In vielen Bereichen gibt es Lieferprobleme. Was ist mit unseren Lieferketten los?

Wolfgang Stölzle: In der Tat erleben wir zurzeit weltweit Abrisse von Lieferketten. Ganz massiv spüren wir das bei den Halbleitern, aber auch in der Bau- und Metallbranche. Auch beim Holz – es gibt Probleme bei sämtlichen Materialien: Türrahmen, Beschläge, Baumaterialien ... Sie kön nen es praktisch in jede Branche sehen. Besonders leidet die metallverarbeitende Industrie. Die Ketten reissen immer mehr ab, das ist leider so.

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Als Folge der Corona-Pandemie?

Es gibt eine Vielzahl von Gründen. Aber es ist eben nicht das Virus, das uns die Probleme bereitet. Der Grund sind die von der Politik zu verantwortenden Corona-Massnahmen: Produktionsbetriebe drosseln wegen strenger Hygienekonzepte, der internationale Fernverkehr wird durch faktische Grenzschliessungen behindert und psychologische Effekte wie politisch geschürte Angst führen zu Hamsterkäufen. Dazu kommt die starke Nachfrage aus China und den USA. Das führt im Gesamtzusammenhang zu Knappheit von vielen Produkten. Fakt ist etwa, dass die E-Klasse von Mercedes-Benz in Sindelfingen seit Tagen nicht mehr produziert werden kann. Fakt ist auch, dass Handwerker nicht arbeiten können, weil die Materialien nicht kommen. Viele Ursachen für abgerissene Lieferketten liegen ganz offensichtlich in den Massnahmen der Corona-Politik begründet.

Ist nicht auch die Havarie im Suezkanal mitverantwortlich für die Probleme?

Das kommt dazu. Es war ja nicht nur ein Schiff, das aufgehalten wurde, sondern es waren rund 200 Schiffe, die warten mussten und jetzt einem Tsunami gleich in die Häfen am Mittelmeer und in der Nordsee einlaufen. Dort reichen die Kapazitäten einfach nicht, um so viele Schiffe gleichzeitig zu löschen.

Wie schwer trifft es die Schweiz?

Auch für die schweizerische Industrie und das Handwerk sind der Anstieg der Preise und die Lieferschwierigkeiten natürlich problematisch. Auf Containerschiffen bekommen Sie mitunter kurzfristig keine Stellplätze mehr, die Schiffe sind über Wochen ausgebucht, es fehlt an Frachtkapazitäten. Die Containerpreise von Asien nach Europa haben sich teilweise versiebenfacht. Für die Schweiz ist auch der reduzierte Flugverkehr ein Problem, weil wir hier bisher fast die gesamte Luftfracht als sogenannte Belly Freight abgewickelt haben, die also Cargo im «Bauch» von Passagierflugzeugen mitgeflogen ist. In der Folge des Corona-Politik-bedingten Einbruchs der Passagierluftfahrt hat auch Luftfracht an Kapazität verloren und ist so viel teurer geworden.

Wie kommen wir zu mehr Resilienz – und was versteht man genau darunter?

Damit ist gemeint, mit Schwankungen und Störungen der Lieferketten besser umgehen zu können, sie also robuster und widerstandsfähiger zu machen. Dies betrifft vor allem Ereignisse, die selten auftreten, aber kritisch für das Funktionieren logistischer Prozesse sind und zu enorm hohen Folgekosten führen können, wenn man sie nicht planen kann. Zu solchen Ereignissen zählen etwa grosse Terroranschläge, der Mauerfall 1989 in Deutschland oder der sogenannte Fran-ken-Schock im Jahr 2015.

Was müssen Unternehmen also tun?

Mehr Resilienz gibt es nicht zum Nulltarif. Das Problem ist, dass die Kosten der Resilienz keine bekannte und abgrenzbare Kostenkategorie sind. Initiativen zur Stärkung der Resilienz sind in aller Munde, aber viele Unternehmen scheuen noch vor konkreten Schritten zurück, weil solche Massnahmen oft mit hohen Investitionen beziehungsweise Desinvestitionen verbunden sind. Strategische Entscheidungen in Unternehmen werden im Lichte der empfundenen Unsicherheit derzeit gerne zurückgestellt. Dies bedeutet, dass Resilienz zwar thematisiert, zurzeit aber kaum umgesetzt wird.

