Waffenexporte, Sanktionen, Wirtschaftshilfen: Schweiz – die grosse Unbeliebte

Wenn Diplomatinnen und Diplomaten undiplomatisch werden, ist es ernst. So geschehen vergangene Woche, als Scott Miller, US-Botschafter in Bern, die Schweiz für ihre Haltung in Sachen Waffenexporte und Sanktionen in einem Interview kritisierte. Dem Bundesrat warf er mangelnden politischen Willen vor, dem Seco Selbstzufriedenheit – und Seco-Staatssekretärin Helene Budliger Artieda, dass sie die Sanktionen infrage stellt. Miller ist mit seiner Kritik nicht allein. «Der Ami», so heisst es unisono aus Regierungskreisen der G7-Länder, habe schlicht ausgesprochen, was alle denken. Der französische Botschafter und die niederländische Botschafterin in Bern hatten sich kürzlich ähnlich geäussert. Allerdings hat Kritik aus dem Weissen Haus mehr Gewicht als aus dem Elysée-Palast. Das Unverständnis gegenüber der Schweiz ist von Washington bis Berlin gross, die internationale Kritik wächst. «Putins Helferin» wird die Schweiz nun immer öfter genannt. Ein «Spiegel»-Autor warf der Schweiz in einer Kolumne mangelnden Ehrgeiz beim Einfrieren russischer Vermögenswerte vor. Und mit ihrer Blockade für die Munitionsweitergabe schaffte es die Schweiz gar auf die Frontseite der «New York Times». Das sorgt zwangsläufig für Kollateralschäden – im Aussenhandel, in der militärischen Zusammenarbeit und im Verhältnis zu Brüssel. Die westlichen Partner machen im Wesentlichen bei drei Dingen Druck: 1. Die Schweiz blockiert die Munitionsweitergabe Die Situation: Drei Länder haben Anträge an die Schweiz gestellt, in der Schweiz gekaufte Munition an die Ukraine liefern zu dürfen. Deutschland möchte der Ukraine 12’400 Schuss 35-mm-Munition für den Gepard-Flugabwehrpanzer weitergeben, Dänemark Piranha-III-Schützenpanzer und Spanien zwei Flugabwehrkanonen. Doch das Kriegsmaterialgesetz verbietet aktuell die Weitergabe an eine Partei in einem bewaffneten Konflikt. Die Kritik: Lange hatten die westlichen Partner Geduld mit den Besonderheiten der Schweizer Neutralitätspolitik. Aber das Vertrauen in die Schweizer Lösungsfähigkeit schwindet, das Wiederausfuhrverbot wird nicht verstanden, weil die Schweiz nicht zwischen Angreifer und Angegriffenen unterscheidet. Zudem wird kritisiert, dass die Schweiz davon profitiere, dass andere für ihre Sicherheit sorgen – der US-Botschafter beschrieb die Schweiz im Interview als Loch in der Mitte eines sicherheitspolitischen Donuts. Das ist dran: Auch wenn im Parlament noch mehrere Änderungsvorstösse für das Kriegsmaterialgesetz diskutiert werden, dürften sie der Ukraine kaum nützen, weil die Waffenhilfen sie nicht vor dem nächsten Jahr erreichen würden. Dazu kommt: Fast alle Bundesrätinnen und Bundesräte stemmen sich gegen die Wiederausfuhren, Alain Berset irritierte selbst seine eigene Partei mit dem Vorwurf vom «Kriegsrausch» in «gewissen Kreisen». Dabei ist sich die Schweiz ihrer eigenen verletzlichen Rolle durchaus bewusst. Der Bundesrat hat im vergangenen September eine Annäherung an die Nato beschlossen. Das befürwortet laut der ETH-Studie «Sicherheit 2023» erstmals auch eine knappe Mehrheit der Schweizer Bevölkerung. Für das VBS hat der ehemalige Schweizer Botschafter Martin Dahinden die Zukunft der Schweizer Neutralität analysiert. Neutralität, schreibt er im Whitepaper «Neutralität auf dem Prüfstand», sei kein statisches Konstrukt, sondern Mittel zum Zweck statt Selbstzweck. Wolle die Schweiz die eigene Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Integrität wahren, ihre Lebensgrundlagen gegen Bedrohungen und Gefahren schützen sowie einen Beitrag zu Stabilität und Frieden jenseits der Grenzen leisten, dann könne sie sich alte Neutralitätsrezepte nicht leisten. Das Land sei zwangsläufig von globalen Konflikten mit betroffen. Behandle die Schweiz Parteien in bewaffneten Konflikten gleich, schade dies der eigenen Reputation und der eigenen Wirtschaft, weil sie so selbst direkt oder indirekt Ziel von Wirtschaftsstrafen werden könnte. 