Der ehemalige deutsche Finanzminister Christian Lindner spricht am Finance Forum Zürich über geopolitische und wirtschaftliche Entwicklungen. Er fordert mehr Mut zu Eigenverantwortung und verantwortbarem Risiko. Priorität hat aus seiner Sicht ein integrierter Kapitalmarkt in der Europäischen Union (EU), um Investitionen und Wachstum zu fördern.
Ich würde in diesem Gespräch gerne geopolitische Umbrüche in den Fokus stellen. Darf aber die Frage am Anfang erlaubt sein, wie Sie Ihren eigenen aktuellen Umbruch erleben? Wohin geht Ihre Reise?
Ich war 25 Jahre mit Leidenschaft in öffentlichen Ämtern. Nach der Politik geniesse ich die Freiheiten, über die ich sonst nur gesprochen habe. Meine berufliche Reise führt mich nun zu verschiedenen unternehmerischen Aktivitäten.
Christian Lindner war Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei (FDP) in Deutschland und Bundesminister der Finanzen.
In Ihrer neuen Situation sind Sie nun mehr Beobachter: Wie würden Sie die Wirtschaftskraft Europas beschreiben?
Wir bleiben unter unseren Möglichkeiten. Europa hat an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Technologien wurden anderswo finanziert und marktreif. Wir sind in vielfältigen Abhängigkeiten. Es wuchs die Regulierung schneller als die Produktivität. Übrigens ist die Schweiz hier eine Ausnahme, denn hier hat möglicherweise der starke Schweizer Franken Industrie und Mittelstand angestachelt. Allerdings nehme ich in Brüssel, Paris und Berlin inzwischen eine neue Sprache wahr, der mehr Taten folgen müssen.
Welche geopolitischen Umbrüche und aktuellen Krisen haben die meisten Auswirkungen auf die europäische Wirtschaftskraft? Mit welchen Folgen?
Die Fragmentierung der Weltwirtschaft und die Infragestellung der regelbasierten Weltordnung treffen uns. Zugleich liegt hier eine enorme Chance. Die Unsicherheiten, die von den USA ausgehen, rücken Europa wieder in den Blickpunkt internationalen Kapitals. Marktanteile werden neu verteilt. Das ist ein Gelegenheitsfenster. Noch ist unsere Stärke die Schwäche anderer. Aber das muss nicht so bleiben.
Wie lassen sich die dadurch entstandenen Situationen meistern? Welche sollte man zuerst angehen?
Die EU sollte erstens ein Vorbild im Freihandel werden. Neue Handelsabkommen sollten wir rasch verhandeln und ratifizieren, um unserer Wirtschaft die Diversifizierung zu erleichtern. Dafür werden wir uns aber auch ehrlich machen müssen, denn mustergültig ist die EU nicht. Wir haben viele nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Zweitens sollten wir die Regulierungsdichte reduzieren. Mehr Mut zu Eigenverantwortung und verantwortbarem Risiko. Drittens brauchen wir einen integrierten Kapitalmarkt in der EU, um Zukunft zu finanzieren.
Welche langfristigen Strategien sollten europäische Länder verfolgen, um ihre Wirtschaft widerstandsfähiger gegenüber globalen Krisen zu machen?
Wirtschaftliche Stärke macht unsere geopolitische Stärke aus. Und in unübersichtlichen Zeiten ist es weise, viele strategische Partnerschaften zu unterhalten und Lieferketten zu diversifizieren. In bestimmten Technologiebereichen wünschte ich mir auch europäische Champions. Die kann man freilich nicht bestellen, sondern nur ermöglichen durch die Mobilisierung von privatem Kapital und regulatorische Entfesselung.
Wie wichtig ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen europäischen Ländern, und welche Massnahmen können hier die grösste Wirkung erzielen?
Der Binnenmarkt ist ein Wachstumstreiber und Wohlstandsgarant. Er hat weiteres Potenzial. Für mich hat die schon erwähnte Kapitalmarktunion Priorität.
Welche Rolle spielt dabei die Schweiz?
Für Deutschland ist die Schweiz ein enorm wichtiger Handels- und Wertepartner. In vielerlei Hinsicht ist die Schweiz auch inspirierend. Deshalb ist es gut, wenn wir den bilateralen Weg zwischen Brüssel und Bern konsequent weiterverfolgen. Auch hinsichtlich des Kapitalmarkts ist eine enge Kooperation ratsam. Schliesslich ist die Schweiz traditionell ein starker Finanzplatz.
Wie wichtig ist die weitere Integration der europäischen Finanzmärkte und welche Schritte sind hierfür erforderlich?
Glücklicherweise hat die Europäische Kommission zum Beispiel schon eine Initiative zur Belebung des Verbriefungsmarktes ergriffen. Das war bereits ein Vorhaben, das Deutschland und Frankreich zu meiner aktiven Zeit befördert haben. Zum anderen benötigen wir ein europäisches Insolvenzrecht, um grenzüberschreitendes Geschäft zu erleichtern. Auch die Aufsicht muss koordinierter erfolgen, wenngleich nicht zentralisiert.
Welche Rolle sollten die Zentralbanken spielen, um die wirtschaftliche Stabilität in Europa zu sichern?
Entscheidend ist die Wahrnehmung ihres Mandats zur Währungsstabilität. Ferner geht es um eine möglichst effektive, nicht zu bürokratische Aufsicht. Hier höre ich noch manche Sorge aus der Praxis. Mehr Aufmerksamkeit verdient dagegen der Nicht-Banken-Sektor, in dem sich neue systemische Risiken aufbauen könnten.
Welche Sektoren haben das Potenzial, die europäische Wirtschaft in den kommenden Jahren am stärksten anzukurbeln?
Das entscheidet sich im Wettbewerb. Bei Reissbrettplanungen bin ich skeptisch. Aber wäre ich in einem Investmentkomitee, würde ich auf künstliche Intelligenz, Pharma und Biotechnologie, Infrastruktur, Raumfahrt und Defence schauen.
Und final: Welche Rolle spielt politische Stabilität für die wirtschaftliche Stärke Europas, und wie kann sie gefördert werden?
Berechenbarkeit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für unternehmerische Investitions- und Risikobereitschaft. In unseren bisweilen polarisierten Demokratien ist die Herstellung eines stabilen Konsenses schwerer geworden. Das machen sich autoritäre Rivalen auf der Weltbühne zunutze. Ich bin weit entfernt davon, ein Patentrezept zu haben. Wenn die Politik sich um gesunden Menschenverstand bemüht, sich nicht von lauten Minderheiten treiben lässt, sondern stattdessen die Alltagssorgen der Mehrheit ernst nimmt, ist dies gewiss ein Anfang.