Die Resultate der diesjährigen Sammelaktion «The Big Plastic Count» zeigen, dass die Schweiz weltweit zu den zehn Ländern mit dem höchsten Verbrauch an Einwegplastikabfall pro Person gehört. Überrascht Sie das?

Marc Krebs (MK): Eigentlich nicht. Wir beschäftigen uns seit Längerem mit diesen Zahlen, deshalb war uns vorher schon bewusst, dass die Schweiz einen sehr hohen Plastikverbrauch hat.

Wo sehen Sie die Ursachen?

MK: Als Wohlstandsgesellschaft haben wir Mittel, um so viel zu konsumieren. Im Vergleich zu anderen Ländern herrscht bei uns zudem ein regelrechter Verpackungswahn. In tropischen Ländern käme es niemandem in den Sinn, Früchte in Plastik zu verpacken …

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Mit Ihrem Unternehmen wollen Sie Plastikmüll einen Wert geben. Was war der entscheidende Impuls zur Gründung von Tide Ocean?

Thomas Schori (TS): Es gab mehrere Faktoren, unter anderem auch der hohe Business-Ethik-Standard, der mir mit unserem Familienunternehmen Braloba AG, einem Hersteller von Uhrenarmbändern, bereits in die Wiege gelegt wurde. Die Initialzündung kam jedoch durch die Anfrage eines Kunden nach einem Uhrenarmband aus recyceltem Ozeanplastik.

Ihr Recyclingprozess ist komplex, besonders wegen der verschiedenen Kunststoffarten. Welches sind die grössten Herausforderungen in Ihrem Aufbereitungsprozess?

MK: Die Vorsortierung ist das A und O im Recycling: Gut sortiert ergibt gute Produkte, schlecht sortiert schlechte. Damit einher geht auch die Ausbildung der Leute, damit sie die Kunststoffarten unterscheiden können.

TS: Die Sortierung ist ein Thema, das bei vielen anderen Recyclingunternehmen zu wenig Beachtung findet. Sie sammeln und recyceln einfach drauflos und versuchen, es dann zu verkaufen.

Weshalb machen Sie es anders?

TS: Unser Ansatz besteht darin, ein Produkt herzustellen, das vergleichbar ist mit Neuware. Das spiegelt sich im Preis, der gleichzeitig auch den Social Impact und den Marketing-Value einer Marke, die mit unserem Material arbeitet, untermauert.

Bislang hat Tide Ocean zwei Haupt-Hubs, einen in Mexiko und einen in Thailand. Anhand welcher Kriterien wählen Sie Ihre Standorte?

MK: In Südostasien haben wir begonnen, weil das Problem dort riesig ist und wir rasch die richtigen Partner fanden, um unser Netzwerk aufzubauen. Mexiko ist für uns der Eintritt in den amerikanischen Kontinent, mit interessanter Nähe zum US-Markt.

Was sind die Hauptfaktoren, die eine weitere Expansion und die Verarbeitung noch grösserer Mengen an Ozeanplastik ermöglichen oder limitieren?

TS: Je mehr wir wachsen, desto mehr positiven Einfluss können wir ausüben. Und desto mehr Menschen erkennen, dass es gute und schlechte Kunststoffe gibt. Möglichkeiten zum Expandieren gäbe es genügend, doch der Aufbau eines Beziehungsnetzes vor Ort ist zeit- und kostenintensiv. Wir bringen eine Lösung, aber wir brauchen die lokalen Communitys, die auch Interesse daran haben. Zudem wollen wir uns nicht verzetteln. Was wir machen, machen wir richtig.

MK: Die Plastikverschmutzung der Weltmeere aktiv zu bekämpfen ist ja nur ein Aspekt. Es geht auch darum, lokale Gemeinschaften in Entwicklungsländern durch faire Löhne und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu unterstützen, denn echte Nachhaltigkeit bedeutet für uns, dass alle profitieren: die Umwelt, die Sammler, die Hersteller und die Konsumenten.

Ein Schlüsselelement Ihres Geschäftsmodells ist die Rückverfolgbarkeit via Blockchaintechnologie. 

MK: Genau. Wir nutzen diese, um die gesamte Lieferkette transparent zu gestalten. Vom Sammelort des Plastikmülls bis zum Endprodukt kann die Herkunft des Materials nachverfolgt werden.

Wie aufwendig ist die Implementierung und Pflege dieses Systems in der Praxis, vor allem in den Sammelregionen Thailand und Mexiko?

MK: Das ist sehr aufwendig und erfordert Schulungen der Mitarbeitenden. Es ist ein Kostenfaktor, der für uns jedoch von Anfang an wichtig war. Nicht zuletzt auch, weil zukünftige Gesetze solche Transparenz einfordern werden. Wir möchten einen Schritt voraus sein.

Die Gründer

Ihr Modell beinhaltet den Transport von recyceltem Granulat zum Hersteller. Wie adressieren Sie die ökologischen Aspekte dieses Transports im Gesamtkontext Ihrer Nachhaltigkeitsbilanz?

