Was Schweizer Winzer vom Nachbarn lernen können

September ist Erntezeit. Die Weinlese läuft auf Hochtouren, hier in Jenins im Kanton Graubünden. Auf dem Weingut Obrecht schneiden Erntehelfer die reifen Trauben ab. Die üppige Sommersonne dieses Jahr sollte die erhoffte Süsse in die Beeren bringen. Ein Erntehelfer prüft das: Er schaut durch das Refraktometer, um den Oechsle-Wert zu kontrollieren: «100 Grad sind zu viel, das gibt dem Wein eine rumtopfartige Aromatik. 95 Grad sind besser – das ergibt leichtere Weine.» Punktlandung, der Zucker stimmt, es sind 95. Das Winzerpaar Francisca und Christian Obrecht ist zufrieden mit dem Potenzial für das Erntejahr 2022. Francisca Obrecht knipst eine Traube von der Rebe, zerquetscht sie zwischen Daumen und Zeigefinger, braune Kerne quillen hervor: «Das ist das Qualitätsmerkmal für einen guten physiologischen Reifegrad», sagt sie. Wären die Kerne grün, gäbe das einen pelzigen Geschmack in der Flasche. So eine aussichtsreiche Ernte wie dieses Mal gibt es nur etwa alle sieben Jahre. Die Obrechts bauen von Rot bis Weiss an; Pinot noir, Chardonnay, Riesling-Silvaner und Completer. Sie hofft auch diesmal, dass ihr Bio- und Demeter-zertifizierter Wein den Geschmacksnerv der Konsumenten und Konsumentinnen trifft. Beliebtes Ausland Ob Rotwein, Bio, Weisswein oder Demeter: Schweizerinnen und Schweizer geniessen gerne mal ein Gläschen – oder lieber zwei. Mit 31,5 Liter Weinkonsum pro Person pro Jahr gehören die Eidgenossen weltweit zu den fleissigeren Trinkern. Angesichts der gestiegenen Qualität des Schweizer Weins, der Jahr um Jahr Medaillen abräumt, mag das nicht überraschen. Allerdings köpfen Weintrinker und -trinkerinnen hierzulande immer noch öfter einen Chianti, Bordeaux oder Rioja als einen Merlot aus dem Wallis. In der Masse stimmt es wohl: Statt sich auf den lokalen Wein zu stürzen, wird in der Schweiz noch mehr Rebsaft aus dem Ausland konsumiert. Weil er vielen besser schmeckt – oder von inländischem Qualitätswein nicht genug vorhanden ist. In einem erntereichen Jahr werden mehr als eine Million Hektoliter produziert. In schlechten Jahren ist es nur rund die Hälfte. Gemäss dem Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) beträgt der Anteil inländischer Weine am Gesamtkonsum 35 Prozent. Das heisst im Umkehrschluss, dass 65 Prozent aller in der Schweiz konsumierten Weine aus dem Ausland stammen. Für den Geschäftsleiter von Swiss Wine, Nicolas Joss, ist das Verhältnis unschön: «Wir leiden unter der starken Konkurrenz unserer europäischen Kollegen.» Österreich hats marketingtechnisch geschafft Zum Beispiel unter Österreich, mit vergleichbar vielen Einwohnerinnen und Einwohnern; rund 8 Millionen Menschen. Innerhalb des Nachbarlandes wird nämlich doppelt so viel österreichischer Wein getrunken als hierzulande Schweizer Wein. Und nicht nur innerhalb, auch ausserhalb Österreichs sind Grüner Veltliner, Morillon und Zweigelt beliebt und bekannter als Cornalin, Petite Arvine oder Chasselas. Die Weine mit dem Rot-Weiss-Rot-Sticker auf dem Flaschenhals werden in die USA, nach Australien und bis nach Südafrika verkauft – EU-weit und in der Spitzengastronomie sowieso. Die Österreicher waren offenbar vorausschauend: «Sie haben den Fokus früh auf den Weinexport gelegt», sagt Weinexperte Philipp Schwander, «die Schweizer hingegen haben diese Chance bis jetzt nicht im Geringsten wahrgenommen.» Dabei lag Österreichs Weinproduktion 1985 total am Boden. «Damals, beim Glykolwein-Skandal, ging es für unsere Nachbarn ums Überleben. Nur hohe Qualität bot einen Ausweg», sagt Schwander. Einige Winzer hatten ihre Weine mit extra Zucker und Frostschutzmittel gestreckt. Das Gepansche wurde zum Desaster für die lokale Weinindustrie. In der Folge verpasste sich das Land eines der strengsten Weingesetze weltweit und steigerte sowohl Qualität als auch Vielfalt des Angebots in erstaunlich kurzer Zeit. Die Schweizer bezahlen ihre Ausgaben bis jetzt selbst All das mit einem ausgeklügelten Marketing und viel Fördergeld: Das Burgenland zum Beispiel erhält seit Jahrzehnten Millionen-Subventionen – damals in Schilling, heute in Euro: für die Rotweinverarbeitung, Klärungs- und Abfüllanlagen, Weinpressen, Lagertanks und Hoffeste für die Mundpropaganda. In der Schweiz müssen die Winzer weitgehend alles selber zahlen. Zum Beispiel für den Stand an einer der wichtigsten