Wegen Inflation Reduction Act: Auch Schweizer Firmen wollen Investitionen hochschrauben

Schon seit Jahren kennen die Schweizer Direktinvestitionen in den USA nur eine Richtung: nach oben. Ende 2020 betrug der Bestand 292,6 Milliarden Franken – mehr als einen Fünftel aller schweizerischen Direktinvestitionen im Ausland, fast doppelt so viel wie jene in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich zusammen. Und 2021 lösten die Vereinigten Staaten erstmals Deutschland als wichtigsten Markt für Schweizer Exporte ab. Nun ist der amerikanische Markt für Schweizer Firmen noch attraktiver geworden. Der Inflation Reduction Act (IRA), inklusive des 369 Milliarden schweren Klimapakets, lockt zukunftsträchtige Industrien mit hohen Subventionen und Steuergutschriften. Vom grossen Geld aus dem Weissen Haus wollen auch Schweizer Firmen profitieren, wie Recherchen der «Handelszeitung» zeigen. Demnach planen mehrere hiesige Unternehmen aufgrund des IRA den Neuaufbau oder Ausbau ihrer Aktivitäten in den USA. Das könnte die Schweizer Wirtschaft erschüttern und schädigen. «Alle werden in den USA investieren», sagt der Chef eines börsenkotierten Schweizer Unternehmens zur «Handelszeitung». Und er malt deswegen ein düsteres Bild. «Die Industrie wird in Europa erodieren.» Denn «America First» gilt auch unter Biden. Der ohnehin grössenmässig attraktivere US-Markt lockt nun mit zusätzlichen Staatsgeldern – solange die Firmen massgeblich in Amerika produzieren. Demgegenüber steht Europa mit seinen hohen Energiepreisen, starken Regulierungen und einer möglichen Rezession im nächsten Jahr. Attraktiver US-Markt – solange die Firmen dort herstellen Martin Naville von der schweizerisch-amerikanischen Handelskammer bestätigt die breiten Expansionspläne der Schweizer Unternehmer: «Zahlreiche unserer Mitglieder wollen investieren.» Mit Ausnahme der Kosten für Fachkräfte und einiger Lieferketten-Schwierigkeiten sei der amerikanische Markt für Schweizer Unternehmen «super». Zudem locken noch Steuergeschenke, sagt ein Firmenchef, ihm sei bei Investitionen der Erlass der halben Steuerbelastung versprochen worden. Die Attraktion liegt längst nicht allein am IRA. Medien und Öffentlichkeit hätten die Attraktivität des US-Marktes in den Trump-Jahren unterschätzt. «Wenn eine Firma einen echten Push machen will, ist ausser in den USA nichts zu holen», sagt Naville. «Die Direktinvestitionen in Europa werden wegen der EU-Probleme sicher nicht steigen. China hat zu viele interne Probleme und Herausforderungen für Schweizer Firmen. Die Exporte nach Indien haben ein negatives Wachstum, Brasilien ist kompliziert, Russland wegen des Kriegs von der Karte verschwunden», zählt er die Probleme anderer möglicher Expansionsgebiete auf. Nur Amerika laufe super. «Bis auf die Kosten für Fachkräfte stehen alle Ampeln auf Grün.» Allerdings auch eine Ampel mit starken Signalen. Die Europäische Kommission kritisiert den Protektionismus. Aus Sicht Brüssels erschüttern die gesetzlichen Änderungen, die grösstenteils zum 1. Januar 2023 in Kraft treten, die industrielle Basis der EU und verstossen gegen die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Bern befürchtet negative Auswirkungen für Schweizer Wirtschaft Auch die Schweiz verfolgt Bidens Pläne kritisch. «Die Schweiz ist im Kontakt mit den US-Behörden, um die Gleichbehandlung ihrer Unternehmen in den USA zu gewährleisten, insbesondere hinsichtlich ihrer wichtigsten Mitbewerber», teilt Seco-Sprecher Fabian Maienfisch auf Anfrage der «Handelszeitung» mit. Und zwar bereits seit den ersten Entwürfen zum im vergangenen Herbst gescheiterten «Build Back Better», das massgeblich in den IRA einfloss. Seither gebe es einen «Dialog auf verschiedenen Ebenen zu den möglichen Auswirkungen der Massnahmen». Der offenbar enge Austausch zwischen Bern und Washington zeigt, wie ernst die aggressive amerikanische Wirtschaftsförderung genommen wird.So funktioniert Bidens «Made in America» Aktuell gilt ein Produkt als «Made in America», wenn 55 Prozent des Wertes seiner Bestandteile in den USA hergestellt wurden. Diese Schwelle soll im Rahmen des IRA nun schrittweise auf 75 Prozent bis 2029 ansteigen. Auch Ex-Präsident Donald Trump hatte mit seinem Slogan «America first» stark auf die Bevorzugung von in den USA hergestellten Produkten und die Stützung heimischer Industrien