MK: Gemäss Berechnungen von Carbotech, dem Schweizer Spezialisten für Ökobilanzberechnungen, macht der Transport rund die Hälfte unseres Fussabdrucks aus – er ist damit unsere Achillesferse. Aber im Vergleich zu neuem Kunststoff – das haben die Berechnungen, die von Myclimate bestätigt wurden, gezeigt – hat unser recyceltes PET immer noch einen um 79 Prozent kleineren Fussabdruck als neues PET.

TS: Unser CO2-Vorteil gegenüber herkömmlichen Kunststoffherstellern ist beträchtlich. Es ist erschreckend, dass von den über 400 Millionen Tonnen Kunststoff, die jährlich produziert werden, nicht einmal 10 Prozent recycelt werden. Die Kunststoffindustrie zieht Jahr für Jahr Hunderte Milliarden Liter Öl aus der Erde, obwohl der bereits bestehende Kunststoff recycelt und wieder in den Markt eingeführt werden könnte.

Ihr Umwelt-Impact dürfte auch nicht unerheblich sein …

MK: Dieser ist gewaltig, wenn man bedenkt, wie viele Jahrhunderte es dauern würde, bis Kunststoff in der Natur – wenn überhaupt – abgebaut wird und wie viele Tiere daran verenden können. Doch wir wollen keine Profiteure dieser Umweltkatastrophe sein, sondern zeigen, dass es ein Recyclingsystem nach Schweizer Vorbild gibt – und dies eine Einkommensquelle sein kann. Dann ist es für die betroffenen Regionen nicht mehr nur ein Problem, sondern eine Lösung. Wir schaffen sozialen Impact und schonen zugleich die Natur.

Aus Ihrer Sicht als Akteure an vorderster Front: Was sind die fundamentalsten Ursachen für das globale Plastikmüllproblem?

MK: Wir haben auf verschiedenen Ebenen Probleme, die wir angehen müssen: Es fehlt an Wissen, auch an Bereitschaft, etwas zu unternehmen, an Gesetzen und oft auch am Willen, etwas zu ändern. Die Kunststoffproduktion ist enorm – Schätzungen zufolge wird sich diese in den nächsten zwanzig Jahren noch einmal verdoppeln.

Wie bewerten Sie die Rolle und Verantwortung der grossen Kunststoffproduzenten und globalen Konsumgüterkonzerne in der Plastikkrise?

TS: Kunststoff ist nicht per se schlecht. Das Problem ist der fehlende Kreislauf. PET ist ein wunderschönes Beispiel: Das transparente Fläschchen darf aus Plastik sein, denn in der Schweiz werden annähernd 90 Prozent der PET-Flaschen zurückgegeben. Daraus wird dann wieder ein PET-Fläschchen – sie sind kein Einwegprodukt mehr. Es geht darum, wo Plastik sinnvoll eingesetzt wird und wo nicht. Da ist es grundsätzlich die Verantwortung der Industrie und des Detailhandels, den Konsumenten zu führen.

Der Konsument hat also keine Wahl?

MK: Doch, manchmal hat man die: Man kann zum Beispiel das Preisschild direkt auf die Melone kleben, anstatt diese zuerst in ein Plastiksäckli zu packen. Auch kleine Sachen haben eine Wirkung.

Welche globalen oder nationalen politischen und regulatorischen Veränderungen halten Sie für am dringendsten notwendig, um die Plastikflut einzudämmen?

MK: Es braucht verschiedene Massnahmen, damit wir hier weiterkommen. Tide Ocean ist ein Teil der Lösung. Klar liegt die Hauptverantwortung bei der Politik, doch dauert es unglaublich lange, bis Ziele umgesetzt werden. Zudem können Entscheidungen bei einem Regierungswechsel wieder über den Haufen geworfen werden, wie das Beispiel von Donald Trump zeigt, der die von der Biden-Regierung verbotenen Plastikstrohhalme wieder erlaubt hat. 

TS: Ein Pfandsystem für Kunststoff würde helfen, das Problem zu lösen. Pfand bedeutet ja nichts anderes, als dass wir dem Abfall einen Wert geben. Ich bin überzeugt, dass so der grösste Teil an Kunststoff gesammelt würde, auch in Entwicklungsländern. Doch der grösste Hebel liegt definitiv bei der Industrie.

Wo sehen Sie Tide Ocean in zehn Jahren im globalen Kampf gegen die Plastikvermüllung?

MK: Wir haben bewiesen, dass man für Probleme eine Lösung finden und eine Wertschöpfung generieren kann, die von den lokalen Gemeinschaften bis hin zum Konsumenten reicht. Dabei ist absolute Transparenz das Wichtigste. Aber am Ende entscheidet der Markt, ob er bereit ist, solche Produkte zu kaufen.

TS: Wir haben ein riesiges Wachstumspotenzial und wollen in zehn Jahren das bekannteste Label für nachhaltigen Kunststoff sein. Unsere Vision ist, den Leuten zu zeigen, dass sie sehr wohl Kunststoff konsumieren dürfen, aber bewusst. Wenn schon Kunststoff, dann den von Tide Ocean.

Das Unternehmen