Die Mär von der grünen Schweiz

Die Schweiz gilt, geht es um Nachhaltigkeit, oft als Musterland. Tatsächlich aber ist ausgerechnet der Anteil neuer erneuerbarer Energien wie Solar und Wind im Schweizer Strommix gering. Sogar deutlich kleiner als etwa in Deutschland: Stolze 48,5 Prozent betrug dort der Stromanteil aus neuen Erneuerbaren im ersten Halbjahr 2022 – das sind sogar satte 5 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In der Schweiz ist der Wert vergleichsweise verschwindend gering. Nur knapp 6,7 Prozent des Stroms (Schweizer Produktionsmix 2020) hat hierzulande dieses Ökolabel. Das liegt zum einen an der Art und Weise, wie die grüne Energie kategorisiert wird. Wasserkraft wird – ausser als Kleinwasserkraft – bei den neuen Erneuerbaren nicht mitgezählt, weil sich die Gewinnung massiv auf die Umwelt auswirkt: Flusskraftwerke verkleinern die Durchgängigkeit der Flüsse. Wassertiere werden auf ihren Wanderungen behindert. Sand und Kies, wichtig für den Flussgrund, können nicht weitergespült werden. Die Schweiz aber ist quasi blau. Tausend Wasserkraftwerke gibt es hierzulande, insgesamt werden 58,1 Prozent des Stroms in der Schweiz aus Wasserkraft produziert. Das Bundesamt für Energie (BFE) betont auf Anfrage der «Handelszeitung», dass strenge Vorschriften zum Schutz der Landschaft und der Natur und Umwelt gelten. Und das Potenzial ist entgegen früherer Annahmen noch nicht ausgeschöpft, sondern steigt etwa wegen der schmelzenden Gletscher sogar noch. Doch das kompensiert die Nachlässigkeit bei Wind und Solar, den «echten» erneuerbaren Energien, nicht. Unter den reichen Ländern ist die Schweiz eines der langsamsten im Ausbau der zukunftsträchtigsten Kraftwerkstypen. Während der Stromverbrauch in den vergangenen Jahren kontinuierlich stieg, blieb die Schweiz abhängig von Nuklearkraft. Dabei hätte es anders gehen können. Ausbaugeschwindigkeit müsste um bis zu Faktor 4 steigen «Die Schweiz war sehr langsam darin, sich an die veränderten Umstände anzupassen», sagt der ETH-Professor Anthony Patt. «Die Ausbaugeschwindigkeit für Wind und Solar müssten wir verdrei- oder vervierfachen, damit wir 2050 wie geplant 60 bis 70 Prozent des Stroms aus Solar- oder Windenergie generieren», schätzt er. Doch die Politik hat die rechtzeitige Energiewende verpasst: der rechtliche Rahmen zu eng, die Fördertöpfe zu klein und unübersichtlich. In der Folge fehlen jetzt – da sich Wind- und Solarkraft einerseits wirtschaftlich lohnen, das Thema aber angesichts der Inflation und der Klimakrise andererseits auch brennt – nicht nur bestehende Kraftwerkskapazitäten, sondern auch das Material und das Personal, um neue Kapazitäten aufzubauen. Eine Photovoltaikanlage auf dem eigenen Hausdach etwa: angesichts der Energiekrise ein aktuell stark nachgefragtes und lukratives Investment. «Auch Axpo hat schlicht nicht genügend Personal, um alle Aufträge abzuarbeiten», sagt Jeanette Schranz, Sprecherin des Stromkonzerns. Wer sein Hausdach mit Solarpanels bestücken lassen wolle, brauche Geduld: Die Wartezeit betrage zurzeit mehrere Monate. Um das Problem zu beheben, soll bald eine Berufslehre als «Solarteur/-in» angeboten werden. Die ersten Lernenden könnten 2024 starten. Während die Branche reagiert, kommt die Politik erst schleppend vorwärts. Zwar haben sich die Rahmenbedingungen in Form von Fördertöpfen und Regularien verbessert, doch noch nicht mal genug, um mit dem europäischen Mainstream mitzuhalten. Schweizer Energieversorger investieren daher schon lange fast nur im Ausland. Und zwar nicht nur in Windparks, weil es etwa in Schweden oder Deutschland schlicht mehr windet. «Solargrossanlagen, wie Axpo sie im Ausland längst realisiert, haben mit der aktuellen Bewilligungspraxis einen unmöglichen Stand. Deren Bau ist heute in der Schweiz de facto verboten, wenn sie nicht in oder unmittelbar neben einer Bauzone zu stehen kommen», sagt Axpo-Sprecherin Jeanette Schranz. Die Schweiz gefährdet eigene Versorgungssicherheit Dabei wäre der Ausbau der Erneuerbaren auch hierzulande bestens möglich. Eine kürzlich publizierte Potenzialstudie des Bundes zeigt, dass selbst das Windkraftpotenzial in der Schweiz grösser ist als lange angenommen und konservativ gerechnet bei 9 Terawattstunden pro Jahr liegt. Das grösste Potenzial hätten Photovoltaikanlagen. Mehr als 100 Terawattstunden könnten drinliegen, wenn Gebäude, Freiflächen und Autobahnen richtig genutzt werden. Nur langsam macht die Regierung vorwärts. Nach bereits kleineren Veränderungen bei Fassaden, Staumauern und Lärmschutzwänden zum 1. Juli dieses Jahres hat die Ständeratskommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (Urek-S) grössere Verbesserungen vorgeschlagen. Ob und wann diese kommen, ist jedoch unklar. Entsprechend langsam geht der Ausbau weiterhin voran. «Wir haben im europäischen Vergleich sehr viel Aufholbedarf. Insbesondere wenn man bedenkt, dass der Bedarf für nachhaltigen Strom durch die Elektromobilität weiter steigt», sagt auch der Berner Nationalrat Jürg Grossen (GLP), Unternehmer und Präsident des Branchenverbands Swissolar. Er sorgt sich angesichts der instabilen Beziehung zur EU und des fehlenden Stromabkommens. Mache die Schweiz nicht vorwärts, wäre die Versorgungssicherheit bei europäischen Engpässen auch weiterhin nicht verlässlich gegeben.