern oder St. Gallen, zum Beispiel für die Umwandlung einer Garage in ein Atelier. Dann erhalten Sie mindestens vier Seiten an Auflagen, die von sechs bis sieben verschiedenen Ämtern verlangt werden. Und dann wissen Sie, dass die künftige Garage alles Mögliche sein kann, aber definitiv nicht visionär. Und so ist auch die Metropole der Zukunft – zumindest in unseren Breitengraden – eine Fata Morgana. Die Denkmodelle, über die Urbanisten, Verkehrsplaner, Architekten, Ingenieure und Intellektuelle aller Art brüten, werden aber lehrreich als Wegweiser. Bei genauerem Hinsehen findet man etwa sechs Grundmodelle. Und jede Vision enthält wohl ein Stück Zukunft.1. Die Dschungelstadt Die Idee ist einfach: Die Natur soll die Städte zurückerobern. Der Mensch plant wieder Siedlungen, die dicht bewachsen sind von Bäumen und Sträuchern. Denn so liessen sich allerlei Probleme angehen: Luftverschmutzung, Erwärmung, Artensterben. Obendrein, so die Hoffnung, fühlt sich der Mensch in einer Dschungelcity weniger dazu veranlasst, ins Grüne zu ziehen (und dort wiederum Land zuzubetonieren). Zaghaft blüht die Idee schon in vielen Formen: «Urban Farming»-Startups wagen sich auf die Märkte, «Guerilla-Gärtner» pflanzen Wildwuchs auf vergessene Asphaltinseln. Dass sich die Ortschaften durch Bepflanzungen gegen die Erwärmung schützen müssen, wird heute vielfach in Gemeinde- und Zonenplanungen berücksichtigt. Und spektakuläre Hochhausprojekte voller Grünpflanzen lassen ahnen, was bald möglich wird – etwa der Bosco Verticale in Mailand, der Komplex «Marina One» in Singapur und, noch recht diskret, das Gartenhochhaus in Rotkreuz, Kanton Zug. Integrale Dschungelstadt-Projekte sind die Waldcities in Shijiazhuang, gut 300 Kilometer südwestlich von Peking, und Liuzhou in Südwest-China. Sie werden von Stefano Boeri geplant (dem Architekten des Bosco Verticale) und sollen dereinst 100'000 beziehungsweise 30'000 Menschen beherbergen. In Wohnhochhäusern, von denen jedes etwa zwei Hektaren für Sträucher und Bäume bieten wird – nicht in der Fläche, sondern zum Himmel hoch. 2. Die CO2-neutrale Stadt Die Stadt der Zukunft hat Solarzellen auf den Dächern und Windparks am Stadtrand, vielerorts stehen Anlagen zur Energiegewinnung aus Klärschlamm, Abfälle dienen zur Gasproduktion: So sehen es urbanistische Projekte vor, die dem Ziel der CO2-Neutralität nachstreben. Allerdings ist – wenn man ehrlich ist – eine Umsetzung in unseren Breitengraden noch fern: In den bestehenden Städten können sich die Planer dem Neutralitätsziel bloss schrittchenweise annähern; hier eine Optimierung, da eine Beschränkung – so wie sich das dann etwa im Konzept der 2000 Watt Gesellschaft zeigt. Intensiver beginnt man die Klimaneutralität in einigen Retortenstädten umzusetzen. Zum Beispiel in Valencia, Kalifornien, eine knappe Fahrstunde nördlich von Los Angeles: Dort baut eine Entwicklungsgesellschaft eine Community mit 21'000 Wohnhäusern – und ohne CO2-Abdruck. Die Siedlung wird bewegt und beheizt mittels Erdsonden, Solarzellen, starker Isolation oder Ladegeräten für Fahrzeuge aller Art. Ein bekannteres Beispiel ist die Neu-Stadt Masdar in Abu Dhabi, die vollends mit Solaranlagen gespiesen wird, wo Verbrennungsautos verboten sind und die auch durch konsequentes Recycling nahezu abfallfrei werden soll. 47'000 Menschen sollen dereinst in Masdar wohnen, der Baubeginn war 2006. Allerdings leidet das Projekt inzwischen unter herben Verzögerungen. Erst ein Bruchteil steht. 3. Die langsamere Stadt Die verkehrsberuhigte Stadt ist das Modell, das in der Pandemie am meisten Schub entfaltete: Von Bogotá bis Paris begannen die Behörden, neuen Platz zu schaffen für Fussgänger, für Begegnungsorte und den Fahrradverkehr. London wird demnächst den legendären Abgastreff Oxford Circus in eine Piazza verwandeln. Paris macht die Innenstadt – und sogar die Champs-Élysées – weitgehend autofrei. In Utrecht beschloss das Lokalparlament soeben, nach Tempo 30 die nächste Bremsstufe zu zünden: Bald soll in der ganzen Stadt Tempo 15 gelten. Der Vorgang ähnelt sich überall: Der Autoverkehr wird zurückgedrängt (auch durch diverse Behinderungen oder Tempolimiten). Die Fahrradwege werden ausgeweitet. ÖV- und Zweirad-Wege werden enger vernetzt – wobei Busse und Trams für längere Strecken und insbesondere dort, wo Höhenunterschiede überwunden werden müssen, als Rückgrat eines erhofften Velo-Booms dienen sollen. Inzwischen gibt es zahlreiche Rankings, Ratings und Wettbewerbe zur Wahl der fahrradfreundlichsten Stadt auf dem Planeten (zum Beispiel den vielsagenden Copenhagize Index); als Modellstädte gelten etwa Utrecht, Amsterdam, Kopenhagen, Malmö, aber auch Strassburg. Auffällig dabei, wie rar sich die helvetischen Städte machen: Selbst traditionell PS-starke Metropolen wie Barcelona, Minneapolis und Tokio ranken besser. 