gesetzt. Während die Schweiz die im IRA verankerten Klima- und Energiemassnahmen im Rahmen der globalen klimapolitischen Anstrengungen als «grundsätzlich positiv» begrüsst und auch Chancen für die heimische Wirtschaft und die Beziehung mit den USA sieht, befürchtet Bern auch negative Auswirkungen für die schweizerische Wirtschaft – besonders in Sachen Medikamentenpreise. Bisher galten die USA als «Pharmaparadies» – hohe Preise, hohe Margen. Die USA und die Schweiz verstärken diese Beziehung und sind im Endspurt zu einem Abkommen, das den gegenseitigen Handel deutlich kosten- und zeiteffizienter machen dürfte. Die Biden-Regierung will die Kosten für Medikamente in den USA deutlich senken. Mit dem IRA darf Medicare, die staatliche Krankenkasse für Senioren, ab Mitte des Jahrzehnts erstmals Preisverhandlungen mit Pharmaunternehmen durchführen. Und bereits ab dem kommenden Jahr müssen Arzneimittelhersteller, deren Preiserhöhungen die Inflation überschreiten, Medicare einen Rabatt gewähren. Auch Unternehmer warnen vor Bidens Wirtschaftskurs «Es gilt überdies, die protektionistischen Elemente des IRA wie auch anderer US-Massnahmen im Blick zu behalten», sagt Seco-Sprecher Maienfisch. Diese zeichneten sich zum Beispiel im Bereich der Elektrofahrzeuge und Batterien ab. Zudem bestehe das Risiko, dass wegen der US-Förderinstrumente für die lokale Produktion ganze Wertschöpfungsketten in die USA verlagert werden könnten. Bern treiben offenbar ähnliche Sorge um wie Brüssel: «Solche Massnahmen müssen im Einklang mit internationalen Regeln ausgestaltet werden, insbesondere dem WTO-Recht.» Bei den vorgesehenen Steuerreformen gelte es, zu verfolgen, wie diese sich in die internationale Steuerordnung und in bilaterale Übereinkommen einordnen.EU hat Angst vor IRA Die Europäische Kommission sieht in fünf Massnahmen im Inflation Reduction Act «eindeutig diskriminierende inländische Inhaltsanforderungen», die aus ihrer Sicht gegen WTO-Regeln verstossen. Die EU möchte zudem die gleichen Vorzugsbedingungen erhalten, die die USA Kanada und Mexiko gewährt haben, wenn es um Elektrofahrzeuge geht. «Wir haben Angst. Wir werden negative Auswirkungen auf Handel und Investitionen in der EU sehen», sagte Xiana Mendéz, Spaniens Staatssekretärin für Handel, der «Financial Times». «Wir befürchten auch, dass der Zugang zum US-Markt für unsere Produkte negativ beeinflusst wird.» Martin Naville sieht Bidens Wirtschaftskurs gelassener. «Wenn die US-Regierung stimuliert, will sie natürlich die amerikanische Produktion stimulieren», sagt der Chef der schweizerisch-amerikanischen Handelskammer. Die Europäer machten das auch, wie man etwa an der Tesla-Fabrik in Deutschland sehe. «Es spielen alle dasselbe Spiel.» Und: Noch haben die EU und die Schweiz offenbar Zeit, zu reagieren. Die neuen Anreize wirkten zwar jetzt auf die strategische Planung, sagt Naville. Aber: «Ein Entscheid dürfte sechs bis acht Monate dauern.» Erst kürzlich trafen sich die wichtigsten europäischen Wirtschaftsführer mit Emmanuel Macron, um ihn vor den Auswirkungen des IRA zu warnen. Bei dem Treffen sassen auch Schweizer mit am Tisch. Der französische Staatspräsident hat drei Tage in Washington eingeplant, um das Thema mit Biden zu besprechen. Auch die Schweiz schaut persönlich nach dem Rechten. Im Dezember reist Seco-Staatssekretärin Helene Budliger Artieda gemeinsam mit Vertretern der Privatwirtschaft an die US-Ostküste. Warnschuss für die heimische Wirtschaftspolitik? Die Wirtschaftsmission hat Gross-Infrastrukturprojekte im Fokus und soll schweizerische Unternehmen hinsichtlich der Chancen aus den US-Investitionsprogrammen unterstützen. In der anschliessenden, jährlich stattfindenden Gemischten Wirtschaftskommission Schweiz-USA sollen protektionistische Elemente der US-Industriepolitik ebenfalls thematisiert und das weitere Vorgehen besprochen werden. Ob es heimischen Politikerinnen und Politikern allerdings gelingt, Bidens Wirtschaftskurs noch umzulenken, ist unklar. Mögliche Änderungen am IRA müssten laut einem Bericht der «Financial Times» zurück in den Kongress – der das Gesetz im Sommer nur mit knapper Mehrheit verabschiedete. Und der US-Präsident selbst sei schliesslich sehr zufrieden mit der Gesetzgebung.

Wegen Inflation Reduction Act: Auch Schweizer Firmen wollen Investitionen hochschrauben

Schweizer Firmen folgen Bidens Lockruf