Marcel THOM, Partner Deloitte, Leiter der Versicherungspraxis
Camilla ERNST, Senior Manager Deloitte, Versicherungspraxis

Die globale Versicherungswirtschaft sieht sich neuen Belastungen gegenüber. Wachstumsraten flachen ab und Margen geraten unter Druck. Klimarisiken, geopolitische Spannungen und steigende Schadenaufwände verschärfen die Lage zusätzlich. Gleichzeitig verändern Technologiewandel, Kundenerwartungen und Regulierung die Spielregeln grundlegend. Vor diesem Hintergrund stellt sich für Verwaltungsrat und Geschäftsleitung die zentrale Frage, welche strategischen Prioritäten sie im kommenden Jahr – und darüber hinaus – setzen müssen, um ihr Unternehmen zugleich robust, wandlungsfähig und zukunftsfähig auszurichten.

Margen unter Druck – Geschäftsmodelle im Stresstest

Im weltweiten Sach- und Haftpflichtgeschäft ist in den kommenden Jahren mit geringeren realen Prämienzuwächsen zu rechnen, während Schäden und Kosten weiter steigen. In vielen Märkten dürfte die Schaden-Kosten-Quote wieder in Richtung hundert Prozent tendieren. Auch das Lebensversicherungsgeschäft wächst zwar weiter, verliert aber an Dynamik. Das Wachstum verlagert sich in stärker kapitalmarktorientierte Produkte und rentenähnliche Lösungen.

Gleichzeitig verschärfen strukturelle Entwicklungen den Wettbewerb: Die Konsolidierung im Maklermarkt stärkt die Verhandlungsmacht der Vermittler, grosse Industriekunden bauen eigene Versicherungsstrukturen auf, und alternative Kapitalgeber drängen in Risiko- und Anlageportfolios. Klassische Zeichnungs- und Anlageerträge allein werden künftig kaum ausreichen, um ehrgeizige Renditeziele zu erreichen.

Gefragt sind deshalb neue Ertragsquellen entlang eines Ansatzes des vorausschauenden und vorbeugenden Handelns: datenbasierte Risikodienstleistungen, Präventionsangebote sowie Partnerschaften in Gesundheits-, Mobilitäts- oder Vorsorgeverbünden. Wer hier nur traditionelle Produkte fortschreibt, wird mittelfristig an Relevanz verlieren.

Selbststeuernde Systeme auf Basis künstlicher Intelligenz: vom Versuch zur neuen Betriebslogik

Parallel dazu entsteht mit handlungsfähiger künstlicher Intelligenz eine neue technologische Grundlage, die weit über die klassische Automatisierung hinausgeht. Selbststeuernde Systeme auf Basis künstlicher Intelligenz verstehen ihren Kontext, planen selbstständig, treffen Entscheidungen und setzen diese innerhalb klarer Leitplanken um – vom Kundendialog über die Schadenbearbeitung bis hin zum Anlagewesen oder Personalbereich.

Deloitte beschreibt hierfür eine Leiter der durch künstliche Intelligenz unterstützten Selbststeuerung mit mehreren Entwicklungsstufen: von einfachen Unterstützungsfunktionen über teilautonome Arbeitsabläufe bis hin zu vernetzten, weitgehend selbststeuernden Systemen, die Ende-zu-Ende-Prozesse kontinuierlich verbessern. Heute bewegen sich die meisten Unternehmen auf den unteren Stufen. Bis 2028 ist jedoch mit einer deutlichen Verschiebung zu höheren Graden solcher Selbststeuerung zu rechnen – vorausgesetzt, Technik, Daten, Führungs- und Kontrollstrukturen sowie Organisation entwickeln sich im Gleichschritt.

Für Versicherer bedeutet das: Handlungsfähige künstliche Intelligenz ist kein Zusatzbaustein, sondern die künftige Betriebslogik wichtiger Kernprozesse. Wer solche Systeme frühzeitig integriert, kann Kosten senken, Produkte schneller auf den Markt bringen und die knappen Fachkräfte von Routinetätigkeiten entlasten. Entscheidend ist, diese Entwicklung als Reise zu verstehen – mit klar priorisierten Anwendungsfällen, nachvollziehbarem Nutzen höherer Selbststeuerung und einem belastbaren Rahmen für Risiko- und Qualitätssteuerung.

Der Engpass liegt beim Menschen, nicht bei der Technik

Der Engpass liegt weniger in der Technik als in der Datenqualität, in gewachsenen Altsystemen und in der fehlenden Vorbereitung der Belegschaft auf die Zusammenarbeit mit künstlicher Intelligenz. Zwar investieren viele Organisationen in moderne Daten- und Rechenplattformen, kämpfen aber mit zersplitterten Beständen, unterschiedlichen Schnittstellen und unklaren Regeln für den Umgang mit Daten. Ohne verlässliche Datenbasis bleiben selbststeuernde Systeme ein Hochleistungstriebwerk ohne Treibstoff.

Hinzu kommt der Arbeitsmarkt. Die Branche steht vor einem Generationenwechsel. Gleichzeitig verschärfen sich der Mangel an Fachkräften in Technik und Datenanalyse sowie die Erwartungen jüngerer Mitarbeitender an Sinn, Lernmöglichkeiten und zeitgemässe Arbeitsformen. Handlungsfähige Systeme werden diese Herausforderungen nicht beseitigen, sondern verstärken: Routinetätigkeiten werden verschwinden, während neue Rollen entstehen, beispielsweise Gestaltende der Mensch-Maschine-Zusammenarbeit, Verantwortliche für die Überwachung selbststeuernder Systeme oder Architektinnen und Architekten durchgängiger, von künstlicher Intelligenz unterstützter Prozesse.

Wer hier nicht vorausschauend in Rollenbilder, Weiterbildung und Kultur investiert, riskiert, dass Mitarbeitende künstliche Intelligenz eher als Bedrohung, denn als Entlastung erleben – mit allen Konsequenzen für Akzeptanz, Produktivität und Attraktivität als Arbeitgeber.

Drei Prioritäten für Verwaltungsrat und Geschäftsleitung

Aus Sicht von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung zeichnen sich drei strategische Stossrichtungen ab:

  1. Geschäftsmodell schärfen: Ertragsquellen verbreitern, Honorar- und Dienstleistungserlöse systematisch ausbauen und Kapitalmodelle so ausrichten, dass sie volatile Risiken und alternative Finanzierungsformen angemessen abbilden.
  2. Fahrplan für selbststeuernde Systeme festlegen: Von einzelnen Versuchen mit neuer künstlicher Intelligenz zu einer klaren Gesamtplanung wechseln – mit Zielarchitektur, Priorisierung der wichtigsten Wertströme und Kennzahlen, die den Nutzen höherer Selbststeuerung für Kosten, Geschwindigkeit, Qualität und Vertrauen messbar machen.
  3. Zusammenspiel von Mensch und Technik gestalten: Arbeit neu denken, Fähigkeiten gezielt entwickeln und Führungs- und Kontrollstrukturen aufbauen, die Transparenz, Sicherheit und Verantwortlichkeit in selbststeuernden Systemen gewährleisten.

Weiterführende Informationen finden Sie auch in unseren aktuellen, globalen Studien:
Deloitte: 2026 global insurance outlook (2026 global insurance outlook | Deloitte Insights)
Deloitte: Agentic enterprise 2028 (Agentic enterprise 2028: A blueprint for growth | Deloitte US)