Jeffrey Sachs legt sofort los: «Ich bin auf der Seite des Friedens. Ich bin sehr besorgt darüber, dass wir uns auf einem Weg der Eskalation bis hin zum Atomkrieg befinden», sagt der renommierte US-Ökonom und frühere Harvard-Dozent in einem Interview mit «Bloomberg», befragt zum Krieg Russlands gegen die Ukraine.
Als das Moderatorenduo den UN-Sonderberater dann auf seine Einschätzung zu den wirtschaftlichen Implikationen des Kriegs für Europa anspricht, legt Sachs noch eine Schippe obendrauf: Er sei überzeugt, dass die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines eine Aktion der USA gewesen sei. «Vielleicht von den USA und Polen», ergänzt er noch, bevor ihn die Moderatoren abrupt unterbrechen und von Sachs Gründe für seinen Vorwurf fordern.
Der Ökonom bringt als Beleg eine vom russischen Thinkthank Vatfor gestreute Theorie vor: Es gebe, so Sachs, «direkte Radarbilder», die beweisen würden, «dass US-Helikopter, Militärhelikopter, die normalerweise im polnischen Danzig stationiert sind, über diesem Gebiet zirkuliert haben».
Recherchen widerlegen den Vorwurf
Der Starökonom ist da wohl einer Verschwörungstheorie aufgesessen. Denn unabhängige Recherchen der «Deutschen Welle» haben den Vorwurf mittlerweile widerlegt. Demnach verlief der beanstandete Helikopterflug FFAB123 nicht direkt über die Gaslecks auf schwedischem und dänischem Hoheitsgebiet.
Insgesamt vier Lecks in den Gazprom-Gasleitungen
An den russischen Nord-Stream-Pipelines waren Anfang letzter Woche innerhalb kurzer Zeit in dänischen und schwedischen Gewässern zunächst drei Lecks entdeckt worden. Einige Tage später meldete die Küstenwache Schwedens ein viertes Loch. Aus diesen Lecks trat Gas an die Meeresoberfläche, wodurch es zu einem starken Druckabfall in den Leitungen kam. Gemäss Gazprom strömt mittlerweile kein Gas mehr aus den Lecks.
Als Ursache vermuten westliche Sicherheitsexpertinnen und -experten eher einen Gewaltakt als ein technisches Problem. Von Sabotage spricht auch die EU: «Diese Vorfälle sind kein Zufall und betreffen uns alle. Alle verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass diese Lecks das Ergebnis einer vorsätzlichen Handlung sind», sagte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell im Namen der 27 EU-Mitgliedstaaten. Viele Expertinnen und Experten weisen – mal indirekt, mal deutlich – Russland die Schuld zu.
Für neuen Zündstoff sorgte ein Tweet von Gazprom. In diesem teilt der staatliche Energiekonzern Russlands mit, dass es aus technischer Sicht möglich sei, nach den Reparaturen Gas durch Nord Stream 2 zu leiten. Das Problem dabei: Die Pipelines von Nord Stream 2 waren noch gar nie in Betrieb.
Das Statement wird auf Social Media deshalb als Druckmittel gegenüber Deutschland ausgelegt, um das eigentlich beerdigte Projekt wieder aufzunehmen. Denn Gazprom äusserte sich nicht dazu, was mit den Strängen von Nord Stream 1 passiert. Andere User deuteten die Stellungnahme gar als indirektes Eingeständnis Russland, für Lecks an den Leitungen verantwortlich zu sein.
Die Debatte dazu – hauptsächlich in den sozialen Medien geführt – hatte Polens ehemaliger Verteidigungs- und Aussenminister Radosław Sikorski angeheizt. In einem inzwischen wieder gelöschten Twitter-Post hatte dieser zu einem Foto von einem der Gaslecks geschrieben: «Danke, USA.» Die Anwesenheit amerikanischer Marineeinheiten in der Ostsee vor den Vorfällen legten Europas rechte Parteien – etwa AfD-Politiker und -Politikerinnen – als Beweis für die Beteiligung der USA am Sabotageakt aus.
Dabei ist die Ursache für die total vier Lecks in den Nord-Stream-Leitungen noch nicht definitiv geklärt – und damit auch noch nicht, wer für die möglichen Attacken verantwortlich sein könnte. Schweden und Dänemark streiten sich mit Russland um die Vorgehensweise bei den Ermittlungen zu den Vorfällen.
«Bemerkenswerte Erklärung» des US-Aussenministers
Ungeachtet dessen ist Sachs von seiner Einschätzung überzeugt. Die USA habe schon früher in diesem Jahr damit gedroht, Nord Stream «auf die eine oder andere Weise» zu beenden, betont er im Interview. Dazu passe die «bemerkenswerte Erklärung» von US-Aussenminister Antony Blinken: «Das ist auch eine enorme Chance», sagte dieser an einer Pressekonferenz letzten Freitag.
Deshalb folgert Sachs: «Das ist eine seltsame Aussage, wenn man sich über Angriffe auf internationale Infrastruktur von grösster Bedeutung Sorgen macht.»
Damit stellt der Ökonom die Aussage Blinkens in einen falschen Kontext: Der US-Aussenminister nannte die aktuelle Energiesituation in Europa und ein mögliches Umstellen auf erneuerbare Energien eine «enorme Chance». Er bezog sich also nicht auf eine mögliche Sabotage. Unbeirrt hält Sachs im Interview an seiner Sicht fest. «Wenn ich mit Menschen überall auf der Welt spreche, glauben alle, dass es die USA waren.»
1 Kommentar
Verschwörungstheorie ist das wohl billigste Argument