Die sieben wichtigsten Gründe für den Pessimimus in Davos

Das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos ist an Auffahrt zu Ende gegangen. Noch selten war die Stimmung unter der dort versammelten Weltelite so pessimistisch wie dieses Mal. Das Motto der Veranstaltung lautete in diesem Jahr «Geschichte am Wendepunkt». Gemessen an den Debatten in Davos ist es aber kein Wendepunkt zum Besseren. Vielmehr einer, der in eine gefährliche Richtung weist. Die folgenden acht Punkte geben die wichtigsten Gründe für diese Einschätzung wieder. Hoffnung macht nur ein Umstand: Auf Einschätzungen der Elite in Davos zu setzen, hat sich bisher selten bewährt. Meist kam es anders – allerdings auch nicht unbedingt besser, was sich etwa daran zeigt, dass vor zwei Jahren kurz vor der Covid-Pandemie dieses Virus am WEF nur ein Randthema war. Damit zu den Gründen für den aktuellen Pessimismus: 1. Das Kriegsdrama in der Ukraine Kein anderes Thema hatte in Davos eine so grosse Bedeutung wie die Invasion von Russland in die Ukraine. Das schlug sich auch im offiziellen Programm nieder. Die Eröffnungsrede hielt der aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew zugeschaltete Präsident des Landes, Wolodimir Selenski. Nachdem in diesen Reden bisher Aufrufe zur Lösung von Konflikten dominiert haben, rief Selenski die Anwesenden jetzt dazu auf, alles zu tun, um die Ukraine militärisch zu unterstützen, um Russland vernichtend zu schlagen – auch wirtschaftlich. Die gleiche Botschaft war in Davos auf Schritt und Tritt zu hören, nicht nur an vielen Veranstaltungen, auch von vielen Ukrainerinnen und Ukrainern, wobei hier vor allem die Frauen dominiert haben. Wo immer möglich, haben sie auf die Lage in ihrem Land hingewiesen und die Bedeutung einer raschen Unterstützung betont. Das taten sie erfolgreich. Die Gräuel dieses Krieges haben die in Davos anwesenden Eliten sichtlich emotional berührt und geschockt. Das dürfte wesentlich zum allgemeinen Pessimismus beigetragen haben. Den Pessimismus befeuert hat auch der Umstand, dass sich bisher kein Ende und keine tragbare Lösung in diesem Krieg abzeichnet. Die dominierende Strategie, so scheint es, zielt einzig auf einen vollkommenen militärischen Sieg über die Russen ab und auf deren radikale ökonomische Schwächung. Aber auch die schlimmste Variante der weiteren Entwicklung wollte in Davos niemand ausschliessen: einen mit Atomwaffen ausgetragenen Dritten Weltkrieg. Und dann sind da die vielen geopolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die der Krieg und das Verhalten der Russen weiter zur Folge haben: 2. Das Ende der Globalisierung, wie wir sie kannten Schon vor der russischen Invasion in die Ukraine haben im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung nach der Corona-Krise schwere Probleme in den internationalen Wertschöpfungsketten die Weltwirtschaft belastet und für steigende Preise gesorgt. Diese Probleme halten an und wurden durch den Krieg in der Ukraine und durch die Corona-bedingten Lockdowns in China noch verschärft. Das damit damit gewachsene Bewusstsein für die globalen Abhängigkeiten führt überall zur Frage, wie viel Sinn eine globale Ausrichtung der Wertschöpfungsprozesse noch macht, wenn damit zwar Kosten eingespart werden können, bei internationalen Krisen aber wesentliche Produktionsprozesse gefährdet sind. Eine solche Krise war die Covid-Pandemie – und noch früher war es der Handelsstreit zwischen China und den USA, der auch mit Joe Biden nie endete. Neu dazugekommen ist jetzt noch der Krieg in der Ukraine. Die geopolitischen Risiken und die Aufspaltung in feindliche Blöcke führen dazu, dass viele Länder immer weniger an globalen Lösungen und Vereinbarungen für Bereiche interessiert sind, die alle betreffen – man spricht von «globalen öffentlichen Gütern». Das betrifft zum Beispiel die Bewältigung des Klimawandels, von Pandemien, der Rüstungskontrolle, der Finanzstabilität, und es betrifft eben auch die Organisation und rechtliche Absicherung des globalen Handels. 