Ein Jahr nach Putins Angriffskrieg auf die Ukraine: Professorin Angela Stent zieht Bilanz

Seit dem 24. Februar 2022 attackiert Putin die Ukraine. Ihre Gedanken zu diesem traurigen Jahrestag? Dass damals niemand erwartet hätte, dass der Krieg so lange dauern würde. Alle dachten, Russland nehme die Ukraine leicht ein. Es war überraschend, wie erfolgreich die Ukrainer zurückschlugen und wie kampfbereit sie sind. Und es war auch überraschend, wie brutal der Krieg war. Ein offener Krieg in Europa schien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch kaum mehr vorstellbar. Das stimmt. Wir haben zwar gesehen, was die Russen in Tschetschenien und Syrien getan haben. Aber die Brutalität, die Grausamkeiten, die Bombardierung der Infrastruktur, die Zerstörung ziviler Ziele, das hat man trotzdem so nicht erwartet. Der Westen reagierte mit einer einzigartigen Geschlossenheit auf die Invasion – selbst die Schweiz schloss sich den Sanktionen an –, obwohl mit einem enormen wirtschaftlichen Schaden für Europa zu rechnen war. Sehen Sie dahingehend Änderungen? Einige Länder wie etwa Ungarn und seine Bevölkerung oder Regionen wie Ostdeutschland und Teile Italiens sind offensichtlich weniger begeistert davon, aber insgesamt ist der Westen sehr geeint. Und es ist bemerkenswert, wie deutlich und umfassend diese Einheit nach Putins Einmarsch war.Zur Person Die emeritierte Professorin Angela Stent ist Autorin des mehrfach ausgezeichneten Buchs «Putin’s World» (2019) und unabhängige Analystin bei der Denkfabrik Brookings. Zuvor leitete sie das Zentrum für Eurasien, Russland und Osteuropa der Georgetown Universität in Washington, D.C., war Nachrichtenoffizierin und arbeitete in der Bush-Regierung für das US-Aussenministerium. Im Rahmen der seit 2004 jährlich stattfindenden Tagung «Waldai» in der Nähe von Moskau traf sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin häufig persönlich – zuletzt kurz vor dem Beginn der Pandemie. Wird die Unterstützung auch bei einer möglichen Rezession aufrechterhalten? Ich denke schon, selbst in den USA und in einem teilweise von den Republikanern kontrollierten Kongress. Natürlich gibt es Stimmen, die die hohen Ausgaben für Hilfsgelder infrage stellen, aber sie vertreten in den meisten europäischen Staaten und in den USA keine Mehrheit der Bevölkerung. Besonders die amerikanische Unterstützung ist entscheidend. Ohne sie wäre die Ukraine längst gefallen, weil die europäischen Hilfen allein nicht gereicht hätten. Das zeigt uns, wie abhängig Europa bei seiner eigenen Sicherheit von den USA ist. Europa ist strategisch noch nicht unabhängig. Die Europäer sollten ihr Militär effektiver aufstellen und eine gemeinsame europäische Armee vorantreiben. Europa hat seine Militärhilfe schrittweise erhöht; nach langen Debatten kommen die Leopard-Panzer, und die USA werden Abrams-Panzer liefern. Glauben Sie, dass es mit den Kampfflugzeugen ähnlich laufen wird, die Selenski bei seinem Besuch in London forderte? Ja. Obwohl Biden selbst ursprünglich Nein gesagt hat zu den F16-Kampfjets, werden die USA sie am Ende vermutlich liefern. Aber ich weiss nicht, wann. Das ist eine wichtige Frage. War die abwägende Haltung in der Panzerfrage sinnvoll, um eine Eskalation zu verhindern? Es zeigt eher, dass die russischen Einschüchterungstaktiken und Drohungen funktioniert haben. Um eine Eskalation sollten wir uns vielleicht weniger Sorgen machen. Der ehemalige britische Premier Boris Johnson sagte kürzlich in Davos, der Westen denke zu viel darüber nach, was in Putins Kopf vor sich gehe, und solle damit aufhören. (lacht) Stimmen Sie ihm zu? Einige der Ängste vor einer Eskalation sind auf jeden Fall übertrieben. Aber Russland hat dennoch 6000 nukleare Sprengköpfe – und niemand kann ausschliessen, dass Putin sie benutzt. Hat die Gefahr, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte, zu- oder abgenommen? Offensichtlich erhalten wir nach wie vor unterschwellige Drohungen von Putin, und er will auf