2. Der politische Wille bei der Sanktionsumsetzung fehlt Die Situation: Die Schweiz hat sich den EU-Sanktionen angeschlossen, das zehnte Sanktionspaket soll bald übernommen werden. Auf Basis des Embargo-Gesetzes sind in der Schweiz 7,5 Milliarden Franken an Finanzvermögen und 15 Liegenschaften gesperrt worden. Die Kritik: Der US-Botschafter spricht im Interview von 50 bis 100 Milliarden Franken, welche die Schweiz zusätzlich blockieren könnte. Er berufe sich dabei auf Zahlen der Schweizerischen Bankiervereinigung, sagte er bei einer Veranstaltung an der Universität Zürich am Montag. Dass der politische Wille bei der Sanktionsumsetzung fehlt, zeigt sich auch daran, dass die Schweiz bislang nicht der Sanktions-Taskforce Repo (Russian Elites, Proxies, and Oligarchs) der G7-Länder plus Australien beigetreten ist. Sie wäre wichtig für den internationalen Austausch, und damit die Schweiz unkompliziert Zugang zu Geheimdienstinformationen erhält – etwa wenn die teilnehmenden Länder neue Briefkastengesellschaften innerhalb Putins Netzwerk aufdecken. «Stattdessen brauchen wir für die Schweiz immer eine extra Lösung», kritisierte US-Botschafter Scott Miller bei einer Veranstaltung an der Universität Zürich am Montag. Das ist dran: Das Problem ist mehrschichtig. Die Schweizerische Bankiervereinigung schätzte das Vermögen russischer Kunden in der Schweiz im März 2022 auf etwa 150 Milliarden Franken. Die Bankiervereinigung macht aber keine Aussage darüber, ob diese Personen und ihre Gelder sanktioniert sind oder nicht. Es ist aber anzunehmen, dass darunter auch versteckte Gelder sanktionierter Personen sind. Dazu könnten weitere Gelder und Vermögenswerte über nicht-russische Netzwerke sanktionierter Personen kommen. Die Schweiz gibt bei der Sanktionsumsetzung ausserdem ein gemischtes Bild ab. Der letzte Länderreport der Financial Action Task Force (FATF) anerkannte Fortschritte der Schweiz bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. In vielen erfassten Kategorien schneidet die Schweiz mit «compliant» oder «largely compliant» gut ab. Bei Sanktionen und der internationalen Zusammenarbeit sei die Schweiz aber nur «partially compliant». Um die Russland-Sanktionen umzusetzen, hat das Seco personell aufgestockt – der Bundesrat hat im Juni 2022 fünf zusätzliche Stellen bis Ende 2024 bewilligt, derzeit arbeiten rund zwölf Personen an der Umsetzung der Sanktionen gegenüber Russland – und arbeitet eng mit anderen betroffenen Ämtern zusammen. Die Besonderheiten des Schweizer Finanzplatzes und des föderalen Systems führen aber dazu, dass ohne den notwendigen politischen Druck weit mehr russische Gelder als in anderen Ländern unentdeckt bleiben könnten. Das Problem sind für einmal nicht die Banken, denn die unterliegen strengen Regularien und gelten gar als «overcompliant». Problematischer sind die unabhängigen Vermögensverwalter, über welche Eigentumsverhältnisse viel einfacher verschleiert werden können. Der Bund überlässt die Umsetzung der Sanktionen grossteils den Kantonen. Seco-Staatssekretärin Helene Budliger Artieda, die Sanktionen persönlich tatsächlich kritisch gegenübersteht, lässt keine Kritik gelten: «Wir glauben, dass wir alles gemacht