Jörg Wuttke über westliche Naivität gegenüber China

China kämpft rigoros gegen das Coronavirus. Die Reisebeschränkungen sind enorm. Oder ist das westliche Denke? Jörg Wuttke: Es ist so und es macht es sehr schwierig, einen vernünftigen Kontakt mit unseren Headoffices in Europa aufrechtzuerhalten. Man kann vieles online erledigen, aber ohne Reisen gehts nicht. Geschäftlich, privat? Beides. Es geht mit der Zeit ans Moralische, viele Leute waren seit zwei Jahren nicht mehr in ihrer Heimat. Ausländerinnen und Ausländer reisen in Scharen ab und es kommen nur noch ganz wenige auf Besuch oder für eine neue Stelle. Das heisst: Jene, die schon abgereist sind, kann man fast nicht ersetzen. Es macht sich eine demoralisierte Stimmung breit. Wir vermuten, dass die Hälfte aller Expats seit 2019 weg ist, weitere werden folgen. Jörg Wuttke ist seit 1997 Geschäftsführer und Generalbevollmächtigter der BASF China; von 1986 bis 1996 arbeitete er für BBC beziehungsweise ABB in Asien und Afrika, unter anderem als Projektmanager in China. Er lebt seit drei Jahrzehnten in China. Seit 2019 ist er Präsident der Europäischen Handelskammer in China, ferner stellvertretender Vorsitzender des CPCIF International Cooperation Committee, also der Vertretung der internationalen Unternehmen im Verband von Chinas Chemieindustrie. Von 2011 bis 2019 leitete Wuttke die China-Taskforce des Business and Industry Advisory Committee der OECD. Jörg Wuttke tritt am diesjährigen Europa Forum Lucerne (24. und 25. November) im KKL auf. Gibt es eine Katerstimmung? Die Stimmung wird schlechter, weil kein Ende zu erkennen ist. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Leute aus der Schweiz oder aus Deutschland wieder nach Amerika reisen können, gleichzeitig wird hier hart durchgegriffen. Treten einzelne Corona-Fälle in einer Stadt auf, wird die ganze Stadt abgeriegelt, und wenn jemand gerade in dieser Stadt war: Pech gehabt. Dann muss sie oder er zwei Wochen in Quarantäne. Reisen in China ist zum Roulette geworden, mit kleinen Kindern ist das ganz schwierig. Wann haben Sie Ihre Familie in Deutschland zuletzt gesehen? Ich habe zwei erwachsene Kinder in Deutschland, die habe ich an Weihnachten 2019 letztmals getroffen. Weil ich hier in China noch drei kleine Kinder habe, kann ich nicht schnell nach Deutschland, weil ich sonst zwei, drei Wochen in Quarantäne müsste. Sie sind Kadermann bei einem deutschen Weltkonzern und Präsident der Europäischen Handelskammer in China. Werden Sie überwacht und abgehört? Garantiert, davon würde ich ausgehen. Damit lernt man umzugehen, ich hab ja auch nichts zu verbergen. Ausländer sind Personae non gratae in China? In Luxemburg leben derzeit mehr Ausländer als in Peking und Schanghai zusammen. Wir sind mittlerweile noch 260’000 Personen. Der Exodus geht weiter, demnächst ist wohl nochmals die Hälfte der Ausländer weg. Wir sind zwar nicht Personae non gratae, aber wir sind nicht mehr so willkommen wie früher. Das zeigt sich auch bei den Steuern: Während Jahrzehnten mussten wir unsere Schulgebühren und Mieten nicht als Zuschuss persönlich versteuern. Ab 1. Januar 2022 ist das anders. Da kommt so einiges zusammen und viele fragen sich: Wollen sie uns überhaupt noch hier haben? Steckt dahinter eine Strategie? Dahinter steckt Hybris. Man glaubt, man kann alles ohne die Ausländer machen. Die Stimmung ist antagonistisch: China gegen den Rest der Welt. Die Stimmung ist: Wir sind gross genug – wer damit nicht zurechtkommt, der soll bitte gehen. Das Abschliessen Chinas – das ist im Grunde die Basis der Reiseregeln – wird laufend verstärkt. Man wird auch vom Internet abgekoppelt, eben hat Yahoo seinen Rückzug aus China erklärt, Sprachschulen machen zu. Da hat man schon den Eindruck, man will möglichst wenig Kontakte mit Ausländern haben. Eine Grundstimmung in der Bevölkerung? China hat eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden, davon haben über 1,3 Milliarden mit Ausländern nichts zu tun. Sie treffen sich nicht mit Ausländern, sie reisen nicht. Und dann gibts eine Oberschicht mit vielleicht 50, 80 Millionen Leuten, die wollen reisen, ihre Kinder im Ausland studieren lassen. Diese Elite wird dieses Abgrenzen kaum mittragen. Aber derzeit ist eine antielitäre Politik im Schwang. Reiche Leute, etwa Jack Ma oder andere, werden kritisiert. Die sollen gefälligst mehr Steuern zahlen. Es macht sich eine Antiestablishment-Haltung breit. Und diese wird aktiv gefördert? Durch die Dominanz in den Medien ist es für die Regierung einfach, ihre Nachrichten durchzubringen. De facto gibts keine Alternative mehr, viele Informationen werden geblockt. Xi Jinping wird als Herrscher inszeniert. Wird er nicht zum Klumpenrisiko? Diese Gefahr gibts immer, das zeigt die Geschichte. Je mächtiger eine Führungskraft ist, desto mehr wird sie abgeschirmt von der Realität und man endet in einer Echokammer. Allerdings sind wir da noch nicht, aber das