Noch nie ist ein Verhandlungsführer der EU-Kommission so oft vor die Medien getreten wie Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier. Und noch nie sind so viele Verhandlungspapiere publiziert worden wie bei den Brexit-Verhandlungen. Grund dafür ist die Furcht vor Veröffentlichung von vertraulichen Informationen. Die angestrebte Transparenz hat für die EU aber noch andere positive Nebeneffekte.

Bei früheren Verhandlungen zu internationalen Abkommen wie den Freihandelsabkommen CETA mit Kanada oder TTIP mit den USA glänzte die EU-Kommission nicht gerade mit Transparenz - im Gegenteil.

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Indiskretionen

Die Konsequenz davon waren falsche Behauptungen, grosse Verunsicherung und zahlreiche Indiskretionen. Schiesslicht machte Greenpeace Niederlande Brüsseler TTIP-Dokumente gar öffentlich zugänglich. Das brachte nicht zuletzt die EU in eine ungemütliche Lage gegenüber ihrem Verhandlungspartner.

Um eine solche Situation bei den Brexit-Verhandlungen zu vermeiden, beschloss die EU-Kommission, so viel wie möglich zu veröffentlichen: Die Leitlinien, das Verhandlungsmandat und die Positionspapiere sind alle online abrufbar.

Transparenz setzt London unter Druck

Positiver Nebeneffekt: Mit der Publikation ihrer Positionen setzt Brüssel die Regierung in London unter Druck, vorwärts zu machen. Denn so wie sich die Situation aktuell präsentiert, hat die britische Regierung Mühe, ihren Unterhändlern klare Positionen mit in die Brexit-Verhandlungen zu geben.

So war letzte Woche zwar bekannt geworden, dass die Briten nun doch - wie von der EU gefordert - finanzielle Verpflichtungen auch nach dem Brexit akzeptieren. Doch konnten die Unterhändler Londons in den viertägigen Verhandlungsgesprächen diese Woche nicht benennen, wo sie solche Verpflichtungen sehen.

Ganz anders die EU-Kommission: Wer wissen will, wo Brüssel das Vereinigte Königreich in der finanziellen Pflicht sieht, kann sich das elf-seitige Papier dazu online herunterladen.

Das Unvermögen der britischen Verhandlungsdelegation, klar Position zu beziehen, verleitete böse Zungen zu behaupten, die Briten seien nicht gut vorbereitet.

Mehrere Zeitungen - darunter der britische «Guardian» - untermauerten diesen Eindruck mit einem Foto, aufgenommen am letzten Montag kurz vor Verhandlungsbeginn. Das Bild zeigt Barnier und seine Mitarbeiter am Tisch sitzend - mit dicken Dossiers vor sich. Der Tisch vor dem britischen Brexit-Minister David Davis und seinen Leuten war hingegen leer.

EU behält Deutungshoheit

Noch einen weiteren Vorteil hat die neue Brüsseler Transparenz: Die EU-Kommission behält die Deutungshoheit über die Brexit-Verhandlungen.

Im Vorfeld der Brexit-Abstimmung im letzten Jahr war ihr diese entglitten. Damals äusserte sich Brüssel nicht zum bevorstehenden Volksentscheid, mit dem Argument, es wolle sich nicht in nationale Angelegenheiten einmischen.

Damit überliess die EU-Kommission das Feld aber den Brexit-Gegnern und den nicht gerade zimperlichen britischen Boulevardblättern. Als Folge davon kursierten viele Falschinformationen über die EU und den Brexit auf der Insel.

So behaupteten die Brexit-Befürworter, das Vereinte Königreich zahle der EU wöchentlich 350 Millionen Pfund, die nach dem Brexit direkt in das britische Gesundheitswesen umgeleitet werden könnten. Kaum war die Abstimmung gewonnen, ruderte EU-Skeptiker Nigel Farage zurück und bezeichnete diese Behauptung als Fehler.

Und Brexit-Befürworter Boris Johnson, heute britischer Aussenminister, versprach seinen Landsleuten, auch nach dem EU-Austritt könne man weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt haben.

Barniers Auftritte

Solch falsche Versprechen und Behauptungen bleiben heute nicht mehr unwidersprochen - dafür sorgt EU-Chefunterhändler Barnier. Innerhalb von acht Monaten ist er sechs Mal vor die Brüsseler Medien getreten und hat die Sichtweise der EU-Kommission dargelegt.

Kritikern, die der EU vorwarfen, mit ihren finanziellen Forderungen das Vereinigte Königreich bestrafen zu wollen, entgegnete er: «Es handelt sich weder um eine Bestrafung noch um eine Austritts-Rechnung.» Es handle sich einfach nur um die eingegangenen finanziellen Verpflichtungen Grossbritanniens nach mehr als 40 Jahren EU-Mitgliedschaft.

Bis jetzt scheint die Brüsseler Transparenz-Strategie - mit veröffentlichten Positionspapieren und einem souverän auftretenden Barnier - aufzugehen. Noch sind keine Skandal-Artikel in den Medien erschienen, welche die Position der EU-Kommission gegenüber Grossbritannien geschwächt hätten - im Gegenteil: Geschwächt wirken zurzeit die Briten. Und daran dürften nicht nur die innenpolitischen Querelen schuld sein.

(sda/chb)