gar keinen Fall verlieren. Aber wir wissen es einfach nicht. Genauso übrigens, wie wir nicht wissen, was eigentlich Putins Ziel ist. Was will Russland? Krieg? Was wollen die Russen? Der eine spricht darüber, dass man die vier annektierten Gebiete anerkennen soll, aber dann sagt jemand anderes, dass es um Entnazifizierung und Entmilitarisierung geht. Ein Volk von Machern und Macherinnen Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Ein Jahr später erzählen vier ukrainische Flüchtlinge, wie sie in der Schweiz Anschluss finden. Die Geschichten von Nina, Marina, Vlad und Olena lesen Sie hier Die russische Wirtschaft hat den ersten Schock des Krieges und die Sanktionen im Jahr 2022 weitaus besser überwunden als erwartet. Die Prognosen zeigen sogar ein leichtes Wachstum für 2023 an – nicht schlechter als das, was für Deutschland erwartet wird, und besser als die Aussichten für Grossbritannien. Haben die Sanktionen nicht gewirkt? Zumindest bisher nicht, weil Russland noch immer viel Geld mit seinen Öl- und Gasexporten macht und die russische Zentralbank von Anfang an viel unternommen hat, um den Rubel zu stabilisieren. Und wenn Sie jetzt in einen russischen Supermarkt gehen, fehlen zwar amerikanische und europäische Produkte, aber dafür gibt es asiatische. Sie finden keine Coca-Cola, aber dann halt vietnamesische Süssgetränke oder so. Also waren die Sanktionen wirkungslos? Dieses Jahr könnte es für Moskau noch mal härter werden, weil Russland durch die Exportkontrollen zum Beispiel keinen Zugang mehr zu Halbleitern hat. Und weil keine Ersatzteile mehr ins Land kommen, sind bereits einige Montagelinien für die Automobilproduktion geschlossen. Es muss sicher noch mehr unternommen werden, damit die Sanktionen nicht umgangen werden. Aber im Allgemeinen haben sie nicht so gewirkt, wie es sich der Westen vorgestellt hat. An der Art und Weise, wie die Russen den Krieg führen, haben sie nichts geändert. Kaum jemand hat sich so intensiv mit Putin beschäftigt wie Sie. Warum ist Putin überhaupt so überzeugt davon, diesen Krieg führen zu müssen? Weil er den Zusammenbruch der Sowjetunion nie akzeptiert hat. Es gab damals im Gegensatz zum Ende Jugoslawiens keine Gewalt, sondern es war ein langer, andauernder Prozess, den Putin nicht als legitim anerkennt. Und unbedingt rückgängig machen will? Ja, und er glaubt wirklich, dass Ukrainer und Russen ein Volk sind. Dass die Ukraine zu Russland gehört und Russland ein göttliches Recht hat, sie zu regieren. War das eine schleichende Radikalisierung oder war die Wiederherstellung der alten Grösse Russlands schon immer Putins Mission? Ich glaube, dass diese Gedanken schon seit langem existieren. Wenn man sich mit Leuten unterhält, die ihn aus den 1990er Jahren in St. Petersburg kannten, dann hat er offenbar schon damals über solche Dinge gesprochen, aber er konnte nichts tun oder hat es zumindest lange nicht getan. Mit der Zeit wuchs sein Groll, vor allem, als er die Ukraine unter Präsident Poroschenko sah. Nach 2014, als der prorussische Präsident Janukowitsch geflohen war und Putin sah, wie erst Poroschenko und dann Selenski die Ukraine näher an den Westen und vor allem an die Europäische Union heranführen wollten, begann er zu erkennen, dass die Ukraine wirklich einen anderen Weg einschlagen würde. Das wollte er nicht akzeptieren. Dazu kam dann noch seine Isolation in der Pandemie. Putin schottete sich zwei Jahre lang ab. Wie hat das seinen Wahn verstärkt? Es umgab sich nur mit einer kleinen Gruppe von Menschen, die ihm genau das erzählten, was er hören wollte. Er wurde von seinen FSB-Leuten in der Ukraine und insbesondere von seinen Verbündeten dort definitiv falsch darüber informiert, wie die Stimmung im ukrainischen Volk war. All das kam zusammen bis zu dem Punkt, dass er glaubte, es würde einfach sein, in die Ukraine einzumarschieren und sie einzunehmen. Welche Ereignisse waren für den Zeitpunkt der Invasion entscheidend? Am wichtigsten war, wie unbeliebt