Unter Staatschef Wladimir Putins Herrschaft verarmt Russland

Als Putin am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte, wollte Europa von russischem Öl so rasch wie möglich wegkommen. Auch die Schweiz, die zwischen 2016 und 2020 noch insgesamt mehr als eine Viertelmillion Tonnen Erdöl aus Russland importiert hatte, schloss sich den Massnahmen und Sanktionen an. Russlands Haupteinnahmequelle schien bald zu versiegen. Doch heute, knapp acht Monate später, steht das meistsanktionierte Land der Welt besser da als erwartet. Zwar befindet sich Russland in einer tiefen Rezession. Doch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Prognose jüngst nach oben korrigiert. Für 2022 erwartet die UN-Organisation einen Rückgang des Bruttoinlandprodukts von 3,4 Prozent, im nächsten Jahr ein Minus von 2,3 Prozent – noch im Sommer ging der IWF von –6 Prozent und –3,5 Prozent aus. Ähnlich sieht es die Weltbank. Auch die IWF-Schwesterorganisation rechnet dieses Jahr nur mit einem Minus von 4,5 Prozent und einem Minus von 3,6 Prozent im 2023. Eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit für den Paria-Staat. Dank Ressourcenreichtum – und resoluter Eingriffe in den Markt. Diese Länder kauften russisches Öl Europa mag das russische Erdöl verschmähen. Moskau fand andere dankbare Abnehmer für sein schwarzes Gold: China und Indien, aber auch Indonesien, Sri Lanka, Pakistan, Bangladesch und Kuba griffen dank grosszügigen Rabatten von bis zu 35 Dollar pro Fass zu. Die Türkei verdoppelt ihre russischen Ölimporte in diesem Jahr gar. Die Öl-Schnäppchenjäger haben Russland wohl bisher vor dem Schlimmsten bewahrt. Aber auch die EU hat zur Resilienz beigetragen. Denn Öl ist ja nicht die einzige Energiequelle in Russlands Portfolio. Neben Uran und – bis zum Embargo im August – Kohle importierten europäische Länder laut Bloomberg trotz Krieg Rekordmengen an russischem Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG). Frankreich hat zwischen Januar und September 2022 etwa 6 Prozent mehr eingekauft als im gesamten letzten Jahr, Spanien hat in diesem Jahr bereits seinen Rekord für russische LNG-Importe gebrochen und Belgien ist auf demselben Weg. Über Frachtschiffe findet der teure Stoff auch ohne die Pipelines Nord Stream 1 und 2 seinen Weg. Und auch politisch blieb Moskau nicht untätig. Russische Notenbank-Chefin hob den Leitzins massiv an Schon seit der Jahrtausendwende hat Russland seine Abhängigkeiten vom Westen deutlich reduziert. Mit der Krim-Annexion und den darauffolgenden Sanktionen hat es die Bemühungen intensiviert: ein eigenes Zahlungssystem etabliert, das Internet weitgehend isoliert und heimische Agrarprodukte durch Gegensanktionen wettbewerbsfähig gemacht. Entscheidend war laut Expertinnen und Experten aber eine Frau: Elwira Nabiullina, Chefin der russischen Notenbank. Vier Tage nach der Invasion hob sie den Leitzins von 9,5 auf 20 Prozent an, um den Rubel zu stabilisieren. Kaum hatte der Druck nachgelassen, begann sie im April mit einer Senkung in teils überraschend grossen Schritten – zuletzt am 16. September um einen halben Prozentpunkt auf 7,5 Prozent. Zudem schränkte die Regierung die Möglichkeiten, Rubel für Dollars zu verkaufen, massiv ein: Dazu gehört ein allgemeines Verbot internationaler Geldtransfers, eine maximale Bezugslimite von 10’000 Dollar auf Dollarkonten und für Unternehmen der Zwang, 80 Prozent ihrer ausländischen Gewinne in Rubel zu tauschen. Schon im Mai erreichte der russische Rubel dank der strengen Kapitalkontrollen erstmals wieder Vorkriegsniveau. Und während andere Währungen im Vergleich zum starken US-Dollar abschmieren, behauptet sich ausgerechnet der Rubel. Gestützt haben die Konjunktur auch drastische fiskalpolitische Massnahmen. Der Kreml subventionierte unter anderem Firmenkredite, Hypotheken und Schuldrückzahlungen, unterstützte besonders betroffene Unternehmen mit hohen Summen, veranlasste Direktzahlungen an Familien, Schwangere, Beamte, Rentner und Armeeangehörige. Das Resultat laut einer Studie der Universität Yale: Zum ersten Mal seit Jahren ist Russlands Haushalt im Minus. Zur Finanzierung der Massnahmen wurde auch der 170 Milliarden schwere Staatsfonds angezapft. Zuletzt nun drehten auch noch die Saudis für Russland am Öl-Hahn. Vom Entscheid des Ölkartells OPEC+, die Produktion um zwei Millionen Barrel pro Tag zu kürzen, profitiert Russland am meisten. Bei genauem Hinsehen aber ist Russlands Wirtschaft fragil. So sieht es auch der Makroökonom Stefan Legge von der Universität St. Gallen: «Die eigentliche Wirtschaft ist so schwach wie vor dem Krieg und eher noch schwächer.» Das Land profitiere zwar von den sehr hohen Rohstoffpreisen, was den öffentlichen Haushalt stärke und für eine äusserst positive Leistungsbilanz sorge. Dass der Rubel innert eines Jahres offiziell 11 Prozent gegen den