Weinmessen Europas, der Pro Wein in Düsseldorf. Dort zahlt der Winzer aus Portugal einen symbolischen Beitrag für die Teilnahme. Flug, Messestand, Werbung und Weintransfer organisiert der portugiesische Staat. Der Schweizer Winzer hingegen zahlt voll, staatliche Hilfen gibt es kaum. Für Obrecht ist das auch in Ordnung: «Wenn man es schafft, ein ausreichend spannendes Produkt herzustellen, dann kann man es auch verkaufen.» Wobei die Qualität sowohl von den persönlichen Vorlieben der Konsumenten als auch von objektiven Geschmackskriterien sowie einer anspruchsvollen Produktion bestimmt wird. Boutique-Winzer wie die Obrechts verkaufen ihren Wein gut. Innovative Winzer überzeugen Zwischen 1,4 und 2 Millionen Franken pro Jahr setzen sie um, je nach Ernteertrag. Über ein schlechtes Geschäft können sie sich mit ihren 7,5 Hektaren Anbaufläche (entspricht zehn Fussballfeldern) und total 14 Hektaren vinifizierter Fläche nicht beklagen. Allein schon deshalb brauchen sie keine Expansion ins Ausland. Andere Winzer haben es schwerer, ihren Wein erfolgreich zu vermarkten. Sie würden sich darüber freuen, ihren Bekanntheitsgrad über die Landesgrenzen hinweg zu steigern. Was können die Eidgenossen also vom Nachbarn lernen? Wir fragen beim burgenländischen Starwinzer Leo Hillinger nach. «Es braucht die richtigen Leute, die die Marke im Ausland bestmöglich vertreten», sagt er. Und Geld: Rund 9 Millionen Euro setzt Österreich Wein Marketing im In- und Ausland für Wein-Ambassadoren ein. Das fänden auch die Schweizer gut. Vergangenen Juni stimmte der Nationalrat einer Motion zu, die eine Aufstockung des Weinförderbudgets auf 9 Millionen Franken forderte. Allzu beliebt war der Vorschlag nicht: 98 zu 61 Stimmen – bei 22 Enthaltungen. «Jetzt liegt das Geschäft beim Ständerat», sagt Schwander. Mit dem Geld sollten innovative Lösungen gesucht und Winzerinnen statt Protektionismus gefördert werden. Kontingentierungen, also Einfuhrbeschränkungen für die ausländische Konkurrenz und eine massive Behinderung des Wettbewerbs, «das darf nicht wieder passieren!». Billig-Wein im Massen Schwander erinnert sich an die Bilder vor den nuller Jahren, als die Weinbauern mit grossen Ernten von tiefer Qualität ganze Schwimmbäder füllten und den Markt mit ihrem Wein überschwemmten. Schwander warnt: «Es gibt in der Romandie noch immer Winzer, die sich einbilden, dass man die Schweizer dazu zwingen soll, ihre Weine zu trinken – und dabei Innovation und Qualität vernachlässigen.» Dabei hat die Schweiz einen sensationellen Ruf bei so manchen Exportgütern wie Uhren, Pharma, Schoggi oder Präzisionsmaschinen. «Viele wissen aber noch nicht, dass es in der Schweiz auch vorzügliche Weine gibt», sagt Schwander. «Es wäre ideal, wenn Schweizer Weine immer mehr auf den Weinkarten renommierter Restaurants und Hotels im Ausland zu finden wären.» Das würde das Image massiv erhöhen und den Export ankurbeln. Bis es aber so weit ist, muss die Schweiz innovieren. Eine interessante Entwicklung ist jene der pilzresistenten Sorten, Piwi genannt. Die Schweiz zählt hier zu den innovativsten Ländern: Cabernet blanc, Sauvignac, Cabernet Jura und viele andere. Es sind Kreuzungen verschiedener Trauben, die resistenter gegen Fäulnis sein sollen – ohne Abstriche im Geschmack. So ist der Cabernet blanc resistenter gegen den Echten und Falschen Mehltau sowie die im Wachstum ungewollte Graufäule. Aber: Bis jetzt konnte noch kein Piwi überzeugen. «Einen richtig begeisternden Piwi habe ich bis jetzt noch nicht verkostet», zieht Schwander die nüchterne Bilanz. Kommt hinzu, dass manche dieser Sorten nach einer gewissen Zeit wieder fäulnisanfällig werden. «Es scheint so, dass Sorten, die einen ausgezeichneten Wein ergeben, leider fäulnisanfällig sind.» Bleiben die kommenden Sommer aber derart warm und trocken, dann verlieren Piwi-Sorten sowieso an Relevanz. Durch steigende Temperaturen verringert sich das Risiko von Graufäule oder Falschem Mehltau – bis anhin anfällige Trauben wie beispielsweise Pinot noir bleiben dank der Trockenheit gesünder. Gleichzeitig erobern Heissblüter-Sorten aus warmen Anbaugebieten wie Malbec, Merlot oder Cabernet Sauvignon die nördlichen Schweizer Regionen. Statt also einen Bordeaux-Blend aus Frankreich zu trinken oder einen Cabernet Sauvignon aus dem Bolgheri, könnten bald vermehrt Schweizer Trauben die hiesigen Weingläser füllen.