4. Die integrierte Stadt Ob man von «Verdichtung» redet oder von «Zersiedelung»: Am Ende geht es um die Frage, wie man mehr Leute in die Städte bringt und ihnen dort ein attraktives Leben bietet – um auf der Gegenseite die Landschaft zu schonen. Diese Strategie ist inzwischen kaum bestritten – und hat wiederum zur Folge, dass Arbeitsplätze in die Städte gelangen sollen. Womit – der nächste Schritt – Arbeit, Wohnen, Kultur, Bildung und Freizeit eng beieinander liegen sollen und werden. Die Fachleute streben in ihrer Sprache auch «integrierte Nachbarschaften» oder «integrative Lebenswelten» an. Der Anspruch findet sich – beispielsweise – im sogenannten Siedlungsrichtplan, über den die Stadt Zürich momentan streitet. Dieser sieht vor, dass sowohl die Bevölkerung als auch die Zahl der Arbeitsplätze steigt. Dabei sollen in der Stadt etwa vierzig Quartierzentren angelegt werden, wo alles Lebensnotwendige innert fünf Minuten erreicht werden kann. Man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass vieles davon an historisch gewachsenen Wirklichkeit scheitern wird. Doch die Tendenz ist spürbar. Die Grundidee einer engmaschigen Stadt findet sich auch in reinen Plan-Projekten. Ein Beispiel dafür wäre Sunquiao, eine neue Vorstadt von Schanghai: Dort wird nicht nur Arbeit, Schulen, Wohnen auf einem Quadratkilometer konzentriert, sondern sogar der Anbau von landwirtschaftlichen Produkten für den Markt. 5. Die Smart City Auch so ein beliebter Begriff mit grosser Spannweite. Hinter einer Smart City steht fast immer eine Digitalisierungsidee: Da werden vor allem Geräte vernetzt, was auch Folgen hat für die gesamte Infrastruktur. Auf den Strassen fahren Roboterautos, die Haushaltsgeräte sind schlau aufeinander abgestimmt, der Abfall wird durch unterirdische Röhren ausgemistet, die Mobilität wird je nach Verkehrsaufkommen digital gelenkt, auch die Gesundheitsversorgung beziehungsweise Betreuung geschieht verstärkt aus der digitalen Ferne. Eine feine Nebenwirkung wird schon beim ersten Blick offensichtlich: Wer in so einer Smart City wohnt, liefert massenhaft Daten ab; je nachdem gehört zu dieser Siedlungsart auch eine verstärkte Überwachung zur Bekämpfung der Kriminalität. Und so ist die Smart City, wenn man es realistisch betrachtet, zweierlei: Es ist ein beliebter Begriff des Städte- oder Tech-Konzern-Marketings (man google etwa Begriffe wie «Smart City Winterthur» oder «Siemens Smart City»). Und es ist ein Gesamtkonzept, um das heftige politische Kämpfe ausgefochten werden, falls es irgendwo konkret wird. Das zeigte das Projekt einer Smart City, welche der Tech-Konzern Alphabet am Lake Ontario bei Toronto aufziehen wollte. Die Sache scheiterte. Denn die Kanadier waren smart genug zu erkennen, dass die schöne neue Stadt zwangsläufig voller Kameras sein müsste. Und dass die Theorie nur funktionieren könnte, wenn sie auch sehr beengend würde. 6. Die staatliche Retortenstadt Ob St. Petersburg oder Washington: Könige und Präsidenten errichten gern Plan-Hauptstädte. Auch das 20. Jahrhundert bot viele Beispiele dafür: Brasilia, Islamabad, Canberra, Abuja, Naypyidaw, Chandigarh, Yamoussoukro, die (noch namenlose) neue Hauptstadt Ägyptens … Der Staat stampft eine Siedlung aus dem Boden, weist ihr eine Aufgabe zu (Verwaltung), er gibt ihr eine Form (meist mit grossen, breiten Achsen), und irgendwie funktioniert es dann schon. Manchmal lassen Diktatoren auch eine Retorten-Town errichten, die eine wirtschaftliche Aufgabe hat: Eisenhüttenstadt, Nowa Huta, Wolfsburg (von den Nazis gegründet als «Stadt des KdF-Wagens»). Werbefilm für die King Abdullah Economic City in Saudi-Arabien: Und da es auch im 21. Jahrhundert nicht fehlt an autoritären Regimes, wird die Menschheit auch in der nahen Zukunft solche künstlichen Staats- und Wirtschaftszentren errichten, der dann ideenreich genaue Aufgaben zugewiesen werden: Nanhui bei Schanghai ist eine Neo-Stadt zur Erschliessung des Hafens. Yujiapu nahe der nordostchinesischen Hafenstadt Tianjin wird errichtet als neues Finanzzentrum (und entsprechend architektonisch als neues Manhattan gebaut). Die King Abdullah Economic City soll das neue Hafen- und Dienstleistungszentrum Saudi-Arabiens werden. Eines der – eher seltenen – Beispiele einer grossen Kunststadt auf demokratischem Boden ist Songdo in Südkorea. Die Modellstadt wird die Metropole Seoul entlasten und als konzentriertes Finanz- und Technologiezentrum zwischen der Hauptstadt, dem Airport und der Hafen- und Industriemetropole Incheon dienen.

Sechs konkrete Trends für die Stadt der Zukunft

Stadt der Zukunft? Städte der Zukunft!