Polizist Xiao muss sich seit März vor dem Mittleren Volksgericht in Changsha wegen schwerer Bestechlichkeit verantworten. Sein vollständiger Namen darf nicht genannt werden, solange sein Urteil noch aussteht.

Er machte als Verantwortlicher für Verkehrsdelikte in der Provinzhauptstadt von Hunan gemeinsame Sache mit seinem Freund Zhong, dem Besitzer einer Autowerkstatt. Dessen Kunden wussten, dass er helfen konnte, wenn sie gegen die Verkehrsordnung verstossen hatten.

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Zhong wandte sich dann an Xiao. Der löschte Bussgelder und vor allem die den Führerschein gefährdenden Strafpunkte aus dem staatlichen Computer. Zwischen März 2011 bis November 2017 liess er laut Lokalpresse mehr als 400'000 Knöllchen verschwinden.

Dafür kassierte er von Zhong und weiteren Beteiligten 42,4 Millionen Yuan (rund 5,6 Millionen Euro). Ihre Zusammenarbeit fiel lange nicht auf, weil sie über gemeinsame Kreditkarten abrechneten.

Ein Warnsignal

Für den Pekinger Journalisten Zhang Yuzhe ist der Fall ein Warnsignal, wie leicht sich Punktesysteme manipulieren lassen. Pekings Staatsrat will ab 2020 ein flächendeckendes, gesellschaftliches Bonitätssystem zur Beurteilung aller Bürger mit Sozialkreditpunkten einführen lassen.

In seiner Titelgeschichte «Was ist Kreditwürdigkeit?», die er für Pekings finanzpolitisches Enthüllungsmagazin «Caixin» schrieb, ist der korrupte Polizist eines der Beispiele, wie fragwürdig das neue Überwachungssystem ist. Denn wer kontrolliert die Kontrolleure?

together known as 'Lianghui' or 'Two Meetings'. EPA/HOW HWEE YOUNG

Chinesische Bürger: Der Staat überwacht die Bevölkerung immer stärker.

Quelle: Keystone

Derzeit noch Stückwerk

Peking will über Lob- und Strafdaten die Sozialkreditpunkte für jeden Einzelnen bestimmen. Pilotprojekte laufen dazu in mehr als 40 chinesischen Kreisen und 20 Städten, die die finanzielle und gesellschaftliche Kreditwürdigkeit von Privatpersonen oder Unternehmen bewerten.

Das Ganze ist noch Stückwerk, viele Kriterien sind geheim. Positive Punkte gibt es etwa für den verantwortungsvollen Umgang mit Investitionen und Schulden, aber eben auch für soziales Verhalten bis in die Privatsphäre hinein. Negativ zählen etwa das Überfahren einer roten Ampel bis hin zu unmoralischem Benehmen oder häuslicher Gewalt.

Grosser Datenmix für Bewertung der Kreditwürdigkeit

Ausgedacht hat sich das bis zur Absurdität ausgefeilte Lob- und Strafsystem die staatliche Entwicklungs- und Reformkommission NDRC (Chinas frühere Staatsplaner). Deren Motto, schreibt Zhang, lautet: «Wer an einer Stelle Vertrauen gewinnt, dem wird es überall entgegengebracht. Wer es an einer Stelle verspielt, muss überall mit Einschränkungen rechnen.»

Finanzfachleute würden kritisieren, schreibt Zhang, dass Peking nützliche Informationen zur finanziellen Kreditwürdigkeit mit politischen, moralischen und sozialen Bewertungen in einen Topf wirft. Er zitiert Wang Lu, einen früheren Mitarbeiter der Kreditabteilung der Zentralbank: Die Vorstellung, mit einem Kreditbewertungssystem zugleich auch soziale Probleme kitten zu können, sei «unrealistisch und sogar schädlich».

