«Im Flachland bringen Solarstromfarmen wenig»

Im Parlament wird heftig gestritten darüber, ob die Alpen grossflächig mit Solarkraftwerken verbaut werden sollen. Stichwort Alpinsolar. Wo stehen Sie als Wissenschafter? Es gibt nicht die eine generelle Antwort. Es kommt aufs Projekt an. Gewisse Kritiker monieren, Alpensolarkraftwerke zerstörten die Natur, seien zu teuer, zu langsam oder an der falschen Stelle, weil die Leitungen ins Tal fehlten. Was sagen Sie? Man kann nicht für alle Alpinkraftwerke behaupten, sie seien landschaftsverschandelnd. Nicht alle sind zu teuer oder stehen am falschen Ort. Doch viel wichtiger scheint mir, darüber zu reden, warum wir alpine Photovoltaik-Anlagen planen. Warum? Weil wir die Energiewende verschlafen haben. Die Schweiz hätte vor Jahren damit anfangen sollen. Jetzt müssen wir beschleunigt erneuerbare Stromproduktion zubauen. Es geht vor allem um den Winterstrom, wo wir auf eine erhebliche Stromlücke zurasen. Es stehen vor allem Solarkraftwerke im Fokus. Warum? Ideal wäre Windkraft. Sie produziert zwei Drittel des Stromertrages im Winter und in der Nacht mehr als am Tag – die ideale Ergänzung zu Photovoltaik. Doch Windräder sind politisch noch unbeliebter als alpine Solarkraftwerke, das zeigen die Einsprachen gegen Projekte. Deshalb versuchen wir es mit einer Solaroffensive. Die Solaroffensive des Bundes baut auch auf Ihren Daten. Sie wiesen nach, dass Solarpanels im Hochgebirge viel mehr Strom hergeben als solche im Unterland. Was waren die Resultate? Wir konnten nachweisen, dass Panels mit einem Anstellwinkel von 70 Grad gegenüber der Horizontalen im Gebirge am meisten Strom produzierten. Allfälliger Schnee oder Eis blieben nicht kleben. Wie viel mehr Strom gabs im Vergleich zu Panels auf Dächern und Fassaden im Unterland? Der Ertrag je Quadratmeter im Winterhalbjahr – der sogenannte Winterstrom – ist drei- bis viermal höher im Vergleich zu einer typischen Anlage im Mittelland auf Gebäuden. Und noch besser: Die Produktionsspitzen liegen im März und April. Das ist genau die Periode, wo sich die Stauseen leeren und wir den grössten Bedarf an einer zusätzlichen Stromproduktion haben. Warum am stärksten im März und April? Die Sonne ist dann stärker als im Januar. Der Schnee liegt noch im Hochgebirge und verstärkt die Einstrahlung durch Reflexion. Und die tiefen Temperaturen verstärken den Wirkungsgrad. In dieser Periode hat man alles auf seiner Seite.Wer Jürg Rohrer ist Jürg Rohrer ist Dozent für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil ZH. Er leitet dort die Gruppe Erneuerbare Energien. In seiner Forschung geht es um die Dekarbonisierung des Energiesystems. Er ist ein Spezialist in der Anwendung von Photovoltaikanlagen. Warum bringen Solaranlagen im Unterland im Winter viel weniger? Die Einstrahlung ist im Unterland generell kleiner als in den Hochalpen, weil die Sonnenstrahlen einen längeren Weg durch die Atmosphäre haben. Im Winter kommt hinzu, dass der Hochnebel während vieler Tage die Einstrahlung reduziert. Ideal wäre, wenn Panels immer rechtwinklig zum Sonnenstand stehen. Was ist der Mehrertrag beweglicher Panels? Er beträgt rund 20 Prozent. Der Wartungsaufwand und die zusätzlichen Kosten für die Mechanik sind aber nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt, dass Module heute relativ billig sind. Deshalb lohnt sich die Nachführung der Panels nur selten. Und bewegliche Anlagen in den Hochalpen? Technisch wäre es möglich, aber man fürchtet sich vor den klimatischen Bedingungen. Kälte, Eis und Wind in den Hochalpen beeinträchtigen schnell einmal eine reibungslose Mechanik. Die allermeisten derzeitigen alpinen Solarprojekte sehen fixe Anlagen vor. Wie viel graue Energie wird bei Solarpanels in den Alpen verbaut im Vergleich zu Panels auf Dächern und Fassaden? Es braucht mehr Baumaterial in den Alpen als beispielsweise auf Dächern. Aber die Differenz ist bezogen auf die produzierte Kilowattstunde Strom klein. Die CO2-Emissionen des Stromes aus alpinen Solarkraftwerken sind pro produzierte Kilowattstunde in derselben Grössenordnung wie Strom aus einem Holzkraftwerk. Sie verursachen 95 Prozent weniger CO2 als die Stromproduktion durch Gaskraftwerke. Der alpine Strom