Die Gegenwart allein reicht, um Andriy Parubis Job zur Hölle zu machen. Es vergehen nie mehr als ein paar Stunden, bis irgendetwas passiert, was die Lage der Nation erschüttert. Es ist 22.45 Uhr am Donnerstagabend letzter Woche in Kiew, als der neue Chef des ukrainischen Nationalrats für Sicherheit und Verteidigung wie verabredet im «Hotel Kiew» an der Gruschewskowo-Strasse zum Interview eintrifft, immerhin zwei Stunden früher als ursprünglich geplant.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Kurz zuvor ist ein Maidan-Aktivist im osteuropäischen Donezk von russischen Demonstranten tödlich verletzt worden. Parubi wirkt angespannt. Der 43-jährige Politiker weiss, dass die Ereignisse vielleicht zur ganz grossen Eskalation beitragen: «Die Russen verstärken täglich ihre Truppen an der ostukrainischen Front.»

Doch allein auf die explosive Gegenwart kann sich Parubi nicht konzentrieren. Denn eine entscheidende Frage der jüngsten ukrainischen Geschichteist nicht geklärt: Wer hat die gezielten Schüsse auf die Demonstranten und Polizisten am 20. Februar abgegeben? Insgesamt 44 Menschen starben noch am selben Tag, 41 Demonstranten und drei Polizisten.

Eine Arbeitsgruppe arbeite ministeriumsübergreifend nun täglich daran, die Ereignisse aufzuklären, sagt Parubi der «Welt am Sonntag». Und das, obwohl alle Ressourcen eigentlich auf den möglichen Krieg gerichtet seien. «Ich glaube, in sieben bis zehn Tagen können wir ein Bild zeigen, was genau passiert ist, wer geschossen und wer die Anweisungen gegeben hat.»

Posttraumatische Störung einer ganzen Nation

Es sind Antworten, die von grosser Bedeutung für das ukrainische Volk sind. Denn diese Hinrichtungen sind so etwas wie die posttraumatische Belastungsstörung einer ganzen Nation geworden. Und jeder Tag, der vergeht, ohne dass klar ist, wer geschossen und wer den Auftrag gegeben hat, trägt zur Mythenbildung bei. So richtig die Fantasie entfacht hat ein abgehörtes Telefonat zwischen dem estnischen Aussenminister Urmas Paet und der EU-Aussenbeauftragten Catherine Ashton.

Die beiden Politiker sprachen über die ukrainische Ärztin Olga Bogomolez. Sie hatte Menschen untersucht, die von Schüssen verletzt oder getötet worden waren. Laut Paet soll sie gesagt haben, dass die Verletzungen der Opfer beider Seiten – also aufseiten der staatlichen Milizionäre und der Demonstranten – die gleiche Handschrift trügen.

Und: Die neue Regierung wolle die Vorfälle nicht untersuchen lassen – was den Verdacht nähre, dass Mitglieder der neuen Regierung die Schüsse in Auftrag gegeben hätten. Bogomolez dementierte umgehend. Doch seither scheint alles möglich: Wurden die Schüsse gar von Demonstranten abgegeben? Oder gab es eine dritte Seite, die gezielt Panik zwischen den Parteien schüren wollte? Waren die Russen direkt involviert?

Der Wahrheit im Kiew dieser Tage nahezukommen, ist schwierig bis unmöglich. Beweise irgendwelcher Art gibt es bislang nicht, es bleiben Gespräche. Mit Menschen wie Walodija. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, zu gefährlich sei das während der laufenden staatlichen Ermittlungen. Der 37-jährige Vater einer Tochter war vom ersten Tag an bei den Maidan-Kämpfen dabei. Es war am 19. Januar, als erstmals an der Gruschewskowo-Strasse Schüsse fielen. Mehr als 20 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, zum Teil sehr schwer, vor allem durch Schallgranaten, die mit Nägeln gefüllt waren. «Das war der Moment, da uns klar wurde: Wir können jetzt nicht friedlich weitermachen und uns abschiessen lassen.»

«Wir hätten sowieso keine Chance gehabt»

Die Maidaner rüsteten auf. Zelte hatten sie schon gebaut, Barrikaden und Waffen gab es auch. Unabhängig von der Maidan-Armee auf dem Platz, die sich bis heute in Hundertschaften unterteilt, bildete sich nun aber eine streng geheime, kleine Gruppe. So erzählt es Walodija. Es waren alles Spezialisten. Er selbst habe in der russischen Armee als Scharfschütze gedient, nun aber hatte er eine andere Aufgabe: «Ein Sniper schiesst nie, wenn er von einem anderen Sniper entdeckt wurde. Wir mussten also überhaupt erst mal herausfinden, wer schiesst.» Und dann versichert er: «Wir selbst haben keinen einzigen Schuss abgefeuert. Wir hätten sowieso keine Chance gehabt.»

Den Profis war klar, wo die besten Plätze sind: auf dem Dach der Zentralbank, im Klub des Ministerkabinetts und in den Räumen des «Hotels Ukraine» am Maidan. Trotzdem, es war Sisyphusarbeit: Denn auch wenn zwischen dem 19. Januar und dem 20. Februar keine Schüsse fielen – Scharfschützen der staatlichen Milizen standen immer auf den Dächern und hinter den Fenstern rund um den Maidan. «Das waren die staatlichen Spezialeinheiten», sagt Walodija. Soweit stellt niemand den Ablauf infrage. Neu ist allerdings, dass sich auf der Seite der Revolution eine eigene Truppe aus Scharfschützen gebildet hatte.