 

Wie weit ist hier die Forschung?

Wir sind am Institut der HSG gerade mitten in der Erschliessung der genannten aktuellen Themen: Wie kann man Resilienz messen, welche Kostenbestandteile gibt es, wo spielt Resilienz für wen welche Rolle und welche Massnahmen bieten sich wo an? Dazu kommt die Forschung zu weichen Signalen: Wenn man es hinbekommt, frühe Signale besser zu deuten und damit kritische Ereignisse verlässlicher zu prognostizieren, kann man sich in der Logistik viel besser darauf einstellen und die Performance auch nach Eintreten des Ereignisses oftmals sicherstellen. Wir müssen daher mehr Intelligenz in die Wirkungszusammenhänge von Lieferketten hineinbringen. Hier ergeben sich grosse neue Forschungsgebiete.

«Fakt ist, dass die E-Klasse von Mercedes in Sindelfingen seit Tagen nicht mehr produziert werden kann.»
 

Stichwort Digitalisierung: Wo stehen wir und was kommt noch?

Die Digitalisierung wurde, teilweise überhöht, als Hype der Logistik propagiert. Inzwischen ist mehr Realitätsbewusstsein eingezogen und auch die Startup-Euphorie hat etwas nachgelassen. Inzwischen sehen wir, dass viele Bereiche der Logistik einen hohen Reifegrad bei der Digitalisierung erreicht haben, etwa in Hochregallagern, bei der Kommissionierung oder bei der Touren optimierung. Dazu kommen vollautoma tisierte Paketzentren und intelligente Auslieferfahrzeuge. Aber unter dem Strich findet der Kern der Logistik immer noch physisch statt. Deshalb spreche ich stets von digitaler Unterstützung oder Digitalisierung in der Logistik, aber nicht von der Digitalisierung «der» Logistik.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo Ihnen die digitale Unterstützung besonders interessant erscheint?

Interessant sind sicherlich die digitalen Logistikplattformen, auf denen sich Akteure mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen tummeln. Neben den altbekannten Anbietern wie Timocom und Transporeon finden sich ehemalige Startups wie Sennder, Instafreight, Cargonexx oder Pickwings in der Schweiz. Obwohl am Logistikmarkt schon sehr bekannt, ist das Sendungsvolumen, das über diese Plattformen abgewickelt wird, noch überschaubar.

Ist das Thema Nachhaltigkeit mittlerweile der grösste Treiber für Veränderungen in der Lieferkette?

In der Logistik tangiert das ja insbesondere den Güterverkehr. Die Verschärfungen der CO₂-Regelungen in Verbindung mit dem Green Deal der EU führen zur Erkenntnis der Verlader, dass sie diese Ziele nur erreichen, wenn ihre Dienstleister auch klimaschonend arbeiten. Mittlerweile sind CO₂-Reduktionsprogramme deshalb zum Ausschreibungskriterium geworden. Aber Nachhaltigkeit hat auch eine soziale Komponente. Denn für Berufsgruppen wie beispielsweise Paketfahrer, Fahrer im internationalen Fernverkehr oder Lagermitarbeitende wäre noch viel zu tun. Schliesslich können überzogene Klimaziele und die damit verbundenen Zusatzkosten den einen oder anderen Logistikdienstleister in die Insolvenz treiben und somit Arbeitsplätze gefährden.

Wenn Sie 1 Million Franken in Logistikunternehmen investieren müssten, welche Unternehmen würdem Sie auswählen?

Ich würde in Startups investieren, die Technologien für intelligente Prognosen mit hoher Treffsicherheit für den Logistikmarkt entwickeln. Denn gerade in diesen Zeiten würden verlässliche Prognosen von seltenen, aber gravierenden Ereignissen einen unglaublich hohen Mehrwert für Entscheidungsträger in der Logistik stiften.

Der Kettenforscher
 
Name: Wolfgang Stölzle 
Funktion: Professor für Logistikmanagement, Universität St. Gallen 
Alter: 58 
Wohnort: Am Rande des Toggenburgs (SG) 
Familie: verheiratet, 2 Kinder aus erster Ehe 
Ausbildung: Studium der Betriebswirtschaftslehre an den Uni versitäten Stuttgart-Hohenheim und Mannheim, Promotion und Habilitation an der Technischen Universität Darmstadt