In Suzhou, einer der 20 Städte Chinas, in denen ein Pilotprojekt zum Aufbau des Bonitätssystems läuft, fängt jeder Bürger mit einem Grundkonto von jeweils 100 Punkten an. Mehr als 20 Behörden von der Polizei bis zur Geburtenkontrolle liefern die Punktebewertungen an das Zentrum. Das Gesundheitsamt notiert etwa sechs Pluspunkte für einen freiwilligen Spender von 200 Milliliter Blut.

Das Pilotprojekt umfasst 13 Millionen Personen, über die bisher 300 Millionen Daten erhoben wurden. Die Punktebilanz greift in das Alltagsleben jedes Bürgers ein. Sie entscheidet, ob er niedrig verzinste Bankkredite erhalten kann oder offeriert ihm soziale Vor- und Nachteile. Das beginnt beim kostenlosen Parkbesuch und wirkt sich bei mangelhaftem Punktestand auf seine Beförderung im städtischen Amt aus.

Bonitätssystem mit mehreren Betreibern

Neben dem NDRC ist auch Chinas Zentralbank (PBC) einer der Betreiber des Bonitätssystem. Ihr 2004 aufgebautes «Kredit-Referenzzentrum» sammelte und speicherte bis August 2018 mehr als 3,3 Milliarden Daten von Hunderten Millionen privater Kreditnehmer und von 25,4 Millionen Unternehmensgründungen.

In einer Neufassung ihres Bewertungssystems, die im Mai in Kraft treten wird, aktualisierte die Nationalbank ihren bisher nur fachlich geprägten Punkte-Katalog. Künftig soll er auch die Kreditwürdigkeit von Ehepartnern erfassen, um beim Hauskauf, wo nur einer Vorzugskonditionen erhalten kann, ein Schummeln durch vorgetäuschte Ehescheidung zu verhindern.

Die Forderungen der Zentralbank nach immer mehr persönlichen und familiären Daten hat eine erhitzte Debatte nach dem Warum ausgelöst. Die Zeitung «Global Times» zitierte Stimmen aus der Diskussion: «Sozialkredite werden zum zweiten Personalausweis für Chinesen, zu ihrem unsichtbaren Lebenslauf.»

Pekings Bewertungssystem sei ein von China erfundenes Experiment, «das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt», zitiert «Caixin» den Mitarbeiter der Internationalen Finanzgesellschaft (UFC) der Weltbank, Lai Jinchang.

Chinese President Xi Jinping is seen on a big screen as his Premier Li Keqiang delivers the work report at the opening session of the annual National People's Congress at the Great Hall of the People in Beijing, Tuesday, March 5, 2019. China's government announced a robust annual economic growth target and a 7.5 percent rise in military spending Tuesday at a legislative session overshadowed by a tariff war with Washington. (AP Photo/Andy Wong)

Präsident Xi Jinping spricht per Videoeinschaltung zum Volkskongress: Der Staatschef hat seine Macht stark ausgebaut.

Quelle: Copyright 2018 The Associated Press. All rights reserved

Anwälte fragen nach rechtlichen Grundlagen

«Kreditvergaben von Informationen abhängig zu machen, die nichts mit Finanzierungsfragen zu tun haben, ist nicht fair», sagen chinesische Kritiker. Anwälte fragen nach den «rechtlichen Grundlagen» der staatlichen Bewertungssysteme. Behörden dürften nicht die «grundlegenden Rechte der Bürger verletzen».

«Caixin» stösst damit mutig eine Debatte an, die Peking bisher tabuisieren liess und die auch nach dem Missbrauch privater Daten fragt. Wer entscheidet, welche Daten gespeichert werden? Anwalt Liu Chunquan von der Kanzlei Shanghai Duan&Duan sagt: Bewertungen über soziale Kreditpunkte sollten «die individuelle Fähigkeit einer Person widerspiegeln, einen aufgenommenen Kredit zurückzahlen zu können, aber nicht seinen Charakter».

