Sie arbeiten als Professor of Sustainable Innovation and Business Transformation am IMD. Was sind die wesentlichen Forschungsprojekte, die momentan Ihre Aufmerksamkeit haben – und warum?
Die Resonanz auf den von uns entwickelten «Circular Readiness Scan» war enorm. Unternehmen wollen ihre Pain-Points und Hebel erkennen und verstehen, wo sie nachlegen und was sie nutzen können. Daher weiten wir ihn gerade aus. Ein weiteres grosses Forschungsthema sind Circular Ecosystems. Ich bin überzeugt, dass Kreislaufwirtschaft (KLW) kein Single-Company-Game ist, sondern systemisches Denken erfordert. Es geht darum, Industriesilos zu durchbrechen und lieferkettenübergreifend zu denken. Wir erstellen ein Best-Practice-Booklet, um erfolgreiche Ansätze zu teilen, die Wert schaffen. Weitere Themen sind das Neudenken von Organisations- und Industriesektoren wie Lebensmittel, Energie und Mobilität. Und schlussendlich die Frage, ob es eine andere Form von Leadership braucht und wie eine Art «Regenerative Leadership» aussehen könnte.
Julia Binder ist Professorin für Sustainable Innovation and Business Transformation am IMD Lausanne. 2025 wurde sie vom Weltwirtschaftsforum als Young Global Leader ausgezeichnet und 2022 in die Thinkers-50-Radar-Liste aufgenommen. Julia Binder ist Co-Autorin von «The Circular Business Revolution» und Co-Editorin von «Leading the Sustainable Business Transformation».
Was hat Sie persönlich motiviert, sich intensiv mit nachhaltigen Geschäftsmodellen und der KLW zu beschäftigen?
Ich habe klassisch Wirtschaft und Marketing studiert. Nachhaltigkeit war damals auf öko-logische Themen beschränkt, doch ich sah Marketing als wichtigen Baustein, um Nachhaltigkeit relevant zu machen. Meine Masterarbeit befasste sich mit Cradle to Cradle und Konsumenten in der Kreislaufwirtschaft. Ich stellte fest, dass die Konsumenten eher bereit sind, Materialien zurückzugeben bei langlebigen Produkten, nicht jedoch bei Plastikflaschen. Nach meiner Promotion an der TU München zu Sustainable Entrepreneurship habe ich die Initiative «Tech 4 Impact» an der EPFL initiiert, um die Rolle von Technologien bei der Nachhaltigkeit zu stärken. Am IMD konzentrierte ich mich auf Nachhaltigkeit als strategischen Wirtschaftsfaktor, mit besonderem Fokus auf die KLW. Unser Ziel ist, wirtschaftlich tragfähige Circular-Business-Modelle zu entwickeln und umzusetzen.
Warum ist es so wichtig, dass wir in der Schweiz – wie Sie es auch in Ihrem Buch schreiben – den linearen Ansatz des Konsums und der Produktion verlassen?
Die Schweiz verzeichnet eine schnelle Erwärmung und steht vor der Herausforderung, nicht nur Energie zu optimieren, sondern auch die Ressourcennutzung zu überdenken – dies aufgrund planetarer Grenzen wie Biodiversität und Entwaldung. Die Schweiz ist stark von globalen Lieferketten und geopolitischen Veränderungen abhängig, wie die Covid-19-Krise und Engpässe bei wichtigen Rohstoffen zeigten. Daher ist es notwendig, Produktionsprozesse, Lieferketten und Geschäftsmodelle neu zu gestalten, um unabhängiger zu werden. Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit sind sowohl ökologisch als auch ökonomisch unerlässlich für eine zukunftsorientierte Wirtschaft.
Während in anderen Ländern KLW aufgrund von begrenzten Ressourcen an der Tagesordnung ist, sind wir in Europa immer noch eine Wegwerfgesellschaft. Warum bekommen wir es nicht hin?