Was dann aber geschah, bleibt ein Rätsel: «Sniper arbeiten immer zu zweit», erzählt Walodija. «Die Sniper, die dann kamen, haben aber allein gearbeitet. Die hatten wir noch nie gesehen.» Am Morgen des 20. Februar sei er durch einen Telefonanruf geweckt worden, es habe Schüsse auf dem Maidan gegeben. Das kam völlig unerwartet, denn alle hatten mit einem politischen Kompromiss gerechnet. Seine Truppe habe keine Chance mehr gehabt.

Die Gegner waren offenbar ausgerüstet mit russischen Gewehren vom Typ SVD, aber sicher ist sich Walodija da nicht. Insgesamt vier habe er gesichtet. «Das waren keine Spezialeinheiten, das waren engagierte Profikiller», ist Walodija überzeugt. «Die kamen pünktlich und zogen pünktlich wieder ab, als sei der Arbeitstag beendet.» Für Walodija ist die Sache klar: «Irgendjemand aus dem Umfeld von Präsident Janukowitsch steckt dahinter. Man brauchte die Panik und das Desaster, damit man ihn und möglichst viel Geld aus dem Land bringen konnte.»

Der Sicherheitschef vermutet eine «dritte Seite»

Eine Version, die Sicherheitsratschef Parubi für Unsinn hält. Die Panik sei nicht nötig gewesen, damit Janukowitsch das Land habe verlassen können. Dem Bericht wolle er nicht vorgreifen, er gebe hier nur seine Meinung als Privatperson wieder. Demnach sei eine dritte Seite involviert gewesen, die russische. Er selbst sei während seiner Zeit auf dem Maidan gewarnt worden, dass fünf Gruppen mit jeweils vier Scharfschützen auf dem Maidan arbeiten würden – vier aus Russland und eine aus Weissrussland. Bald würden konkrete Namen genannt. «Wir werden die Namen der Täter nennen und sie weltweit suchen.»

Gennadi Moskal staunt, als er das hört. Er sitzt in seinem Büro in der Werchowna Rada hinter einem Schreibtisch, auf dem sich die Papiere türmen. An der Wand hängt eine grosse, rote Flagge, auf der in weisser Aufschrift steht: «Tod den Banditen». «Nichts wird hier untersucht, niemand wird hier zur Verantwortung gezogen.»

Der bullige 63-jährige Westukrainer hat schon so einige Posten in der Politik besetzt, jetzt ist er Vizevorsitzender des Komitees zum Kampf gegen die organisierte Kriminalität und Korruption. Und als solcher hat sich Moskal tief in die Frage der Sniper-Schüsse eingearbeitet. Nichts sei bisher passiert, niemand sei festgenommen, keine Waffen seien sichergestellt.

Das habe System: Einen ganzen Stapel ungelöster Fälle hat der Parlamentarier auf der Fensterbank liegen. Ordentlich aufeinandergestapelt, meist in hellblauen Pappmappen. «Die Schüsse der Sniper am 20. Februar – kein Resultat», sagt er und legt die Mappe auf die Seite. «Schüsse auf Mediziner, was gegen alle internationalen Konventionen verstösst – kein Resultat.» Er schaut auf und nimmt die nächste Mappe: «Wasserwerfer und Ausziehen auf der Strasse bei Temperaturen von bis zu 20 Grad minus – kein Resultat.» So geht das weiter, eine Mappe nach der anderen, rund 20 insgesamt. «Wenn Parubi glaubt, bald würden die Schuldigen gefasst und bestraft sein, dann macht er sich lächerlich.»

Rettungskoordinator bestätigt die böse Vermutung

Zumindest von einem aus der Regierung bekommt der Chef des Sicherheitsrats Rückendeckung. Von einem schlanken Mann mit vollem, grauem Haar und kurzem Bart, den so gar nicht die Aura eines Top-Politikers umgibt. Es ist Oleh Musij, ein Arzt, nun oberster Gesundheitspolitiker des Landes. Am Ende eines langen Holztisches sitzt er, in Jeans, grauem Wollpullover und darunter ein weisses T-Shirt.

Es gibt wohl keinen besseren Zeugen, wenn es um die Toten der Unruhen geht. Ruhig erzählt Musij, der für die Maidaner alle Rettungseinsätze koordiniert und aus den vielen Lazaretten die Meldungen über den Tod der Menschen entgegengenommen und mit seiner Unterschrift dokumentiert hat, von den Ereignissen. Seine Schlussfolgerung: Sniper gab es nur am 20. Februar, keinen Tag eher.

«Ich bin kein Kriminalist, aber da bin ich mir zu 99 Prozent sicher», sagt Musij. Der Beweis seien die Wunden der Toten: Jeweils nur ein Schuss, von oben abgegeben – meist in den Kopf, den Hals oder in die Schulter, von wo aus die Patrone nach unten in den Körper vordrang. Für Musij steht fest: Dahinter stand ein Auftraggeber, was sich mit der Version von Sniper Walodija deckt. «Es fing um neun an und hörte um zwölf Uhr auf, so, als hätte sie jemand bestellt.»

Dass die neue Regierung oder die Maidaner verantwortlich sein könnten, schliesst er aus: «Dann wäre das Verhältnis zwischen toten Demonstranten und Polizisten am 20. Februar nicht 41 zu 3.» Doch wer war es dann? Die staatlichen Ermittlungen seien in medizinischer Hinsicht korrekt verlaufen. Mehr könne er nicht sagen. Aber zumindest das Wenige aus dem Mund des Arztes könnte den Ukrainern Hoffnung geben, doch noch die Wahrheit zu erfahren.

Dieser Artikel erschein zuerst in unserer Schwesterpublikation «Die Welt».