Bisher wurde nur im Ausland der alles umfassende Kontroll- und Überwachungswahn Pekings kritisiert. Den einen gruselte es, dass Sozialkreditpunkte zu Bausteinen für einen totalitären Überwachungsstaat orwellschen Ausmasses werden, den Peking mit Hilfe der künstlichen Intelligenz erbauen lässt. Andere sehen in der erweiterten Definition von finanzieller, sozialer und moralischer Kreditwürdigkeit die versuchte Wiedereinführung konfuzianischer Wertesysteme in die Gesellschaft.

Chinesische Verfechter argumentieren dagegen, wie wichtig es ist, Vertrauen und Ehrlichkeit in ihrem Land wiederherzustellen. Sie führen den Niedergang solcher Werte auf die Übernahme marktwirtschaftlicher Praktiken zurück, ohne über ein effizientes Rechtssystem zu verfügen. «Kreditwürdigkeit entscheidet über Leben oder Tod» heisst ein soeben im Staatsverlag Xinhua erschienenes, vom Propagandaministerium gefördertes Buch. Autorin Liu Yuying zählt besonders groteske Fälle auf.

Ganze Behörde frei erfunden

In China würden sogar Behörden gefälscht. Als Beispiel nennt er den Hochstapler Zhang Ningquan, der sich im ungenutzten fünften Stock im Gebäude des alten Pekinger Justizministeriums ein Büro anmietete. Er quartierte sich 2004 dort als angeblicher neuer Amtsleiter und Parteisekretär des «Tianping-Verwaltungsbüros für Untersuchungen» ein.

Mit gefälschten Ausweisen, Ernennungsurkunden, Stempeln bis zu täuschend ähnlichen Polizeiuniformen für seine 30 Angestellten gründete er eine eigene Justiz-Unterbehörde und fiel vier Jahre niemandem auf.

Zhang kassierte Millionen Yuan für falsche Genehmigungen und Bescheide. Zufällig entlarvten ihn Blogger online. 2011 verurteilte ihn das Mittlere Pekinger Volksgericht zu lebenslanger Haft. Autorin Liu hütet sich aber, aus solchen Fällen Forderungen nach unabhängigen Gerichten oder Kontrolle durch unabhängige Medien abzuleiten.

Die von «Caixin» nun angestossene innerchinesische Debatte zum Bonitätssystem ist dennoch ein Fortschritt. Denn sie ruft auch nach dem Schutz der gespeicherten persönlichen Daten und dem Schutz der Privatsphäre.

Haben lokale Regierungen die finanziellen und technischen Mittel, ihre Datensammlungen zu schützen? Jedes Daten-Leck würde hohe wirtschaftliche Verluste verursachen und zum Ansehensverlust führen. China brauche neue Gesetze, welche Daten unter welchen Voraussetzungen gesammelt und gespeichert werden dürfen.

Peking bracht noch Zeit

Autor Zhang hat vom jüngst tagenden Volkskongress erfahren, dass das sozialistische Parlament die fehlende Gesetzgebung auf Phase 3 seiner Agenda gesetzt hat. Mit anderen Worten, Peking braucht noch lange Zeit für die Vereinheitlichung seines Bonitätssystems und den Aufbau seines digitalen Überwachungsstaats, weit über das geplante Jahr 2020 hinaus.

In einer Neufassung ihres Bewertungssystems, die im Mai in Kraft treten wird, aktualisierte die Nationalbank ihren bisher nur fachlich geprägten Punkte-Katalog. Künftig soll er auch die Kreditwürdigkeit von Ehepartnern erfassen, um beim Hauskauf, wo nur einer Vorzugskonditionen erhalten kann, ein Schummeln durch vorgetäuschte Ehescheidung zu verhindern.

Dieser Artikel ist unter dem Titel «So absurd ausgefeilt ist Chinas Überwachungssystem» zuerst in der «Welt» erschienen.