Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Angaben der Heeresleitung seit Anfang September mehr als 3000 Quadratkilometer russisch besetzten Gebiets zurückerobert und weiten ihre Offensive vom Grossraum Charkiw im Nordosten des Landes aus.

Geländegewinne habe es vor allem um die zweitgrösste ukrainische Stadt gegeben, wo die Streitkräfte bis zu 50 Kilometer an die russische Grenze herangerückt seien, teilte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, am Sonntag mit. Ausgehend von der Grossstadt komme das ukrainische Militär auch Richtung Süden und Osten voran. Die Vorstöße befeuerten auch die Debatte über weitere westliche Waffenlieferungen an die Ukraine.

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«Von Charkiw aus sind wir nicht nur Richtung Süden und Osten vorgerückt, sondern auch nach Norden», erklärte Saluschnyj auf Telegram. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pries den russischen Rückzug aus der Stadt Isjum gut 120 Kilometer südöstlich von Charkiw als Durchbruch in dem seit sechs Monaten andauernden russischen Angriffskrieg.

Dieser Winter könne weitere schnelle Geländegewinne bringen für die Ukraine, vor allem wenn die Streitkräfte weiterhin mit schweren Waffen versorgt würden. Der Fall von Isjum ist die grösste Niederlage für das russische Militär, seit es aus dem Gebiet um die Hauptstadt Kiew zurückgeschlagen wurde.

Selenskyi: «Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen»

«Ich glaube, dieser Winter ist der Wendepunkt, und er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen», sagte Selenskyj am späten Samstagabend. «Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen», sagte der Präsident mit Blick auf die russischen Streitkräfte.

«Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen.» Offiziell hat die ukrainische Regierung die Wiedereinnahme von Isjum bislang nicht verkündet. Aber Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak veröffentlichte auf Twitter ein Foto von ukrainischen Truppen vor der Stadt und fügte ein Trauben-Emoji hinzu. «Isjum» heisst im Russischen und im Ukrainischen «Rosinen».

Der Militärexperte Oleh Schdanow sagte von Kiew aus, die Gewinne der Ukraine könnten den Weg ebnen in die Region Luhansk, die von Russland seit Anfang Juni gehalten wird. Luhansk, das zusammen mit der Region Donezk den industriell geprägten Donbass der Ukraine bildet, liegt rund 340 Kilometer südöstlich von Charkiw.

Es war von Anfang an das erklärte Ziel Russlands, vor allem dieses Gebiet einzunehmen, das teilweise bereits seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert wird. «Wenn Sie sich die Karte anschauen, ist es logisch anzunehmen, dass sich die Offensive sich Richtung Swatowo, Starobelsk, Sjewjerodonezk und Lyssytschansk entwickelt», sagte Schdanow.

Allerdings meldete das Verteidigungsministerium in Moskau am Sonntagmittag Angriffe der russischen Streitkräfte auf Stellungen der ukrainischen Truppen in der Region Charkiw. Die Angriffe erfolgten durch Luftlandetruppen, Raketen und Artillerie, teilte das Ministerium in sozialen Medien mit.

Weitere schwere Waffen gefordert

Angesichts der Entwicklungen dringt die ukrainische Regierung zunehmend auf die weitere Lieferung schwerer Waffen aus dem Westen. Aussenminister Dmytro Kuleba bekräftigte dies auch nach einem Treffen mit der deutschen Chefdiplomatin Annalena Baerbock am Samstagabend in Kiew.

Die Gegenoffensive zeige, dass die Ukraine Russland besiegen könne, sagte Kuleba bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Baerbock. Je mehr Waffen die Ukraine erhalte, desto schneller werde sein Land gewinnen. Baerbock sicherte der Ukraine weitere militärische Hilfe zu, mit Blick auf die Gegenoffensive schloss sie dabei auch die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart nicht aus.

«So, wie sich die Lage vor Ort verändert, so schauen wir auch immer wieder unsere Unterstützung an und werden weitere Schritte gemeinsam mit unseren Partnern besprechen», sagte Baerbock, die am Samstag zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn Kiew besuchte. «Ich weiss, dass die Zeit drängt. Die nächsten Wochen und Monate werden entscheidend.»

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko bat die deutsche Bundesregierung konkret um die Lieferung von Leopard-Panzern. «Um unsere Soldaten besser zu schützen und auszustatten, braucht die Ukraine gerade jetzt dringend weitere Waffenlieferungen», sagte er zu «Bild». Aus Deutschland seien Leopard-Panzer entscheidend.

Betrieb von AKW Saporischschja eingestellt

Sorge bereitet weiterhin die Lage am Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine. Der Betrieb des von russischen Truppen besetzten AKWs ist nach Angaben des staatlichen Betreibers mittlerweile vollkommen eingestellt worden. Auch der sechste und damit letzte Block der Anlage sei vom Stromnetz genommen worden, teilte Energoatom mit.

Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA erklärte am Sonntagmittag aber, die Stromzufuhr für das Kraftwerk sei wieder hergestellt. Am grössten AKW Europas kommt es immer wieder zu Beschuss, wofür sich Russland und die Ukraine gegenseitig verantwortlich machen.

Baerbock griff in diesem Zusammenhang Russlands Präsident Wladimir Putin scharf an. Putin setze die gesamte Region und auch seine Soldaten der Gefahr eines nuklearen Zwischenfalls aus. «Er macht ein AKW zum Kriegspfand in einem Kriegsgebiet», sagte Baerbock. «Russland muss dieses Spiel mit dem Feuer sofort beenden.»

Zudem müssten eine dauerhafte Präsenz der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA ermöglicht, die russischen Truppen aus dem Gelände abziehen und die Kontrolle des AWKs wieder an die Ukraine übergeben werden.

(Reuters/mth)