haben, was in unserer Kompetenz liegt. Wir nehmen konkrete Hinweise aus anderen Ländern gerne entgegen, wenn es solche geben sollte.» Das Seco verweist auf das Embargo-Gesetz, welches ermöglicht, mit ausländischen Behörden zusammenzuarbeiten, wenn dies zum Vollzug des Gesetzes und der Sanktionsverordnung notwendig ist. Das bedeutet, dass der Bundesrat in diesem Rahmen Informationen mit ausländischen Regierungen austauschen kann. Zudem nehme die Schweiz etwa regelmässig an Treffen der europäischen Taskforce «Freeze and Seize» teil. Auch die Entwicklungen der Repo-Taskforce würden aufmerksam verfolgt. Im Nationalrat wurde bereits am 11. Mai 2022 eine entsprechende Motion zur «Beteiligung der Schweiz an der multinationalen Taskforce Repo zur Umsetzung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland» eingereicht. Doch die Motion, zu welcher der Bundesrat im August vergangenen Jahres eine ablehnende Haltung formuliert hat, ist auch fast ein Jahr später noch nicht im Rat behandelt. «Hätte das Seco ein Interesse daran, diesen Vorstoss zu behandeln, hätte man ihn natürlich auch früher traktandieren können», sagt auf Anfrage die grüne Nationalrätin Franziska Ryser, die den Vorstoss eingereicht hat. 3. Die Schweiz hilft der Ukraine auch finanziell zu wenig Die Situation: Die Schweiz brüstet sich mit ihrem humanitären Engagement für die Ukraine. Tatsächlich aber gehört sie zu den Schlusslichtern. Die Kritik: Die Schweizer Ukraine-Hilfe ist viel kleiner, als sie sein könnte. Weder nach absoluten noch nach relativen Zahlen schneidet die Schweiz gut ab. Gemessen an den absoluten Beträgen steht die Schweiz laut Daten vom Kieler Institut für Weltwirtschaft mit umgerechnet 240 Millionen Euro etwa auf Rang 33 von 40 Ländern. Nach Anteil am Bruttoinlandprodukt liegt sie bei der Regierungshilfe selbst mit den Ausgaben für Geflüchtete nur auf Platz 29 aller Geberländer – hinter Belgien, Griechenland und Spanien. Im Schnitt haben die 40 untersuchten Länder bisher Hilfen von 0,36 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) in Aussicht gestellt. Im Falle der Schweiz waren es nur 0,03 Prozent. Das ist dran: Auch ohne Militärhilfen liegt gemessen an der Wirtschaftskraft wohl deutlich mehr drin. Österreich etwa, das ebenfalls keine Militärhilfe leistet, führt die Liste bei der humanitären Hilfe an – die Schweiz liegt nur auf Platz 10. Bundesrat Ignazio Cassis teilt die Kritik nicht. «Die Schweiz macht genug», sagte er in einer Medienkonferenz. Mit dem neuen Hilfspaket – 140 Millionen Soforthilfe für die Ukraine und Moldawien – werde sich die Schweiz im Ranking ausserdem verbessern. Die Daten basieren ausserdem auf Ankündigungen statt auf effektiven Zahlungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gilt die Schweiz bei ihren Zusagen als besonders transparent und erfüllt ihre Versprechen zuverlässig. Das Problem besteht aber auch darin, dass die Ukraine-Hilfe auf wackeligen Beinen steht. Bislang wird alles über das Umwidmen bereits genehmigter Gelder – und damit zu Lasten anderer Regionen und Posten – oder Nachtragskredite gelöst. Weil die Ukraine während des Krieges und darüber hinaus hohe Summen benötigen wird, hat die Regierung bereits 650 Millionen Hilfsgelder für das kommende Haushaltsjahr «reserviert». Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitiker unterschiedlicher Parteien arbeiten aber bereits daran, trotz Sparvorgaben deutlich höhere Summen im Budget zu verankern. Am Dienstag verabschiedete die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates (APK-N) eine Motion, die den Bundesrat beauftragt, dem Parlament ein Unterstützungsprogramm für die Ukraine im Umfang von mindestens fünf Milliarden Franken vorzulegen. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 stellte der Bund für die gesamte öffentliche Entwicklungshilfe rund 3,6 Milliarden Franken zur Verfügung. Diese Kollateralschäden drohen der Schweiz Die Schweizer Haltung befremdet international zunehmend. Bei den westlichen Partnern wächst das Gefühl: Die Schweiz nimmt nur – aber sie gibt nicht. Die Kollateralschäden betreffen unter anderem diese Bereiche: Druck auf die Schweizer Rüstungsindustrie Die westlichen Partner könnten Aufträge anders vergeben, solange hiesige Rüstungsgüter auch nicht indirekt an die Ukraine geliefert werden dürfen. Die deutsche Rheinmetall hat den Ausbau ihrer Produktion in Zürich bereits zurückgestellt. Zwar ist die Schweizer Rüstungsindustrie mit nur 1 Prozent des weltweit insgesamt exportierten Kriegsmaterials vergleichsweise klein, die Produktion lohnt sich aber praktisch nur wegen der Exporte. Ohne die Nachfrage aus dem Ausland gefährdet die Schweiz 14’000 Arbeitsplätze und ihre Fähigkeit, Kriegsmaterial für den eigenen Bedarf zu produzieren. Und damit auch die eigene Sicherheit. Annäherung an die Nato gefährdet Die eigentlich von allen Seiten gewünschten Verstrebungen mit der Nato – etwa durch grenzüberschreitende Ausbildungen und Trainings – könnten ausbleiben, wenn die Schweiz die westlichen Partner weiter vor den Kopf stösst. Das Klima wird rauer – auch fürs Rahmenabkommen Der wachsende Vertrauensverlust in die Schweizer Kooperationswilligkeit wirkt sich auch auf die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel aus. Bei den EU-Ländern ist das Gefühl entstanden, dass die Schweiz es einfach nicht schaffen will, gemeinsame Standards zu erfüllen. Zwar wird die EU der Schweiz die Tür für Verhandlungen grundsätzlich offen halten, allerdings für das kleine Land in der Mitte keine Grundprinzipien aufgeben. Und die Uhr tickt: Im nächsten Jahr sind EU-Wahlen. Will die Schweiz nicht mit einer neuen EU-Kommission von vorne anfangen, muss sie bis im Sommer 2024 die Verhandlungen abschliessen. Dass es nicht beim Status quo bleiben kann, bekommen einzelne Branchen bereits zu spüren. Nach und nach verlieren sie wegen des Auslaufens von Abkommen den ungehinderten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die Schweizer Medtech-Branche etwa ist bereits seit vergangenem Jahr auf «Drittstaat» zurückgestuft und muss darum erhöhte Anforderungen für den Export in die EU erfüllen. Um die Schweiz herum wird es einsam Wer versteht die Schweiz noch? Hört man sich in diesen Tagen um – im Berner Diplomatenviertel, in Washington, in den Institutionen und Denkfabriken –, dann herrscht auf diese Frage vor allem Schweigen. Maximal noch Ungarn, heisst es. Das ist interessant, weil die Schweiz im internationalen Kontext lange immun gegen Kritik zu sein schien. Sie war auch schlicht zu klein und unbedeutend. Mit der Ukraine-Krise hat sich das geändert. Vor allem durch die Blockade bei den Waffenexporten segelt die Schweiz nicht mehr unter dem Radar. Den Druck spüren die Schweizer Diplomaten und Diplomatinnen in Washington wie in den EU-Ländern, und es spürt ihn auch das Seco, wo vor allem Deutschland, Spanien und die Niederlande Sturm laufen. Auch weitere Länder haben offenbar den Export von hierzulande gekauften Rüstungsgütern in die Ukraine geprüft. Mehr Gesuche gingen bislang dennoch nicht beim Seco ein. Aus einem Grund: Auf die Schweiz, mit der man im Alltag gern zusammenarbeitet, sei bei globalen Herausforderungen einfach kein Verlass.