Oft wird KLW mit Recycling gleichgesetzt, doch Recycling ist nur der letzte Schritt. Das ist wichtig, zu verstehen, denn um wirklich nachhaltig zu sein, müssen wir schon zuvor anders denken: Welche Ressourcen und Chemikalien setzen wir ein? Wie designe ich Produkte so, dass ich die Materialien danach wiederverwenden kann? Wie verlängere ich die Lebensdauer meiner Produkte? Gerade Länder wie Indonesien und Indien, die historisch weniger hatten, sind in der Wertschöpfung aus Abfall oft innovativer. Dennoch: Kein Land oder Unternehmen ist perfekt in der KLW, da diese stark von globalen Abhängigkeiten und Zusammenarbeit abhängt. Wir brauchen regionale und lokale Cluster, um die Wertschöpfung zu optimieren und unabhängiger zu werden.
Wie kann man Unternehmen dazu bringen, KLW zu betreiben? Reicht Überzeugungsarbeit, oder braucht es doch rechtliche und politische Vorgaben?
Wir müssen die KLW aus der Nachhaltigkeitsnische holen und sie als wirtschaftliches Thema betrachten. KLW ist nicht nur ein Umweltthema, sondern angesichts begrenzter Ressourcen ein strategisches Wirtschaftsthema. Anstatt Unternehmen durch Regulierungen zu zwingen, sollten wir Anreize schaffen und Innovationen unterstützen. KLW erfordert Investitionen und ein Umdenken in den Geschäftsmodellen. Es geht darum, weniger riskante und weniger kostenintensive Wege für Unternehmen zu ermöglichen. Bestehende Regulierungen halten Innovationen oft zurück, daher müssen die Rahmenbedingungen angepasst werden, um wichtige Investitionen möglich zu machen.
Haben Sie ein Beispiel aus der Praxis, wie KLW unternehmensübergreifend funktionieren kann?
Ein Beispiel für eine erfolgreiche Umsetzung der KLW ist die Zusammenarbeit zwischen McDonald’s und Neste, einem finnischen Unternehmen, das sich auf erneuerbare Kraftstoffe spezialisiert hat. Anstatt dieses Abfallprodukt einfach zu entsorgen, sammeln immer mehr McDonald’s Filialen das gebrauchte Öl systematisch ein, und Neste upcycelt es zu Biodiesel. Denken wir nun im Sinne von Kooperation und Skalierung weiter, wäre es ja sinnvoll, auch das gebrauchte Öl von anderen Fastfoodketten zu sammeln. Dies führt zu sogenannten Economies of Scale, bei denen durch grössere Mengen die Wirtschaftlichkeit und Rentabilität des Recyclingprozesses verbessert wird.
Es braucht also ein bisschen Kreativität …
Genau. Häufig stoppt die Innovationsfähigkeit, wenn Unternehmen glauben, dass Materialien nach der ersten Nutzung keinen Wert mehr haben. Stattdessen sollten Unternehmen über Closed-Loop-Ansätze hinausgehen und fragen: Wer, wenn nicht wir, könnte diese Produkte oder Ressourcen sinnvoll nutzen? Es geht dabei nicht nur um Recycling, sondern auch um Abfallvermeidung, Reduktion, Wiederverwendung oder Reparatur. Und die Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbern ist wichtig für gemeinsame Herausforderungen wie Abfallmanagement und Reverse Logistics. Unternehmen sind gut darin, Produkte von A nach B zu transportieren, aber schlecht darin, sie von B zurück nach A zu bringen. Der Aufbau von Reverse-Logistics-Systemen erfordert die Zusammenarbeit vieler Industrien. Auf der anderen Seite eröffnet die Zusammenarbeit bei Abfallmanagement und Rückführung erhebliche Marktmöglichkeiten und fördert nachhaltige Geschäftspraktiken.
KLW in das eigene Unternehmen zu integrieren, verändert in aller Regel eben auch das eigene Geschäftsmodell. Das schreckt ab.
