Tag 1: Brücken schlagen in Brüssel

Das Ankommen in Brüssel fällt leicht, wenn man etwas Durst mitbringt. Schliesslich ist das belgische Bier ein Unesco-Weltkulturerbe. Auch darum haben Lucerne Dialogue und Regio Basiliensis das «Brussels Beer Project» für den Auftakt einer dreitägigen Wirtschaftsreise in die europäische Hauptstadt ausgewählt: In der hippen Brauerei nah am Kanal ist die Geschmacksauswahl gross; alle zwei Monate wird ein neues Bier gebraut – zum Beispiel aus altem Brot.

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«Willkommen in Brüssel», begrüsste Gastgeberin Kathrin Amacker, Präsidentin von Regio Basiliensis, gemeinsam mit ihrem Amtskollegen Marcel Stalder von Lucerne Dialogue die knapp dreissig Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Anfang September. Das Ziel: die europäische Hauptstadt kennenlernen – und aktiv die Brücken von der Schweiz zur EU schlagen. «Das EU-Thema ist und bleibt wichtig. Und wir können und wollen aus der Schweiz heraus einen Beitrag zur Stärke Europas leisten», betonte Stalder, der seit vier Jahren die kürzlich von Europa Forum in Lucerne Dialogue umbenannte Dialogplattform leitet.

Wie kompliziert, wie unübersichtlich dieses Europa ist: Das wissen die Korrespondenten und Korrespondentinnen, die sich täglich durch den EU-Dschungel schlagen. Um die aktuellen Themen richtig zu verstehen, sind sie auf fachkundige «Übersetzer» angewiesen – die vielen Diplomatinnen und Diplomaten etwa. «Ich trinke sehr viel Kaffee mit Botschaftsmitarbeitenden», sagte Barbara Stäbler, EU-Korrespondentin für Keystone-SDA-ATS. Gemeinsam mit zwei Kollegen von SRF und «Politico» gab sie am ersten Abend einen Einblick in ihre Arbeit, bevor es mit dem Abendessen zum gemütlichen Teil überging.

 

Tag 2: Die Macht der Macht

Am nächsten Morgen ging es in neuen Höhen weiter: Im 26. Stock des Designhotels «The Hotel» stimmte die Politologin Sophie Pornschlegel die Teilnehmenden mit ihren Thesen zu Macht und Geopolitik auf den Tag ein, der auch ein Treffen mit dem fürs Schweiz-Dossier verantwortlichen EU-Vizekommissionspräsidenten Maroš Šefčovič sowie mit der Schweizer Botschafterin beinhaltete. Pornschlegel forderte, unser Verständnis von Macht angesichts der geopolitischen Herausforderungen zu ändern. Dies betreffe nicht nur Fragen wie jene nach der Kontrolle von ausländischen Investoren bei kritischen Infrastrukturprojekten, sondern auch den Umgang der europäischen Gemeinschaft mit ihren eigenen Mitgliedern, wie etwa dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban: «Kompromisse mit ihm werden in Brüssel immer als Demokratie verkauft. Aber Kompromisse mit jemandem, der nicht die gleichen Werte vertritt, sprechen nicht für ein nachhaltiges demokratisches Machtverständnis.» Die Interessen von Minderheiten würden gegenüber jenen von Partnern – etwa bei der Sicherheitspolitik – oft unverhältnismässig berücksichtigt.

Die EU besitze gleichzeitig viel Macht, so Pornschlegel. Diese übe sie auf drei Arten aus:

  • Über den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital im gesamten Gebiet der EU, der sie zum grössten Binnenmarkt der Welt macht.
  • Über Regulierungen, wie etwa den kürzlich verabschiedeten AI Act, mit dem die europäische Gemeinschaft künstliche Intelligenz regulieren will.
  • Als Handelsmacht hat die EU unter anderem Freihandelsabkommen mit Japan und dem südamerikanischen Handelsblock (Mercosur) abgeschlossen.

 

Als grösstes Problem der EU konstatierte Pornschlegel den Konflikt darüber, dass die nationalen Regierungen nicht in Konkurrenz zu EU-Institutionen stehen wollen würden. Das zeige exemplarisch die Covid-19-Pandemie: Den Erfolg für die Bekämpfung und die Impfkampagne hätten alle Hauptstädte jeweils für sich verbuchen wollen. Gleichzeitig müssten manche Entscheidungen auf EU-Ebene getroffen werden, weil sie national nicht mehrheitsfähig seien – dies zeige sich besonders bei der Klimapolitik.
Daran knüpfte die zweite Speakerin an dem Morgen nahtlos an: Olivia Lazard von der Denkfabrik Carnegie Europe diskutierte mit den Teilnehmenden über die Geopolitik des Klimas. Das 1,5-Grad-Ziel, sagte sie, sei eben kein politisches Ziel, sondern eine biologische Grenze. Anhand von Daten zeigte sie auf, wie verletzlich die EU angesichts der schleppenden Transition hin zu erneuerbaren Energien tatsächlich ist. Der europäischen Gemeinschaft fehlten nicht nur die nötigen Rohmaterialien wie Lithium, sondern auch Produktionsstätten. China habe hingegen früh investiert – sowohl in Partnerschaften mit Entwicklungsländern, die über entsprechende Vorkommen verfügen, als auch in eigene Kapazitäten zur Weiterverarbeitung. Lazards Fazit: «Wenn die EU eine geopolitische Kraft sein will, kann sie dies nicht nur durch Regulierungen schaffen. Wir müssen dekarbonisieren und dafür komplexe Beziehungen aufbauen.»