3. Die Kosten der Fragmentierung Bei allen Problemen, zu der die Hyperglobalisierung der letzten Jahrzehnte geführt hat: Sie hat auch für tiefere Preise gesorgt. Einerseits, weil die Produktionsprozesse von massiven Skaleneffekten profitieren konnten (die Kosten verteilten sich auf sehr viel mehr Konsumentinnen und Konsumenten), und andererseits, weil die Unternehmen ihre Güter dort herstellen liessen, wo die Löhne am geringsten waren. Was würde wohl ein iPhone kosten, gäbe es nur Kundschaft dafür im Westen und würde es vollständig in den USA hergestellt? Diese weltweite Arbeitsteilung hat in vielen Schwellenländern Millionen von Menschen aus der Armut gehoben, in den reichen Ländern jedoch für Druck auf die Löhne gesorgt. Bei einem Ende der Globalisierung, wie wir sie kannten, ist daher mit höheren Preise in den reicheren Ländern zu rechnen und möglicherweise auch mit einer geringeren Auswahl an Produkten. Den schwächeren Ländern, die von den offenen Grenzen für ihre Produkte und der Arbeitsnachfrage besonders profitieren könnten, droht ein Rückfall in grössere Armut oder zumindest ein Ende der Entwicklung, die ihre Lage verbessert hat. Für die Schweiz und andere Staaten, deren Wirtschaft besonders stark auf den internationalen Handel angewiesen ist, ist die aktuelle Entwicklung mit geringerer Rechtssicherheit, steigenden Zollschranken und einer fehlenden Blockzugehörigkeit eine besonders grosse Herausforderung. 4. Die drohende Hungerkatastrophe Im Zuge der Lieferkettenprobleme sind die Weizenpreise weltweit schon vor dem Ukraine-Krieg deutlich angestiegen. Seit der russischen Invasion sind sie förmlich explodiert. In Davos war man sich weitgehend einig, dass dies in wenigen Monaten in vielen ärmeren Ländern der Welt zu einer Hungerkrise führen wird. Das liegt vor allem daran, dass die Ukraine und Russland zusammen einen entscheidenden Teil aller weltweiten Exporte von Weizen und Düngemitteln bereitstellen. Zum einen zerstören die Russen gezielt Ernten und Erntemöglichkeiten in der Ukraine, zum anderen blockieren sie den Seeweg über das Schwarze Meer, auf dem der Weizen und die Düngemittel in die Abnehmerländer geliefert werden sollte. Diese Blockade will Russlands Präsident Wladimir Putin nur aufgeben, wenn der Westen seine Sanktionen aufhebt. Nichts deutet auf eine Lösung hin. Die Hungerkrise scheint unvermeidbar. In vielen Debatten in Davos wurde darauf hingewiesen, dass solche Krisen in der Vergangenheit mit sozialen Unruhen und einer politischen Destabilisierung in den betroffenen Ländern verbunden waren. Und dass damit erneut gerechnet werden muss. 5. Ungewisse Aussichten für die USA Mit dem Krieg in der Ukraine hat die Führungsrolle der USA in der westlichen und demokratischen Welt eine einmalige Wiedergeburt erlebt. Ohne die Amerikaner, so die geteilte Überzeugung, können die Russen nicht gestoppt werden. Gleichzeitig wurden viele Sorgen um die nächste wirtschaftliche und noch mehr um die politische Zukunft der Supermacht in Davos laut. Das drückendste aktuelle Problem ist der Vierzigjahrerekord der Teuerung. Trotz eines starkes Konsumwachstums, deutlich steigenden Löhnen und weiteren positiven Fundamentaldaten ist die Sorge gross, die geplanten Leitzinserhöhungen durch die US-Notenbank Fed als Antwort auf die Preisentwicklung werde eine Rezession auslösen. Eine Rezession könnte sich sogar als notwendig erweisen, argumentieren einige, weil nur so der starke Aufwärtsdruck auf die Preise gebremst werden könnte. Und dann ist da die Politik. Präsident Biden von den Demokraten hat viel von seiner Beliebtheit verspielt. Bei den Parlamentswahlen im Herbst werden die Republikaner erwartungsgemäss siegen und damit Biden das Regieren in den verbleibenden Jahren seiner Amtszeit dramatisch erschweren. Am Horizont taucht hiermit die Möglichkeit auf, dass der irrlichternde Donald Trump bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ins Weisse Haus zurückkehren könnte. Ein darauf angesprochener bekannter Wirtschaftsfachmann meinte dazu: «Diese Möglichkeit ist in der aktuellen Lage so schlimm, dass man sie genauso zu verdrängen versucht wie die Möglichkeit eines Atomkriegs.». Ein bekannter Wirtschaftshistoriker erklärte zudem, dass ein Kandidat Donald Trump auch eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie bedeuten würde, weil seine Anhänger bereits jetzt daran arbeiten würden, den Wahlprozess in vielen Teilstaaten so zu manipulieren, dass ein Wahlverlust von Trump ein nächstes Mal erfolgreich geleugnet werden könne. 