muss zu den Verbrauchern geleitet und gespeichert werden können. Haben Alpinsolarprojekte einen grossen Nachteil, weil sie weitab der Städte sind? Es gibt keine generelle Antwort auf diese Frage. Ich mache zwei Extrembeispiele: Grengiols im Wallis versus Flims in Graubünden. Das bekannte Projekt Grengiols soll in einem abgelegenen, unbewohnten Tal entstehen. In Flims soll ein Solarkraftwerk mitten in einem Skigebiet gebaut werden, für den Eigenverbrauch. Den Strom von Grengiols ins Tal zu führen, braucht sicher mehr Aufwand und dauert länger als in Flims, wo die Leitungen wohl relativ einfach zu realisieren wären. Wären Solarkraftwerke in der Nähe von Pumpspeicherwerken die Lösung? Dort sind Leitungen schon vorhanden. Beispiel Linth-Limmern im Kanton Glarus … Die Staumauer am Muttsee ist nach Süden ausgerichtet. Dies ist ein Idealfall. Die allermeisten Staumauern sind aber nicht so ideal gelegen. Hinzu kommt, dass die meisten Stauseen in engen V-Tälern stehen mit einem hohen Horizont. Die Sonne ist dort nicht im Übermass vorhanden. Das Potenzial an und in der Nähe von Staumauern ist also klein. Man hört, die Stromproduktion im Winter auf den Alpen habe noch einen Vorteil: Man kann sie direkt verbrauchen. Neue Pumpspeicherstauseen würden sich erübrigen. Richtig? Das stimmt. Strom in grosser Menge im Sommer herzustellen und saisonal zu speichern, verlangt grosse, teure Energiespeicher. Das macht den Strom teurer. Stauseen, welche einmal pro Jahr aufgefüllt werden, lohnen sich nicht als Pumpspeicherkraftwerke. Sie sind nur rentabel, wenn sie täglich pumpen und turbinieren können. Es gibt Ideen für Speicher im Unterland: So etwa die Umwandlung von Strom in Wasserstoff. Wie sehen Sie das? Wir haben derzeit keine Infrastruktur dafür. Der Wirkungsgrad der Wasserstoffwirtschaft ist schlecht und die Produktion von Wasserstoff in der Schweiz wäre sehr teuer. Es macht nur für gewisse Nischen-Anwendungen Sinn. Mir scheint es eher ein Argument der Gas-Lobby zu sein, um im Geschäft zu bleiben. Wenn wir von Alpinsolar sprechen, ist vielen nicht klar, ob man schroffe Felswände meint oder landwirtschaftlich genutzte Sömmerungsgebiete. In Grengiols soll eine Alp betroffen sein. Die meisten mir bekannten Projekte betreffen keine Sömmerungsgebiete. Sicher wäre die Beeinträchtigung der Alpen während des Baus gross. Damit die Solarmodule im Winter über dem Schnee sind, muss die Unterkante der Panels etwa 1,5 bis 2 Meter über dem Boden sein, sodass sich Tiere im Sommer darunter gut bewegen könnten. Befürworter sagen, dass man Solarfarmen dereinst wieder abmontieren könnte. Der Rückbau wäre gewährleistet, die Natur käme zurück. Stimmt das? Die Rückbaubarkeit ist im Gesetz festgeschrieben. Bei naturschonender Verankerung mit möglichst wenig Beton, zum Beispiel mit Spinnankern, ist dies möglich. Doch bis die Vegetation zurückkehrt, wie sie einmal war, wird es sicher länger dauern. Der Walliser Protagonist Peter Bodenmann hat von einer Fläche von 1 bis 2 Prozent der Alpen gesprochen, die für eine Solaroffensive geopfert werden müssten, um die Energiewende zu schaffen. Was sind Ihre Berechnungen? Die Zahl ist schwierig zu schätzen, weil sie von vielen Faktoren abhängig ist. Der grösste Faktor: Wie viel Strom verbrauchen wir in zehn oder zwanzig Jahren? Der grösste Hebel wäre das Einsparen von Strom durch Effizienzgewinne, indem wir etwa alte durch neue, effiziente Motoren ersetzen. Dieses technische Sparpotenzial wird auf rund einen Drittel des heutigen schweizerischen Jahresverbrauchs geschätzt. Dies entspricht beinahe der Produktion aller Schweizer AKW. Wenn alle echt sparen würden, könnte man fast schon auf Alpinsolar verzichten? Das technische Sparpotenzial von 20 Terrawattstunden (TWh) ist zehn Mal höher als der derzeit geplante Ausbau von Stromproduktion. Doch leider fehlen die politischen Rahmenbedingungen zur Realisierung dieser Effizienzgewinne. Was gäben Dächer und Fassaden als Flächen für Solarpanels her, wie es die Grünen verlangen? Wir arbeiten derzeit an einer Studie für den Kanton Zürich, und dort zeigt sich: Solarpanels auf Dächer und Fassaden sind derzeit nur auf 4 Prozent der für Photovoltaik nutzbaren Flächen montiert. Das