Wissen Sie, was «Squid Game» ist? Falls nicht, haben Sie vermutlich letztes Jahr eine erfolgreiche Digital-Detox-Kur gemacht oder Sie blenden alle Informationen rund um Netflix aus, um entweder nicht von einer Serie abhängig zu werden oder weil Sie noch nicht zu den 221 Millionen Netflix-Abonnentinnen und -Abonnenten gehören.

«Squid Game» ist eine Netflix-Serie. Die erfolgreichste der Unternehmensgeschichte. 130 Millionen Menschen haben sich gemäss Bloomberg die südkoreanische Dramaserie angesehen. Ein Hype. Die Story ist ähnlich wie «Hunger Games», die Serie ist voller Gewalt, konfrontiert die Zuschauerinnen und Zuschauer mit verstörenden Fragen. Und die Serie macht süchtig. «Squid Game» hat einen sogenannten Netflix-Effekt ausgelöst. Der Begriff beschreibt das Phänomen, dass Netflix-Titel und -Serien Trends hervorbringen und das Such- und Kaufverhalten beeinflussen.

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Laut dem Einzelhandelsaggregator Lyst sind die weltweiten Suchanfragen nach Retro-Trainingsanzügen (plus 97 Prozent), weissen Sneakern (plus 145 Prozent) oder weissen nummerierten T-Shirts (plus 35 Prozent) nach der Veröffentlichung der Show sprunghaft angestiegen. Einen ähnlichen Effekt hatten andere Serien wie beispielsweise «The Queen’s Gambit», die eine erhöhte Nachfrage nach Schachbrettern, Schachkursen oder Schach-Games verursachte.

Netflix: Die unterschätzte Konkurrenz

Schon beeindruckend, was eine Serie so alles auslösen kann. Doch was hat das mit E-Commerce zu tun? Auf den ersten Blick nur das: Netflix hat seit Juni letzten Jahres einen Merchandise-Online-Shop basierend auf Shopify. Noch ist das Sortiment mit ein paar wenigen Artikeln für rund ein Dutzend Serien eher bescheiden. Merchandise-Artikel direkt über einen eigenen Kanal zu verkaufen, ist ein logischer Schritt für Netflix: Die Konkurrenz im Streamingmarkt schläft nicht (Amazon Prime Video, Hulu, Apple TV+ oder Disney+), und dadurch können zusätzliche Einnahmen erzielt werden. Ausserdem ist Netflix mit Walmart eine Partnerschaft eingegangen, um noch mehr Reichweite zu generieren, und signalisiert damit grössere Ambitionen für den Retail.

Alles schön und gut, doch das ist nicht wirklich neu: Auch Disney verkauft seit Jahren erfolgreich Merchandise-Produkte über den eigenen Online-Shop. Abgesehen davon ist das Kerngeschäft von Netflix und Disney weiterhin Streaming und nicht Handel, insofern also nicht wirklich als Mitbewerber für (Online-) Händler anzusehen.

Dasselbe Kundenbedürfnis: Unterhaltung – «Substitutionskonkurrenz».

Doch wenn wir genau hinschauen: Netflix, Disney und Co. sind auf den zweiten Blick genauso Konkurrenten für den Handel wie ein Amazon oder Aliexpress. Ihr Geschäftsmodell ist zwar grundsätzlich anders und ihr Fokus liegt nicht auf physischen, sondern digitalen Produkten, jedoch erfüllen sie das gleiche Kundenbedürfnis: Unterhaltung. Der Fachausdruck: Substitutionskonkurrenz.

Der materielle Wohlstand ist so gross wie nie. Entsprechend zeigt sich das in unserem Konsumverhalten. Ungleich zum Wohlstand in Form von Geld haben die Menschen immer weniger von einer anderen Währung: Aufmerksamkeit. Mit zunehmender Vernetzung und Social Media und sinkenden Kosten für Unterhaltung wurde diese zu einer immer knapperen Ressource («Ökonomie der Aufmerksamkeit»).

Die Corona-Pandemie hat diesen Sachverhalt noch verschärft: Sie hat zu einem Wertewandel geführt. Nachhaltiger, bewusster Konsum hat stark an Relevanz gewonnen. Wenn es nicht gerade um Toilettenpapier oder Leuchtmittel geht, ist Shopping eben auch nur eine Form von Unterhaltung. Und wenn Shopping und Konsum in Post-Corona-Zeiten nicht mehr so trendy sind, dann spitzt sich die vorhin beschriebene Substitutionskonkurrenz weiter zu.

Inhalte und Aufmerksamkeit zählen

Was sollten Händler aus diesen Erkenntnissen mitnehmen? Ihr Fokus sollte nicht darauf liegen, Produkte zu verkaufen, sondern wertvolle Inhalte zu erstellen, um damit Aufmerksamkeit zu erzielen – denn ohne Aufmerksamkeit keine Kundinnen und Kunden und kein nachhaltiges Geschäftsmodell.

Um Aufmerksamkeit zu erlangen, müssen Händler Unterhaltung bieten. Einige Händler und Hersteller schaffen das bereits auf diversen Social-Media-Kanälen, sehr wenigen ist es bis jetzt gelungen, diese Unterhaltung auf eigenen Kanälen und vor allem in ihren Online-Shops anzubieten. Ein Vorzeigebeispiel ist Digitec Galaxus mit seinen unterhaltsamen, lehrreichen redaktionellen Beiträgen und der aktiven Community.

Reine Conversion ist nicht das Ziel

Bei anderen grossen Schweizer On-line-Shops dreht sich immer noch alles um die reine Conversion, durchoptimiert, möglichst ohne jegliche Ablenkung. So darf es nicht bleiben. Effizient Shoppen im Sinne von Bedarfsdeckung bleibt weiterhin wichtig, doch Shopping im Sinne von spontan reinschauen, sich berieseln lassen, stöbern, entdecken, verweilen wird zum Erfolgsfaktor. Denn ohne wendet die Nutzerin mit nur einem Klick schnell ihre Aufmerksamkeit einem interessanten Reel auf Instagram, einem Tiktok-Video oder einer neuen Netflix-Serie zu.

 

Alexandra Scherrer, CEO, Mitinhaberin & Senior Digital Business Consultant, Carpathia, Winterthur.