Vor 65 Millionen Jahren löschte ein Massenaussterben 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten aus. Auch die Ära der Dinosaurier ging damals zu Ende. Wahrscheinlich durch den Einschlag eines Asteroiden hatten sich die Umweltbedingungen so drastisch geändert, dass sich die meisten Lebewesen nicht daran anpassen konnten und ausstarben.
«Survival of the Fittest», also das Überleben der am besten angepassten Individuen, zeigt sich auch an der Wall Street oder an der Schweizer Börse. Denn laut der evolutionären Finanzmarktforschung verhalten sich Märkte ähnlich wie Ökosysteme. Auch hier gibt es von Zeit zu Zeit ein «Massenaussterben» in Form von Börsencrashs. Und wie in der Natur werden dabei diejenigen Anleger vom Markt gefegt, die die falsche Überlebensstrategie haben oder sich nicht schnell genug den neuen Bedingungen anpassen können.
Die Biologie als Vorbild
«Der Markt entsteht durch Interaktion der Beteiligten», sagt der Ökonom Thorsten Hens, der als Professor an der Universität Zürich zum Thema Banking und Finance lehrt: «Dafür ist die Biologie ein schönes Vorbild.» Hens ist Experte für die evolutionäre Portfoliotheorie, die das Verhalten der Marktteilnehmer an den Börsen untersucht. Wer sein Geld anlege, müsse sich fragen: «Wo ist meine Nische im Ökosystem, und wie kann ich mich am besten positionieren, um mein Vermögen langfristig zu mehren?», sagt Hens. Im Gegensatz zur klassischen Finanzmarkttheorie gibt es in der Evolutionary Finance keinen Königsweg zum Erfolg an der Börse. «Wir versuchen nicht, die künftigen Kurse vorauszusagen, weil das mit grosser Unsicherheit behaftet ist», erklärt Hens. Stattdessen gehe es darum, sein Verhalten demjenigen der anderen Marktteilnehmer anzupassen.
Investoren lassen sich in der evolutionären Finanzmarktforschung analog zu den Lebewesen einteilen. Je nach Anlagestrategie gehören sie zu unterschiedlichen Lebensformen oder Arten. Die passiven Anleger gleichen beispielsweise den Pflanzen. Sie kaufen Indexfonds wie einen MSCI-World-ETF. Sie bewegen sich nicht, denn sie versuchen nicht, den Markt zu schlagen. Stattdessen kaufen sie Produkte, die den Markt oder ein bestimmtes Segment davon abbilden, so etwa den SMI. Passive Anlagestrategien sind preiswert und erfordern weniger Zeit und Wissen als aktive Strategien. Doch die Resultate sind abhängig vom Verhalten der aktiven Marktteilnehmer.
Rendite auf Kosten anderer
Die aktiven Anleger entsprechen dem Reich der Tiere in der Natur. Damit Einzelne von ihnen den Markt schlagen können, müssen andere schlechter als der Markt performen. Tiere beziehen ihre Energie aus der Zerstörung anderer Lebewesen. Aktive Anleger müssen analog dazu ihre Rendite auf Kosten der Konkurrenten auf dem Markt erzielen. Aktives Management ist teuer, weil es dafür Informationen braucht. «Wer die Auswahl trifft, macht die Unterschiede an der Börse», sagt Hens. «Wenn alle nur auf Indizes setzen würden, gäbe es keinen Grund, weshalb beispielsweise Nvidia höher bewertet ist als General Motors.»
Aktive und passive Anleger brauchen sich gegenseitig. Während die passiven Anleger durch ihre breite Verteilung des Geldes und langfristige Strategie den Markt stabilisieren, beschaffen sich die aktiven Anleger Informationen und sorgen aufgrund dieser Informationen für die Unterschiede bei Preis und Wert.
Beide Strategie sind relevant
Und welche Strategie bringt nun die höheren Renditen? Das lässt sich laut Hens nicht generell sagen. Zwar zeigen Studien, dass passive Anlagestrategien mit ETFs langfristig meist bessere Renditen erzielen als aktiv gemanagte Aktienfonds. Aber das gilt nicht immer. In der Vergangenheit schlug phasenweise die Mehrheit der aktiv gemanagten Fonds den Gesamtmarkt, wie Hens’ Student Elias Bräm in einer Arbeit aufzeigte. «Wenn zu viele Marktteilnehmer auf passive Strategien setzen, lohnt sich eine aktive Strategie», so Hens.
Einer der wichtigsten Begriffe der Evolutionstheorie ist die natürliche Selektion. An der Börse nehmen Gewinne und Verluste diese Funktion ein. Sie bestimmen, welche Strategien überleben und welche aussterben. Die Strategien können aber auch durch Innovation an neue Bedingungen angepasst werden. «Evolution mit der Geschwindigkeit des Gedankens», nennt Hens diese Form der Anpassung.
Doch was passiert, wenn plötzlich eine neue Spezies am Markt erscheint? Thorsten Hens und Florian Rümmelein untersuchten vor einigen Jahren, wie sich die Strategie des nachhaltigen Investierens nach ESG-Kriterien auf die Renditen verschiedener Strategien auswirkt. Interessantes Ergebnis: Value-Investments, wie sie Warren Buffett sechzig Jahre lang erfolgreich praktizierte, werden von Inflows in nachhaltige Anlagen nicht verdrängt. Sie können ihre Rendite sogar steigern. ESG-Investitionen, die im Fahrwasser der Klimaschutzbewegung um Greta Thunberg boomten, erzielten anfangs zwar sehr hohe Renditen. Doch zusätzliche Mittelzuflüsse hatten laut den Berechnungen einen negativen Einfluss auf die Gewinne. Hens sagte deshalb damals voraus, dass ESG-Investitionen künftig schwächer abschneiden würden, was sich seither bestätigte.
Wie in der Natur gilt auch an der Börse: Viele Strategien können nebeneinander existieren und erfolgreich sein. Die Anleger sollten aber öfter das eigene Vorgehen überdenken, statt dem neuesten Hype zu folgen.