Potenzial wäre also riesig. Die Frage ist die politische Akzeptanz. Eine Solarbaupflicht auf bestehenden Bauten hat einen schwierigen Stand, wäre in meinen Augen aber notwendig. Sie sprechen auch von Agri-Photovoltaik. Was ist das? Landwirtschaft und Photovoltaik lassen sich kombinieren. Dort ist das Potenzial mindestens so gross wie der doppelte heutige Landesverbrauch – ergo riesig. Aber wie gesagt: Im Flachland bringen Solarstromfarmen wenig, wenn wir den Engpass im Winter bewältigen wollen. Bei der SVP hört man: Bleiben wir doch bei den AKW, statt die Alpen mit Solarpanels zu verbauen. Wie sehen Sie das? Die Mangellage herrscht jetzt und nicht in zwanzig Jahren. Wir sind vom Bundesrat aufgerufen, im nächsten Winter 10 Prozent Strom und 15 Prozent Gas zu sparen. Da helfen Pläne für den AKW-Bau überhaupt nicht. Wer ein neues realisieren will, wartet zwanzig bis dreissig Jahre. AKW als Lösung der anstehenden Probleme im Strombereich – das ist eine Träumerei. Die Frage im Parlament ist ja: Wie füllen wir die Atomlücke in acht bis zwölf Jahren. Die jetzigen AKW werden irgendwann einmal stillgelegt. Auf diese Zeit müssen wir uns vorbereiten. Hinzu kommt das fehlende Stromabkommen mit der EU, was die Importmöglichkeiten von Strom ab 2025 vermutlich einschränken wird. Und schliesslich wird in Zukunft mehr Strom gebraucht werden, weil wir von fossilen auf erneuerbare Energien umsatteln. Deshalb brauchen wir ab sofort jährlich mindestens 2 Terrawattstunden Zubau alleine bei der Photovoltaik. Dies wäre ein doppelt so hoher Zubau wie im letzten Jahr. Und wir sollten die erwähnten Effizienzpotenziale realisieren. Wenn wir wollen, können wir dies alles erreichen. Sie werden als Experte bei vielen Solarprojekten beigezogen. Die Rede ist von über vierzig Projekten, die meisten geheim. Was ist Ihre vorläufige Bilanz? Eine gewagte Prognose (lacht). Ich würde sagen, etwa zwanzig davon sind gut unterwegs. Die meisten wollen nicht an die Öffentlichkeit treten. Dies hat mit der derzeit fehlenden, definitiven Subventionsverordnung des Bundes zu tun. Man weiss nicht, wie viel Geld für jedes Projekt zur Verfügung steht. Solange diese Unsicherheit besteht, hütet man sich, ein Solarprojekt zu publizieren. Das dringliche Bundesgesetz namens Solarexpress verlangt, dass die ersten Alpinsolar-Projekte bis 2025 am Netz sind. Ist das zu schaffen? Das hängt von den Einsprachen ab. Es wurden etliche Drohungen laut. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass alle Projekte verhindert werden, etwa solche, die mitten in einem Skigebiet gebaut werden. Da würden die Rekurrenten wohl ausgelacht werden, denn Skigebiete sind selten unberührte Landschaften. Ich denke, dass die Subventionskredite bis 2025 nicht ausgeschöpft werden. Die Subventionen sind hoch und betragen bis zu 60 Prozent der Kosten. Ist das vernünftig? Die Projekte kosten etwas, das stimmt. Doch schauen Sie sich die Alternativen an: Das fossile Reservekraftwerk in Birr AG kostet knapp eine halbe Milliarde Franken. Jetzt will der Bundesrat weitere Reservekraftwerke beschaffen für einen Ausbau von 250 auf 1000 Megawatt. Die Endkosten dürften etwa 1,9 Milliarden Franken betragen. Mit dieser Investition könnte man alpine Solaranlagen bauen, welche rund 0,9 Terrawattstunden Strom produzieren, die Hälfte davon im Winter – Jahr für Jahr. Die fossilen Kraftwerke wurden nur gebaut, um sie möglichst nie einzusetzen. Das ist doch Wahnsinn. Man liest, Sie sind Mitglied der Grünen und von Greenpeace. Wurden Sie für Ihr Engagement für Alpinsolarprojekte von dieser Seite angefeindet? Nein, ich wurde nicht angefeindet. Natürlich kommen Leute zu mir und hinterfragen meine Argumente, aber auf der sachlichen Ebene. Es finden gute Diskussionen statt. Was hatte Sie dazumal bewogen, den Grünen und Greenpeace beizutreten? Als Gesellschaft laufen wir in eine Richtung, die nicht mehr gesund ist. Heute haben wir keine Wirtschaft mehr, die uns dient, sondern eine Gesellschaft, die der Wirtschaft dienen soll. Sie ist zum Selbstzweck geworden. Dementsprechend wird die Natur als Abfallhalde und reine Ressourcenquelle betrachtet, die beliebig ausgebeutet werden darf. Dagegen wehre ich mich. Dagegen muss man ankämpfen.