Risiko steigt. Unter Deng Xiaoping war Öffnung angesagt. Davon sind wir weit entfernt. Es wird uns oft erklärt, China wolle nicht umzingelt werden und man müsse sich gegen eine Allianz unter amerikanischer Führung wehren. Ich aber sage: Wir brauchen China – als Markt, im Kampf gegen den Klimawandel. Es ist schlecht für die Welt, wenn sich China gegen innen wendet. Was tun? Es wird in China zwar viel über Öffnung geredet, über Reformen, aber die Tatsachen zeigen in eine andere Richtung. Und wir sehen auch, dass unser Einfluss sehr beschränkt ist. Wir sollten gleichwohl im Gespräch bleiben und erklären, wo unsere roten Linien sind. China muss begreifen, dass seine Taten Folgen haben. Das Wort Europas gilt nichts? Die Reihenfolge ist so: Amerika, Amerika, Amerika. Wir sind als EU nicht zuoberst auf der Liste, eher Frankreich oder Deutschland. Es gelingt den Chinesen immer wieder, die EU zu spalten, derweilen werden Kanada und Australien als Spielball benutzt. Und die Schweiz? Man muss im Gespräch bleiben. Die Geschäftsbeziehungen sind intensiv und haben sich gut entwickelt. Wir müssen schauen, dass die Ideologie auch in Europa nicht alles überblendet. Es darf sich nicht eine Anti-China-Haltung ausbreiten, die dafür sorgt, dass man sich von China abwendet. China steht in den nächsten Jahren für 20 bis 30 Prozent des globalen Wachstums. Wer sich von China abwendet, macht einen grossen Fehler. Wir müssen aber auch lernen, wie wir gemeinsam mit China umgehen, zum einen im Heimmarkt und dann auf den internationalen Märkten, wo wir auf chinesische Firmen als unsere Konkurrenten treffen. Und da muss man schauen, dass die Verhältnisse fair sind und China im Ausland nicht einfach auf Shopping-Tour geht. Werden westliche Firmen und Universitäten von Zudienern unterwandert? China versucht auf allen Kanälen Einfluss zu nehmen. Es liegt an uns, dies zu erkennen und dagegenzuhalten. Ich persönlich würde das den Chinesen gar nicht gross vorwerfen. Wir müssen einfach die Kraft aufbringen, dagegenzuhalten. Ist der Westen zu naiv? Ja, er ist sehr naiv. Weil wir verlernt haben, unsere Demokratie zu schützen. Die Leute müssen wieder lernen, dass man für die Prinzipien der Demokratie einstehen und kämpfen muss. Sind wir nicht abhängig und damit erpressbar von China? China ist von uns viel abhängiger als wir von ihnen. Die Chinesen verkaufen pro Tag Waren im Wert von 1,1 Milliarden Euro nach Europa, wir dagegen verkaufen nur für 500 Millionen. Vor vier Jahren hat die EU mehr Waren in die Schweiz exportiert als nach China. Das Land ist für uns also ein relativ kleiner Exportmarkt. Das gilt auch bei Hightech: 40 Prozent aller importierten Technologien stammen aus Europa, China selbst exportiert relativ wenig. Und wenn man die Lizenzgebühren vergleicht, dann zeigt sich, dass die Chinesen extrem abhängig sind von Produkten europäischer Firmen. Diesen Eindruck hat man im Westen nicht. Weil die chinesische Propaganda raffiniert ist. China kommuniziert viel besser als der Westen. Wir dagegen erkennen unsere Stärken gar nicht. Ich merke auch bei Besuchen, dass unsere Politiker relativ wenig Selbstvertrauen haben, Themen anzusprechen. Europa ist immerhin der grösste Exportmarkt Chinas. Das muss man bei einem Treffen vielleicht auch mal sagen. Die Gefahr des Decoupling sehen Sie auch? Absolut. Wir laufen Gefahr, am Schluss ein System China zu haben und ein System Rest of the World – bei Standards, bei IT, bei Regulierungen; auch weil China darauf hinarbeitet. Gleichzeitig ist die Globalisierung auch in den USA unter Druck. Dieses Auseinanderdriften zu stoppen, wäre schon ein Wunder. Dass es wieder umdreht, kann ich mir nicht vorstellen. Die Aggressivität nimmt zu. Definitiv, in Amerika, in China, aber auch in Europa. In China gibt es sehr viel junge Leute, die unzufrieden sind. Sie sagen, dass 1 Prozent der Oberschicht 30 Prozent des Wohlstands hält. Da ist die Argumentation fast identisch mit jener in den USA. Die Regierungen greifen zum Populismus, um den Deckel draufzuhalten. Hat der Konflikt um Taiwan das Potenzial für globalen Ärger? Dieses Potenzial hat es. Aber ich glaube, dass die Chinesen genug Rationalität haben, Taiwan nicht anzugreifen. Ein Angriff auf Taiwan wäre katastrophal für den Ost-West-Handel. Richtig, für alle. Dann würde ich mir echte Sorgen machen um die Lieferketten. Sehr viele Halbleiter kommen aus Taiwan. Man hat gesehen, wie der Westen auf die Krise um die Annexion der Krim reagierte, die wirtschaftlich überhaupt keine Rolle spielt. Sollte sich China Taiwan einverleiben, hätte dies sehr gravierende Folgen, über Jahrzehnte. Sie haben einst als Mitarbeiter der ABB begonnen, richtig? Das ist so. Ich habe gar bei der BBC begonnen, war in Mannheim, dann in China. Die prägenden Figuren waren Edwin Somm und Fritz Leutwiler, der frühere SNB-Chef.Mehr zu China: Wie weiter mit China? 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