Nach einem sonnigen Zmittag in der Brüsseler Altstadt stand dann das Highlight der Reise an: das exklusive Treffen mit EU-Vizekommissionspräsident Šefčovič. Der slowakische Diplomat und Politiker nahm sich eine Stunde Zeit und sprach kurz vor Beginn der nächsten Sondierungsgespräche zum Rahmenabkommen zwischen Brüssel und Bern Klartext: Brüssel gehe davon aus, dass der Bundesrat ein offizielles Mandat für die Verhandlungen mit der EU erteile.

Der Zeitrahmen sei eng. Bereits jetzt werde der Zugang der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt immer schlechter. Und weil im kommenden Juni die EU-Wahlen anstehen, müssten die Verhandlungen laut Šefčovič vorher abgeschlossen werden. Sonst habe die Europäische Union erst nach der Neusortierung der Brüsseler Politik Zeit für die Schweiz – er rechne dann mit 2027. Nach den erfolglosen Verhandlungsrunden in der jüngsten Vergangenheit sei die Geduld der EU aber auch erschöpft: «Nach einem Jahrzehnt Verhandlungen wollen wir nicht mehr verhandeln, wenn das Rahmenabkommen erneut scheitern könnte. Denn dann könnte es für immer sein.»

Einen Trick zum Erfolg habe er sich aber auch aus dem Erfolg der Brexit-Verhandlungen gemerkt, die im vergangenen Frühjahr endlich final abgeschlossen wurden. «Dort haben wir ausgemacht, dass wir während der Verhandlungen vor den Medien und der Öffentlichkeit nicht gegeneinander briefen.» Und auch wenn die Schweiz gerade kaum noch Fürsprecherinnen und Fürsprecher in Brüssel habe, sei auch niemand interessiert daran, die Schweiz vollständig auszuschliessen: «Wir wollen wirklich, dass wir das hinbekommen.» Diesen Gesamteindruck bestätigte später auch Botschafterin Rita Adam, Chefin der Schweizer Mission bei der Europäischen Union: «Der Kanon für eine Teilnahme am Binnenmarkt ist sehr festgelegt – sogar noch mehr seit dem Brexit.» Und: «Die Kommission ist sehr hart und klar, was das Level Playing Field ist. Ich glaube nicht, dass man sich noch von irgendwelchen EU-Regeln ‹freikaufen› kann.»

Wie gross das Interesse der Schweiz sei, einen Kompromiss zu finden, zeigt sich auch an Adams Belegschaft: In der grosszügigen Mission direkt an der zentralen Place du Luxembourg neben dem EU-Parlament entstammen mehr als die Hälfte der Diplomatinnen und Diplomaten nicht dem EDA. Die meisten der Berner Departemente haben eigene Vertreterinnen und Vertreter entsandt.

Und auch eine gute Nachricht hatte Adam für die anwesenden Wirtschaftsführenden: «Wir haben mit der EU wirklich Fortschritte erzielt.» Die Eckwerte seien definiert, ein wichtiger Schritt für das Verhandlungsmandat. Und: «Das Dokument ist vertraulich, aber ich kann Ihnen sagen: Es ist substanziell.»

 

Tag 3: Auf Visite bei der Nato

Am Freitag stand unter anderem ein Besuch bei der Nato auf dem Programm. Im Hauptquartier des Verteidigungsbündnisses konnten die Teilnehmenden mit dem Chef der Schweizer Botschaft und der Schweizer Mission bei der Nato, einem militärischen Vertreter der Schweiz bei der Nato sowie einem Nato-Vertreter über den Wendepunkt in der Geo- und Sicherheitspolitik und die Implikationen für die Schweiz diskutieren.

«Der Besuch bei der Nato war für mich von besonderem Interesse, da die Sicherheitspolitik derzeit ja ganz oben auf der Agenda steht», sagte Politikphilosophin Katja Gentinetta. Sie nehme von der Reise mit, dass die Schweiz in Brüssel nur etwas erreichen könne, wenn sie selbst wisse, was sie wolle. «Sowohl vonseiten der EU wie von der Nato hiess es mehrfach: ‹Sagt uns, was Ihr wollt!› Wir müssen konkrete Anliegen haben – und umgekehrt bereit sein, in anderen Bereichen entgegenzukommen.» Dafür sei eine zu starke Konzentration auf die Innenperspektive nicht immer hilfreich.

 

Dieser Artikel erschien am 12. Oktober 2023 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue. Deren Jahresanlass, das Annual Meeting, fand am 22. und 23. November 2023 im KKL statt. Mehr Informationen zum Enabler Circle gibt es hier.