Selenski zu diesem Zeitpunkt war. Dessen Zustimmungswerte lagen im Februar vor einem Jahr bei 25 Prozent, die ukrainische Regierung stand nicht gut da. Putin hatte den chaotischen Afghanistan-Abzug der Amerikaner vor Augen und dachte, die Biden-Regierung würde nicht eingreifen. Die transatlantische Beziehung schien durch Trump erheblich gestört zu sein. Die Franzosen standen vor Wahlen, und Deutschland hatte eine frische Koalitionsregierung, die sich noch finden musste. Der Brexit hatte Europa erschüttert. Putin hat schlicht nicht damit gerechnet, dass die Europäer und die USA so schnell und so einig reagieren würden. Weil sie das ja nach der Krim-Annexion und beim Kampf um die Ostukraine nicht taten? Obama hat damals sinngemäss gesagt, das sei kein existenzielles Problem für uns. Es gab zwar Sanktionen, aber keine so robuste Antwort des Westens auf die russische Aggression. Also dachte Putin, er käme damit durch. Hätte die Invasion verhindert werden können, wenn der Westen 2014 deutlicher reagiert hätte? Das kann man nicht mit Sicherheit sagen, aber vielleicht hätte ihn das abgeschreckt. Ist Stärke das Einzige, auf das Putin reagiert? Ja. Die Fühler für alles andere wurden ja entsprechend ausgestreckt, aber es hilft alles nichts. Kürzlich etwa wollten die USA und Russland über das Abrüstungsabkommen Start reden, und Russland hat selbst diese Gespräche verweigert. Was bedeutet das? Dass es im schlimmsten Fall bald keine Rüstungskontrolle mehr zwischen den Ländern gibt. Denken Sie, man kann mit Putin noch verhandeln? Es scheint sehr schwierig zu sein. Von westlicher Seite haben zum Beispiel Macron und Scholz mit ihm geredet, aber das hat gar nichts gebracht. Von US-Seite redet etwa CIA-Direktor William Burns mit seinem russischen Amtskollegen Sergey Naryshkin. Die beiden haben sich vor einigen Monaten in der Türkei getroffen. Es gibt offenbar Gesprächskanäle zu Putin, etwa auch zwischen Jake Sullivan (Nationaler Sicherheitsberater, Anm. d. Red) und seinem Gegenpart. Könnten ihn der indische Premierminister Narendra Modi und Chinas Staatspräsident Xi Jinping zur Vernunft bringen? Modi hat wegen der anhaltenden Atomdrohungen Ende vergangenen Jahres ein Treffen abgesagt. Xi hat Putin getroffen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die beiden mit Putin wirklich über den Krieg sprechen oder ihn nur vor einer atomaren Eskalation warnen. Putin beklagt unter anderem, dass die Nato bei ihrer Osterweiterung die Sicherheitsinteressen Russlands nicht berücksichtigt habe. Das ist Unfug. Als die Nato 2004 ihre zweite Erweiterung vornahm, war Putin Präsident und hatte keine Einwände dagegen. Dieses postfaktische Argument treiben die Russen und auch ihre Unterstützer im Westen dennoch voran. Und als die Bush-Regierung Georgien und der Ukraine 2008 auf der Bukarester Nato-Konferenz eine Perspektive für den Beitritt geben wollten, sagten Merkel und Sarkozy Nein. Es gab dann aber doch einen Kompromiss, dass die Länder beitreten werden. Aber ohne Zeitplan und ohne, dass seither etwas unternommen wurde. Selbst letztes Jahr sagte Biden, dass die Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine nichts sei, was jetzt diskutiert werden sollte. Russland als bedrohtes Opfer einer Nato-Erweiterung halte ich für ein Scheinargument, das Menschen gefällt, die den USA die Schuld für den Konflikt geben wollen. Welche Rolle spielen die Medien dabei? In diesem Konflikt ist etwas grundlegend anders, fällt mir auf. Nehmen Sie die Koranverbrennung vor der türkischen Botschaft in Schweden. Es sieht so aus, als stünde jemand von Russia Today hinter der Aktion, der Verbindungen zum Kreml hat. Eine ziemlich clevere Methode, wenn die Russen sicherstellen wollen, dass die Türkei den Nato-Antrag Schwedens weiter blockiert. Moskau weiss genau, was es tut. Die Russen säen sehr geschickt Zweifel und bringen uns dazu, seltsame Fragen zu stellen, die dann eine Art asymmetrische Reaktion hervorrufen. Und plötzlich äussern selbst eigentlich vernünftige Menschen Verständnis dafür, dass sich Putin bedroht fühlt. Aber wer bedroht ihn denn? Die Ukraine wollte ja nicht in Russland einmarschieren. Die USA haben kein Interesse daran, Russland zu erobern. Niemand bedroht Russland. Die grösste Herausforderung kommt von innen, von der eigenen Bevölkerung. Putin und seine Unterstützer klammern sich an den Gedanken, im Gegensatz zu den Franzosen und den Briten als einziges Grossreich nicht zu zerfallen und auf ewig zu bestehen. Ist Putin noch derjenige, der im Kreml das Sagen hat? Es sieht so aus. Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin, der Chef der Wagner-Gruppe, hat ihn ziemlich herausgefordert, weil er das russische Militär als ineffektiv kritisiert hat und dadurch plötzlich ein öffentliches Profil bekam. Mit seinen Söldnern aus Häftlingen, Mördern und Vergewaltigern ist er jetzt im Ukraine-Krieg sehr sichtbar, auch wenn die meisten von ihnen getötet werden. Aber wir haben keine Beweise, dass jemand anderes als Putin Entscheidungen trifft. Er ist auch nach wie vor derjenige, der Generäle ernennt und entlässt. Wie steht es um den Rückhalt in der Bevölkerung? Bis zu einer Million Russinnen und Russen haben das Land seit Kriegsbeginn verlassen. Mindestens 200’000 bis 300’000 waren junge Männer, die nicht eingezogen werden wollten. Viele, die gegen den Krieg sind, sind also gar nicht mehr da. Laut Levada, dem einzigen halbwegs unabhängigen Umfrageinstitut, unterstützen von der verbleibenden Bevölkerung 70 Prozent den Krieg. Die Hälfte davon spricht sich allerdings auch für Verhandlungen aus. Aber es gibt eine grosse, passive Gruppe, die für den Krieg und wegen der Propaganda durch die Staatsmedien überzeugt ist, dass Russland in der Ukraine gegen Nazis kämpft. Im Krieg der Sowjetunion gegen Afghanistan (1979 bis 1989, Anm. d. Red.) gab es so viele Soldatenmütter, die protestierten, und eine Mobilisierung von Menschen, die den Krieg beenden wollten. Das sehen wir jetzt nicht. Dabei sind laut Angaben der US-Regierung bereits 180’000 Russen gestorben oder verletzt. Weniger gut sieht es in den Nachbarländern aus. Bis auf Belarus sind Russlands natürliche Partner von Kasachstan bis Aserbaidschan zurückhaltend. Schwindet Putins Einfluss im postsowjetischen Raum? Das kann man definitiv so sagen. Niemand will die Annexion neuer Gebiete anerkennen oder Truppen schicken. Nicht mal Kasachstan, obwohl Putin dem Präsidenten Tokajew noch Anfang 2022 bei Unruhen durch «Friedenstruppen» geholfen hat, an der Macht zu bleiben. Wo zeigen sich sonst noch Risse? Bei den Treffen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit sieht man eine veränderte Machtbalance. China, das in Zentralasien bereits sehr stark war, gewinnt an Einfluss, der Iran und andere treten hervor, die Türkei will beitreten. Die Türkei hat auch die ersten Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im vergangenen Jahr initiiert. Könnte sie am Ende eher ein Mediator sein als beispielsweise die Schweiz? Sie versucht es zumindest. Entscheidend war sie auf jeden Fall in dem Vertrag zwischen Russland und den Vereinten Nationen, russische Lebensmittelprodukte und Düngemittel wieder auf den Weltmarkt zu bringen. Die USA versuchen, den Einfluss Russlands im globalen Süden einzudämmen. Laut Medienberichten gibt es ein regelrechtes «Duell» um den afrikanischen Kontinent. Sehen Sie das auch so? Ja, die Wagner-Gruppe etwa ist dort auch sehr aktiv und macht Geld. Die Russen unterstützen verschiedene autoritäre Staatschefs, und China ist ja in Afrika auch sehr präsent. Die USA sind aufgewacht und haben kürzlich Janet Yellen und Antony Blinken (Finanzministerin und Aussenminister der US-Regierung, Anm. d. Red.) hingeschickt. Inwiefern ist Afrikas Position für den Krieg entscheidend? Es gab einige Hinweise, dass etwa Südafrika Russland geholfen haben soll, einige Sanktionen zu umgehen. Südafrika wird sich den Sanktionen wohl weiterhin nicht anschliessen, das darf