Paris im Dezember. Es ist das Bild einer Familienaufnahme, die unter den zahlreichen Werken der Ausstellung leicht übersehen werden könnte. «Tante Marianne» (1965) zeigt den jungen Gerhard Richter als Säugling, gehalten von seiner jugendlichen Tante. Ein zartes, beinahe idyllisches Porträt, allerdings mit einer furchtbaren Geschichte. Richters Tante Marianne wurde Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms. Sie starb am 16. Februar 1945 mit 27 Jahren in der Heilanstalt Grossschweidnitz.
Zur Person

Seine Gemälde zählen trotz zuletzt sinkender Preise zu den teuersten der lebenden Künstlerinnen und Künstlern.
Bilder, die um die NS-Zeit kreisen, bilden einen bedeutenden Teil von Richters Werk. Gleichzeitig ist «Tante Marianne» nur eines von 275 Werken Richters, die noch bis Anfang März 2026 in 34 Sälen der Pariser Fondation Louis Vuitton zu bewundern sind.
Dieter Schwarz und Nicholas Serota haben diese grossartige Ausstellung zusammengestellt. Sie umfasst Richters Schaffenszeit von 1962 bis heute. Fast sämtliche Hauptwerke sind zu sehen, abgesehen von ortsgebundenen Arbeiten wie der Installation «Schwarz, Rot, Gold» im Berliner Reichstag oder dem Kölner Domfenster.
Sein «Abstraktes Bild» erzielte 46 Millionen Dollar
Verzeihen Sie mir das Pathos, aber hier können wir dem Schöpfer wirklich danken, im doppelten Sinne. Die Werkschau umfasst Ölgemälde, Glas- und Stahlskulpturen, Bleistift- und Tuschzeichnungen, Aquarelle sowie übermalte Fotografien. Zum ersten Mal bietet eine Ausstellung einen umfassenden Blick auf mehr als sechs Jahrzehnte von Gerhard Richters Schaffen – eines Künstlers, dessen grösste Freude immer die Arbeit im Atelier war und dessen Gemälde trotz zuletzt sinkender Preise zu den teuersten überhaupt zählen. Sein «Abstraktes Bild» erzielte 2015 über 46 Millionen Dollar.

«Ema (Akt auf einer Treppe)», 1966, 200 cm × 130 cm, Öl auf Leinwand. Richter porträtiert in dem Werk seine erste Ehefrau.
Die Abschnitte der Ausstellung umfassen jeweils etwa ein Jahrzehnt, sind in chronologischer Reihenfolge präsentiert und zeichnen die Entwicklung einer einzigartigen Bildsprache nach – einer Bildsprache, die gleichermassen von Brüchen wie von Kontinuitäten geprägt ist, von seinen frühen fotobasierten Gemälden bis zu seinen letzten Abstraktionen.
Aussergewöhnliches Spektrum an Gattungen und Techniken
Richter fühlte sich stets sowohl von Bildmotiven als auch von der Sprache der Malerei selbst angezogen, einem Experimentierfeld, dessen Grenzen er kontinuierlich auslotete und das er jeder eindeutigen Kategorisierung entzog. Seine Ausbildung an der Hochschule für bildende Künste in Dresden führte ihn zur Auseinandersetzung mit traditionellen Gattungen wie Stillleben, Porträt, Landschaft und Historienmalerei. Sein Wunsch, diese Gattungen mit einem zeitgenössischen Blick neu zu interpretieren, bildet das Herzstück dieser Ausstellung.

«Venedig (Treppe)», 1985, 51,4 × 71,8 cm, Öl auf Leinwand. Das Bild hängt sonst im Art Institute of Chicago.
Unabhängig vom Sujet malt Richter niemals direkt nach der Natur oder der realen Szene: Jedes Bild ist durch ein vermittelndes Medium gefiltert – durch eine Fotografie oder eine Zeichnung –, aus dem heraus er ein neues, eigenständiges Werk konstruiert. Im Laufe der Zeit hat er ein aussergewöhnliches Spektrum an Gattungen und Techniken innerhalb der Malerei erforscht und verschiedene Methoden entwickelt, Farbe auf die Leinwand aufzutragen – sei es mit Pinsel, Spachtel oder Rakel.
Die Ausstellung vereint viele von Richters bedeutendsten Werken bis zu seiner Entscheidung im Jahr 2017, mit der Malerei auf Leinwand aufzuhören. Seither arbeitet er ausschliesslich auf Papier: Er zeichnet, tuscht und experimentiert mit Ölkreiden. Die grosse Geste mit Rakel und Leinwand hat er hinter sich gelassen, der tägliche Weg ins Atelier ist geblieben.
Einen besseren Überblick über das Werk eines der bedeutendsten Künstler unserer Zeit dürfte man in den nächsten Jahren wohl nicht zu sehen bekommen.
Fondation Louis Vuitton, Paris; Ausstellung bis 2. März 2026. Der Katalog kostet 49,90 Euro.

