Die Wirklichkeit verschwimmt vor unseren Augen. Früher galt: Nichts ist nur schwarz, nichts ist nur weiss. Heute stellen wir fest, dass es aber auch kein Grau mehr gibt. Wo im gesellschaftlichen Diskurs früher Toleranz und Kompromiss geherrscht haben, reagiert neu die Polarisierung. Damit ist subjektiv alles schwarz oder weiss. Nur nicht für alle gleich.

Kommt hinzu: Manche wollen, dass wir Schwarz nicht mehr Schwarz nennen und Weiss nicht mehr Weiss. Und ganz fatal: Andere leugnen, wenn Daten schwarz oder weiss sind, und benennen sie andersherum weiss oder schwarz.

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Der Gastautor

Der Ökonom Klaus Wellershoff ist Gründer und Verwaltungsratspräsident von Wellershoff & Partners.

Nein, diese Aussagen sind nicht die Folge eines Sonnenstichs. Das ist der Zustand unseres gesellschaftlichen Dialogs im Jahr 2025. Unsere Sprache löst sich auf, unsere Logik wird verleugnet, unsere Daten werden angezweifelt. Sprache, Logik, Daten sind aber nicht beliebig. Sie sind die Grundlage unserer Gemeinschaft und damit unserer sozialen Existenz.
Spätestens seit dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts wissen wir, dass Sprache unsere Wahrnehmung und damit unsere Weltsicht beeinflusst. Wer die Sprache definiert, hat Macht im gesellschaftlichen Diskurs.

Sprache ist wichtiger geworden als Inhalt, weil Sprache unsere Haltung ausdrückt und Haltung unsere Zugehörigkeit zu unserer sozialen Gruppe definiert. Passt uns eine Nachricht nicht, ignorieren wir sie oder verdrehen sie gar ins Gegenteil. Wer will schon sozial nicht mehr dazugehören?

«Die Wirklichkeit zu beschreiben, wie sie ist, wird gefährlich.»

Bedroht die neue Information unsere Weltsicht nachhaltig, dann canceln wir die Quelle. Jüngst geschehen mit der Chefin des U. S. Bureau of Labour Statistics (BLS). Dieses hatte angesichts neuer Daten die Schätzungen für die Arbeitsmarktentwicklung der letzten Monate korrigieren müssen. Schlussfolgerung? Der US-Arbeitsmarkt läuft seit Amtsantritt von Präsident Donald Trump nicht mehr. Folge? Die Chefin des BLS wurde fristlos entlassen, und die Daten wurden einfach als falsch qualifiziert.

Das Signal ist verheerend. Die Datenbasis des politischen Diskurses wird beliebig. Die Wirklichkeit zu beschreiben, wie sie ist, wird gefährlich.

Nicht nur Daten werden angezweifelt. Auch grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse werden infrage gestellt. So will an der Wall Street kaum noch einer glauben, dass es jemals brauchbare Aussagen der Ökonomie zu den wichtigen volkswirtschaftlichen Zusammenhängen gegeben hat. Dass Zölle den Wohlstand eines Landes mindern, wurde immer wieder nachgewiesen. Dass sie mit etwas Verzögerung zu einer Mischung aus höherer Inflation und tieferen Unternehmensgewinnen führen, ist bekannt.

«Die Wirklichkeit hält sich aber nicht an unsere Sprachverdrehungen.»

Und doch wollen die Finanzmärkte davon nichts mehr wissen. Um der Wirklichkeit nicht ins Auge blicken oder den Regierenden nicht widersprechen zu müssen, werden stattdessen die absurdesten Theorien erfunden. Preiserhöhungen aufgrund von Zöllen seien keine Inflation. Das ist ein Widerspruch in sich. Inflation ist ein Mass der Preiserhöhung. Sprache wird aufgelöst. Schwarz ist nicht mehr schwarz.

Die Wirklichkeit hält sich aber nicht an unsere Sprachverdrehungen. Tatsächlich hat die Kerninflation seit Frühling ihren Rückgang beendet und steigt nun wieder. Kein Grund also, an bewährten Theorien zu zweifeln. Aber halt! Nach Meinung der Rechtspopulisten sind ja die Daten falsch. Wie liess Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf singen? «Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.» Kinderbuchautoren wussten wohl schon immer, wie es geht. Nicht nur in Schweden oder Deutschland.

«Sprachliche und sachliche Realitätsverweigerung gehen Hand in Hand.»

Sprachliche und sachliche Realitätsverweigerung gehen aktuell Hand in Hand. Dagegen müssen wir Bürger uns wehren, denn sonst können wir keinen vernünftigen gesellschaftlichen Diskurs mehr führen. Ob linksautoritäre oder rechtspopulistische Sprachverdrehung tut dabei nichts zur Sache. «Woke» ist vielleicht zu Unrecht zum Schimpfwort geworden. Aber die linksautoritäre Sprachveränderung zur Volkserziehung hat unsere Gesellschaft polarisiert. «Joke» müsste man eigentlich das Gegenstück nennen, das in der Folge rechtspopulistische Sprachauflöser nicht nur in den USA betreiben. Aber auch das Auflösen von Sprache und Logik und das Leugnen von Fakten lösen kein einziges Problem. Im Gegenteil.

Staatlich verordnete Sprachveränderung ist deshalb nicht tolerierbar, weil sie unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten verändern will. Sie ist ein schwerwiegender Angriff auf die Meinungsfreiheit, weil sie uns bevormundet. Ohne gemeinsame Sprache und Akzeptanz von Daten fehlt uns die Grundlage für einen konstruktiven, gesellschaftlichen Dialog. Reale Probleme lassen sich so weder besprechen noch lösen.

Wahrhafte Demokraten lassen sich das nicht gefallen! Wir brauchen weder woke noch Joke! Weder in den USA noch bei uns!