6. Europa hat es schlechter Ein befragter Chef einer Grossbank gab sich für die US-Wirtschaft trotz allem zuversichtlich. Doch als das Gespräch auf Europa drehte, verflog sein Optimismus. Hier würden die Aussichten übel aussehen, meinte er und gab damit die Ansicht von vielen wieder. Auch auf dem alten Kontinent ist die Teuerung einzigartig hoch, aber die Löhne steigen nicht vergleichbar an wie in den USA. Hauptgrund sind hier die steigenden Energiepreise. Und bei weiteren Boykotten gegen Russland oder durch Putin selbst steigen sie weiter. Dazu kommt, dass die Volkswirtschaften Europas bereits jetzt deutlich weniger zulegen, als das in Übersee der Fall ist. Es droht ein Szenario mit Inflation und einem Wachstumseinbruch: eine Stagflation. Weil die Europäische Zentralbank (EZB) mit mehreren Zinserhöhungen die Inflation bekämpfen will, was sie noch während des Anlasses in Davos deutlich gemacht hat, kann auch dies auf das Wachstum drücken. Gegen die steigenden Energiepreise kann die EZB allerdings wenig tun. Und weil die Geldspritzen der EZB – die Käufe von Staatsanleihen südlicher Staaten im Besonderen – nach der Euro-Krise von 2012 die Währungsunion zusammengehalten hat, besteht jetzt die Gefahr, dass die Entwicklung der Zinsen für die unterschiedlichen Mitgliedsländer erneut gefährlich auseinanderdriften könnte und so die einstigen Spannungen angesichts einer noch höheren Verschuldung als damals zurückkehren könnten. Die Aussicht auf weiterhin hohe und steigende Preise, eine gefährdete Energieversorgung, ein Abschwung oder sogar Einbruch der Wirtschaft, erneute Spannungen unter den Mitgliedsländern und enorme Flüchtlingswellen haben das Potenzial, auch in Euro-Ländern soziale Konflikte auszulösen oder zu verschärfen. Diese Einschätzung wurde bis hin zu Vertretern der EU selbst geäussert. 7. China ist keine Lokomotive mehr – im Gegenteil Auch die Lage in China ist wenig beruhigend. Das Land wurde immer wieder als Lokomotive der Weltwirtschaft bezeichnet. In Davos war viel vom Elend zu erfahren, das allein der Lockdown für die Bevölkerung in der Wirtschaftsmetropole und Millionenstadt Schanghai ausgelöst hat. Die Menschen dort haben gehungert. Die Folgen für die Wirtschaft des Riesenlandes zeigen sich bereits in einer deutlichen Abschwächung aller Aktivitäten, zum Beispiel bei den Exporten und der Industrieproduktion. Und die Entwicklung hat die erwähnten Probleme bei den globalen Wertschöpfungsketten weiter verschärft. Und auch ich China ist durch diese Entwicklung eine politische Destabilisierung möglich. Darüber wurde in Davos immer wieder gesprochen. Die Wiederwahl und bisher erwartete Machtvergrösserung von Staatschef Xi Jinping scheint jedenfalls mittlerweile weniger sicher als zuvor. Und selbst wenn er gewählt wird, könnte er in seinem Einflussradius eingeschränkt werden. Das kann für sich gesehen sogar eine positive Entwicklung sein. Xi Jinping war es immerhin, der die Covid-Politik zu verantworten und die Freiheiten der Chinesen und Chinesinnen seit seiner Machtübernahme schrittweise immer weiter eingeschränkt hat. Tritt aber eine Figur wie er ab, die die Macht in dem Ausmass auf sich konzentriert hat, sind Richtungskämpfe zu erwarten und eine politische Destabilisierung. Und niemand garantiert, dass sich nicht noch schlimmere Nachfolger durchsetzen. Fazit Nicht erwähnt unter all den grossen Risiken blieb der Klimawandel. Gerade umgekehrt zum letzten physischen Treffen in Davos ist das Thema diesmal deutlich in den Hintergrund gerückt. Das ist ebenfalls ein entmutigendes Zeichen. Es ist schwer, angesichts der genannten Entwicklungen optimistisch zu bleiben. Dennoch: Die Geschichte verläuft nie linear. Menschen passen sich an, die Dinge verlaufen oft gänzlich anders, als es zuvor für alle erschienen ist – und neue, auch positive und unerwartete Ereignisse werden möglich.