aber nicht bedeuten, dass die Sanktionen über Afrika umgangen werden. Die Inder sind nun die grössten Käufer russischen Erdöls und helfen Moskau bei Zahlungsvorgängen, nachdem Russland vom Swift-System ausgeschlossen wurde. Müssen sie keine Sanktionen fürchten? Einerseits ja. Aber Indien gehört neben Japan und Australien zu den Quad-Staaten (Quadrilateral Security Dialogue, Anm. der Red.) und ist damit ein strategischer Partner der USA. Die USA versuchen eher, die Inder davon zu überzeugen, eine neutralere Position einzunehmen. Wie hat sich Chinas Beziehung zu Russland aus Ihrer Sicht entwickelt? Sie unterstützen die russische Rhetorik, auch wenn sie die Atomdrohungen kritisieren. Sie beliefern Russland zwar nicht mit Waffen, aber zumindest mit einiger Elektronik und wichtigen Komponenten. Und natürlich kaufen sie das russische Öl und Gas, das Europa nicht mehr will. Glauben Sie, dieser Krieg könnte das Ende Russlands bedeuten? Nein. Aber wir wissen auch nicht, wie er endet. Oder wie lange er noch dauert. Aber Russland wird daraus auf jeden Fall ärmer und isolierter hervorgehen. Neben einem «Korea-Szenario» gibt es auch die Hoffnung, dass ein Friedensvertrag geschlossen wird. Ihren Aussagen zufolge gab es bei den durch die Türkei vermittelten Friedensgesprächen im vergangenen Jahr bereits eine Art Übereinkommen. Was stand drin? Dass Russland sich dorthin zurückzieht, wo es am 23. Februar 2022 stand – also immer noch mit einer annektierten Krim und einem Teil des Donbass –, und die Ukraine im Gegenzug für westliche Sicherheitsgarantien ihre Pläne für eine Nato-Mitgliedschaft aufgibt. Warum ist es nicht zum Abschluss gekommen? Das war nur mal eine erste Sondierung, verhandelt von niedrigrangigen Vertretern der Kriegsparteien. Das heisst noch nicht, dass Putin oder auch Selenski damit einverstanden gewesen wären. Dann kamen die Gräueltaten in Butscha ans Licht – und seither gab es keine Friedensverhandlungen mehr. Um das ganz klar zu sagen: Es gab kein Abkommen, das nur unterschrieben hätte werden müssen. Wächst der Druck auf die Ukraine, Zugeständnisse zu machen? Ich sehe das aktuell nicht. Die Minimalbedingung der Russen scheint zu sein, dass die Annexion der vier Territorien in der Ostukraine anerkannt wird, die sie aktuell nicht mal vollständig kontrollieren. Falls Selenski das täte, wäre er auch sofort weg. Die ukrainische Bevölkerung ist mehrheitlich dagegen, Gebiete abzutreten. Glauben Sie, dass der Krieg über 2023 hinausgeht? Ja, er wird wohl für eine lange Zeit andauern, sofern der Westen Waffen an die Ukraine liefert. Wenn nicht, haben die Ukrainer keine Chance. Solange der Westen die Ukraine unterstützt, verliert sie zumindest nicht noch mehr junge, gut ausgebildete Leute.Russland setzt Abrüstungsvertrag «New Start» aus Wenige Tage, nachdem dieses Interview mit Angela Stent geführt wurde, bewahrheitete sich eine ihrer Befürchtungen: Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Aussetzung des letzten grossen atomaren Abrüstungsvertrages mit den USA angekündigt. Es handele sich nicht um einen Ausstieg, sondern um eine Aussetzung des "New Start"-Vertrags, sagte der Kremlchef am Dienstag in Moskau in seiner Rede an die Nation. Der Abrüstungsvertrag «New Start» ist das einzige noch verbliebene grosse Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Der Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1550 einsatzbereite Sprengköpfe. Zudem ist geregelt, dass Washington und Moskau Informationen über ihre strategischen Atomwaffenarsenale austauschen und bis zu 18 Verifikationsbesuche pro Jahr abhalten dürfen.

Ein Jahr nach Putins Angriffskrieg auf die Ukraine: Professorin Angela Stent zieht Bilanz

«Krieg dauert lange an, sofern der Westen Waffen an die Ukraine liefert»

Seit dem 24. Februar 2022 attackiert Putin die Ukraine. Ihre Gedanken zu diesem traurigen Jahrestag?

Ein offener Krieg in Europa schien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch kaum mehr vorstellbar.