US-Dollar aufgewertet hat, runde das Bild ab. «Allerdings ist der Wechselkurs aktuell stark politisch beeinflusst», sagt Legge. Ähnlich verhält es sich mit der vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenquote. «In Zeiten von Inflation, Krieg und Teilmobilisierung ist diese mit Vorsicht zu geniessen.» Legges Fazit: «Ausser Rohstoffexporten läuft sehr wenig. Es gibt kaum Firmen mit einer hohen Marktkapitalisierung – fast alle sind Rohstoffunternehmen.» Entsprechend gebe es auch fast keine russischen Patente, welche in Europa angemeldet würden. Siemens, Ikea, Burger King: Bis Juli hatten sich bereits mehr als 1000 internationale Firmen aus Russland zurückgezogen. Die Unternehmen hatten laut einer Yale-Erhebung rund 40 Prozent des russischen Bruttoinlandproduks ausgemacht – fast alle ausländischen Investitionen der letzten drei Jahrzehnte seien so zunichte gemacht worden. Die Rohstoffe und die starken Markteingriffe halten Russland künstlich am Leben. Die Frage ist: Wie lange kann Moskau das durchhalten? Wann bricht Putins Kriegswirtschaft zusammen? Und was nützen eigentlich Exporte, wenn man nichts mehr importieren kann? Der Industrie fehlen Vorprodukte aus dem Westen. Die lokale Autoproduktion etwa ist praktisch zum Erliegen gekommen. Finanziell nachhaltig ist die russische Interventionspolitik nicht. Die riesigen Devisenreseven, von denen die Hälfte blockiert ist, schwinden in hohem Tempo. Seit Kriegsausbruch sind sie um 100 Milliarden geschrumpft (vgl. Grafik). Der Hunger der Welt auf fossile Energien wird im Rahmen des Klimaschutzes mittel- bis langfristig abnehmen. Und auch Russlands Humankapital schwindet. Denn im eigenen Land zeigt sich die desaströse Kriegs- und Wirtschaftslage schon viel verheerender als in den Prognosen. Die Teilmobilisierung hat die Russinnen und Russen mit der brutalen Realität konfrontiert. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, wie Russen auf der Strasse angehalten und eingezogen werden. Wer nicht als «Kanonenfleisch» (so die wörtliche Übersetzung aus dem Russischen) enden will, flieht. Die Abwanderung von Fachkräften schwächt die Wirtschaft auf Jahre hinaus. Bereits vor der Teilmobilmachung haben eine geschätzte halbe Million gut ausgebildeter Russen und Russinnen das Land verlassen. Auf der politischen Bühne ist Russland isoliert. Unvorstellbar, dass Joe Biden und Putin beim G20-Gipfel im November an einem Tisch sitzen. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde Russland vergangene Woche regelrecht abgewatscht. 143 Länder verurteilten Putins Annexionsansprüche – mehr als erwartet. Hinter Russland stellten sich nur vier weitere Diktaturen: Nordkorea, Syrien, Belarus und Nicaragua. China enthielt sich. Die chinesisch-russische Beziehung scheint einseitig Die «grenzenlose» Zusammenarbeit, die Xi Jinping und Putin noch kurz nach Kriegsbeginn beschworen hatten, hat Risse. Zwar gleichen chinesische Firmen nach dem ersten Kriegs-Schock offenbar freudig einen Teil der fehlenden russischen Importe aus Europa aus – im August stiegen die Exporte von China nach Russland um 26,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr –, Waffen hat Peking entgegen westlicher Befürchtungen jedoch nicht geliefert und Russland auch nicht geholfen, Sanktionen zu umgehen. Xi hilft Putin nur so weit, wie es ihm selbst ökonomisch nützt. Bei einem Treffen in Usbekistan vergangenen Monat ging er sichtbar auf Distanz zum russischen Staatschef. Das alles setzt Putin unter Druck. Seine jüngsten Raketenangriffe auf russische Städte werden als Verzweiflungstat gewertet – laut ukrainischen Statistiken hat er nur noch Raketen für sechs bis sieben weitere Attacken wie am Montag vergangene Woche. Und das ohne einen echten militärischen oder gar ökonomischen Effekt zu erzielen, schrieb Sergej Sumlenny, Leiter des Kiewer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, auf Twitter. Wie weit geht Putin noch? Die russische Armee hat sich als Scheinriese entpuppt. Dem Präsidenten bleiben entsprechend nicht mehr viele Hebel, sagte der Militäranalyst Niklas Masuhr im Interview mit der «Handelszeitung». Der Einsatz von Atomwaffen wird damit zur noch grösseren Gefahr. Die Möglichkeit allein ist ein Balanceakt für den Westen – auch wenn der Einsatz Putin wohl kaum Gewinn bringen dürfte: Er wird sich schon so langfristig wohl nicht im Sattel halten können, wenn er die rote Linie überschreitet, jedoch erst recht nicht. Acht Monate nach Kriegsbeginn kann Putin praktisch alles als Gewinn verkaufen. Jüngst behauptete er: «Wir haben uns nie das Ziel gesetzt, die Ukraine zu zerstören.» Nur zu gewinnen, gibt es für ihn und Russland schon lange nichts mehr. Nicht auf dem Feld – und nicht ökonomisch.

Unter Staatschef Wladimir Putins Herrschaft verarmt Russland

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