Innovation ist per Definition riskant, da sie stets eine Wette auf die Zukunft beinhaltet. Nachhaltigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt riskanter, aber oft mit grösserer Unsicherheit verbunden, weil es sich dabei häufig um völlig neue Märkte handelt. Vielfach wird Nachhaltigkeit als Kostenpunkt gesehen, während andere Bereiche wie KI als Investitionen betrachtet werden, was das Mindset erheblich beeinflusst. Nachhaltigkeitsinitiativen bleiben oft klein und haben nicht die nötigen Ressourcen oder Skalierungsstrategien, um wirkliche Veränderungen zu bewirken.
Was wäre der bessere Ansatz?
Es ist wichtig, dass Nachhaltigkeit und KLW als wirtschaftliche Themen und nicht nur als Umweltthemen erkannt werden. Historisch wurden Nachhaltigkeitsmassnahmen oft als zusätzliche Kostenpunkte betrachtet, weil sie nicht im Kerngeschäft integriert waren. Um wirklich Fortschritte zu machen, müssen Unternehmen das wirtschaftliche Potenzial erkennen: Kostenersparnis, Diversifikation, Risikominderung in Lieferketten, neue Wertschöpfungsketten und Marktchancen. KLW muss als strategisches Wirtschaftsthema wahrgenommen werden – und das wird es auch zunehmend.
Auch in der Schweiz setzt sich ja immer mehr das Konzept des Produkt-as-a-Service durch, gelebte KLW quasi.
Der Übergang zu Produkt-as-a-Service-Modellen bietet erhebliche Vorteile. Der Fokus verschiebt sich von Besitz zu Zugang – und damit wird eine lange Produktlebensdauer sinnvoll. Heute fehlt oft der Anreiz, langlebige Produkte zu entwickeln, da Unternehmen am Verkauf neuer Produkte verdienen. Mit Servitization entsteht dagegen ein Anreiz, die besten und energieeffizientesten Produkte zu entwickeln, da das Unternehmen für den Betrieb verantwortlich ist. Zudem verbessert Servitization das Design und die Rückgewinnung am Lebensende eines Produkts. Mit diesem Modell wissen Unternehmen, wann sie Ressourcen zurückbekommen, und können die Produkte entsprechend designen. Dies gibt Planungssicherheit und macht Investitionen in Rückgewinnung sinnvoll, da die Materialien garantiert zurückkommen.
Wie sehen Sie grundsätzlich die zukünftige Entwicklung in Bezug auf Nachhaltigkeit und KLW? Welche Trends sind besonders vielversprechend?
Die KLW bietet derzeit eine enorme Chance, da sie noch nicht so emotional politisiert ist wie andere Nachhaltigkeitsthemen. Unternehmen, insbesondere im Maschinenbau, beginnen erst, diese Konzepte strategisch zu nutzen. Der geopolitische Druck verstärkt diesen Wandel, da die traditionellen Lieferketten unter Druck sind und Resilienz wichtiger wird denn je. Wir stehen am Anfang einer neuen Phase, in der KLW nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen, sondern auch aus wirtschaftlicher Notwendigkeit attraktiv wird. Die Unternehmen erkennen, dass kurzfristige Kostenersparnis nicht mehr das einzige Kriterium sein kann, da Sicherheit und Planbarkeit von Ressourcen langfristig entscheidend sind.
Und wer ist verantwortlich?
Verantwortung tragen alle: Innerhalb des Unternehmens muss jede Funktion zur Umsetzung beitragen – vom Design über die Forschung und Entwicklung bis hin zu Marketing und Finanzen. Gleichzeitig gilt es, auch privates Konsumverhalten nachhaltiger zu gestalten, mit Schwerpunkt auf Wiederverwendung und weniger Abfall. Unternehmen haben hier die besondere Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die nachhaltigen Konsum begünstigen, statt die Verantwortung zwischen Regulierungsbehörden und Verbrauchern hin- und herzuschieben.