Wahlen in Italien: «Meloni ist nicht verrückt, ihre Anhänger hingegen schon»

In Europa sorgt man sich um Italien. Wir erreichen Sie auf Sizilien. Wie ist die Stimmung knapp drei Wochen vor den Parlamentswahlen im Land selbst? Ein grosser Teil der Italienerinnen und Italiener schert sich nicht darum. 40 Prozent wählen laut Umfragen eh nicht. Aber die Leute beschäftigt die Energiekrise. Die Ängste nehmen mit dem Ende der Touristensaison zu. Italien ist hier wie Deutschland sehr exponiert. Und diese Wahl wird die politischen Verhältnisse erheblich verändern. Sieger dürften die rechtsextremen Fratelli d’Italia werden. Das wird interessant, weil es sich um eine Partei handelt, die noch nie in einer Regierung war und deren Vorsitzende Giorgia Meloni noch nie ein höheres Amt bekleidet hat. Wie schätzen Sie die voraussichtlich künftige Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein? Sie scheint eine ziemlich fähige Frau zu sein, auch wenn sie im Grunde zwei Gesichter hat: Eins zeigt sie dem Establishment – sie tauscht sich auch viel mit Mario Draghi aus, dem bisherigen Regierungschef und Ex-Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Wenn sie aber zu ihren Wählerinnen und Wählern spricht, zeigt sie sich viel weniger moderat. Welche Art der Wirtschaftspolitik erwarten Sie von ihr? Auch wenn sie im Wahlkampf viel über Steuersenkungen spricht, glaube ich, dass sie vorsichtig mit einer Steuerreform sein wird. Sie plant ausserdem, einen parteipolitisch unabhängigen Finanzminister einzusetzen. Ich sehe also unmittelbar keine zusätzliche Gefahr für die italienischen Staatsfinanzen. Und ich glaube auch nicht, dass sie in Bezug auf die Sanktionen gegenüber Russland mit der strikten europäischen Haltung bricht. Lucrezia Reichlin Die gebürtige Römerin Lucrezia Reichlin (*1954) ist Wirtschaftsprofessorin an der London Business School. Sie gilt als eine der führenden Forscherinnen der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik und schreibt regelmässig für den «Corriere della Sera» und das Meinungsportal Project Syndicate und die Ökonomenplattform voxeu.org. Von 2005 bis 2008 war sie zudem Forschungschefin der Europäischen Zentralbank. Mit Politik wie Journalismus kam sie früh in Berührung: Ihr Vater Alfredo politisierte für die Kommunisten, ihre Mutter Luciana Castellina gründete die linke Tageszeitung «il manifesto». Also muss Europa vor Meloni keine Angst haben? Ich würde sie nicht wählen. Aber Meloni selbst ist nicht verrückt, ihre Leute hingegen schon. Und diese Leute werden Positionen in der Regierung und in öffentlichen Unternehmen besetzen. Da habe ich Fragezeichen, weil die eher technokratischen Fachleute typischerweise nicht auf ihrer Seite des politischen Spektrums zu finden sind. Wie will Melonis geplante Koalition mit Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia die Inflation und die Gasknappheit in den Griff bekommen? Dazu haben die drei Parteien unterschiedliche Ansichten und es ist unklar, wie sie das handhaben werden. Meloni hat sich für eine europäische Lösung ausgesprochen und unterstützt im Gegensatz zu Salvini auch die Sanktionen gegenüber Russland. Salvinis Position entspricht aber der vieler Italienerinnen und Italiener und auch der vieler Unternehmen, weil der Handel mit Russland sehr wichtig war. Es wird entscheidend sein, welchen Stimmenanteil genau Meloni bei der Wahl bekommt – und welchen Salvini. Wie wird sich Melonis geplante Koalition mit Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia auf die EU auswirken? Innerhalb Europas ist das vor allem ein schwerer Schlag für das Lager, für das der französische Präsident Emmanuel Macron und die Sozialdemokraten stehn. Die Rechten sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Regierungen stellen sie aber bisher vor allem in Osteuropa. Mit Italien wären sie dann in der drittgrössten Volkswirtschaft der EU an der Macht. Die Gruppe der konservativen Reformisten Europas EKR, die Meloni aktuell im EU-Parlament anführt, wird damit sicher lauter werden. Sie stehen für eine föderale EU und wehren sich gegen eine stärkere europäische Integration. Der Spread zwischen Renditen von italienischen und deutschen Staatsanleihen steigt wieder. In der Euro-Krise galt das als massives Risiko für die Euro-Zone. Wie schätzen Sie die aktuelle Entwicklung ein? Das stimmt, sie steigen. Aber noch nicht in einem beunruhigenden Ausmass. Nach dem Rücktritt von Draghi waren sie höher. Wir sind weit von der Situation wie während der Euro-Krise von 2011 bis 2012 entfernt. Damals waren die Märkte verunsichert, wie Europa mit der Situation umgehen würde. Die Europäische Zentralbank EZB hat mittlerweile mit dem sogenannten Transmission Protection Instrument einen Mechanismus geschaffen, um gegen zu hohe Spreads vorzugehen. Im Kern würde die EZB bei einem zu starken Anstieg des Spreads Staatsanleihen von Italien kaufen, bis sie wieder sinken. Das gibt den Märkten Sicherheit. Doch kann das funktionieren? Solche Käufe würden ja die Geldmenge noch weiter ausweiten. Angesichts einer Inflation von bereits 9,1 Prozent in der Euro-Zone passt das nicht zur Politik der EZB. Das kann funktionieren. Käufe von Staatsanleihen Italiens könnten durch Verkäufe anderer Anleihen kompensiert werden, sodass die gesamte Geldmenge nicht ansteigt. Zudem ist das Instrument nicht bedingungslos. Die EU wird künftig ihre Haushaltsregeln wieder in Kraft setzen (sie wurden vorübergehend wegen der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine ausgesetzt, Anm. d. Red.). Wird die künftig zu erwartende italienische Regierung die Auflagen für den von der EU unterstützten Wiederaufbaufonds einhalten? Es könnte sein, dass Meloni Letzteren möglicherweise doch neu verhandeln will – wegen der Inflation und weil ihr der Green Deal nicht passt. Sie würde sicher gern weg von grünen Investitionen hin zu mehr kurzfristiger Energiesicherheit. Aber ich denke, sie versteht, dass Italien nicht einfach neu verhandeln kann und es eine europäische Sichtweise braucht. Wie würden Sie die wirtschaftlichen Risiken des Regierungswechsels zusammenfassen? Eine Katastrophe erwarte ich nur dann, wenn das Ergebnis der Wahlen keine stabile Regierung zulässt. Ansonsten wird es kaum Folgen für die Kapitalmärkte haben, dass eine italienische Ministerpräsidentin Meloni extrem konservative und rechte Positionen vertreten wird bei Einwanderungsfragen, der inneren Sicherheit oder bei Homosexuellen-Rechten. Die Märkte sind beruhigt, solange sie eine konservative Steuerpolitik verfolgt. Immerhin hat sie bislang versprochen, die Staatsfinanzen nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.