Vor einigen Tagen veranstaltete der niederländische Künstler Daan Roosegaarde beim World-Minds-Symposium in Zürich ein Live-Experiment: Er bat das Publikum, Vorschläge für eine Illustration in den Saal zu rufen. Aus den vorderen Reihen kam zurück: «Ein Mensch und ein freundliches Alien vor dem Matterhorn.» Roosegarde fragte zurück: «Im Stil welchen Künstlers?» – «Monet!» 

Mit wenigen Sätzen tippte Roosegarde das Thema in das Eingabefeld von Midjourney ein, einer künstlichen Intelligenz für grafische Anwendungen. 20 Sekunden später erschien eine perfekte und detailreiche Interpretation des Themas auf der grossen Leinwand. Hätte man diese Arbeit bei einem menschlichen Illustrator in Auftrag gegeben, würde dieser etwa eine Woche daran zeichnen und schliesslich knapp 3000 Franken in Rechnung stellen. Mit der künstlichen Intelligenz dauerte es 20 Sekunden und kostete nichts. 

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Auch erste Experimente mit GPT-4, der soeben veröffentlichten neuen Version des Bots von Open AI, zeigen überwältigende Fähigkeiten beim Schreiben in menschlicher Sprache. Inhaltliche Fehler schleichen sich zwar immer noch ein, doch sprachlich schlägt die Maschine mit Verve die rhetorischen Fähigkeiten der meisten Menschen. Und auch für die Bekämpfung inhaltlicher Fehler bahnen sich Lösungen an. So scheint inzwischen klar, dass die Bots umso präziser arbeiten, je schmaler das Thema ist, auf das sie trainiert werden und zu dem sie sich äussern sollen. 

Ein Beispiel dafür liefert die Jurisprudenz. In einigen Bundesstaaten der USA übernehmen Jus-Bots testweise die schriftliche Verteidigung in Strafverfahren. Dort gilt es fast schon als fahrlässig, nicht von einem Bot verteidigt zu werden. Warum? Weil das amerikanische Case Law Autoren von Schriftsätzen begünstigt, die jeden potenziell einschlägigen Präzedenzfall zur Hand haben. In dieser Disziplin macht dem Bot niemand etwas vor. Er kennt – sofern ausreichend gefüttert – jede gerichtliche Entscheidung der Vergangenheit und übersieht nichts.
 

Über den Autor

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von World.Minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt regelmässig über Technologie und Innovation, neuerdings auch zweiwöchentlich in der «Handelszeitung».

Wenn aber schon die Verteidigung mit Bots arbeitet, so würde die Staatsanwaltschaft in Rückstand geraten, täte sie es nicht auch. Und was ist mit den Richterinnen und Richtern? Sie werden der Präzision und Detailtiefe von Schriftsätzen aus dem Computer wenig entgegensetzen können, wenn sie sich nicht auch eines Bots bedienen. Auch wenn es heute noch wie Science-Fiction klingt, könnte doch schon bald ein weitgehend von künstlicher Intelligenz geführtes Strafverfahren geübte Praxis werden. Und was im Strafrecht funktioniert, sollte auch im Zivilrecht denkbar sein.

Im US-Bundesstaat Delaware sind die meisten amerikanischen Aktiengesellschaften registriert. Sie bevorzugen den formellen Sitz dort, weil Delaware über die effizientesten und am besten gebildeten Gerichte für Unternehmensrecht verfügt. Auch auf diesem Gebiet herrscht Case Law. Im Vorteil ist, wer den besten Präzedenzfall findet und treffend auslegen kann. So dürften schon bald selbst komplizierte patent- und gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten mit Bots ausgetragen werden – anfangs immer noch von Anwältinnen und Anwälten beaufsichtigt, künftig aber vielleicht nur noch mit deren absegnender Unterschrift.

Was im amerikanischen Gerichtswesen Schule macht, könnte auch bald in Europa und der Schweiz Einzug halten, selbst wenn das Rechtssystem hierzulande ein anderes ist. Künstliche Intelligenz verändert die Welt. Anders als bei der Automatisierung durch Roboter trifft es nicht zuerst die einfachen manuellen Tätigkeiten, sondern die Berufe für Hochgebildete, Intellektuelle.

Wie reagieren? Am besten, indem man die neue Technologie so früh wie möglich in die eigene Wertschöpfung einbaut. Nichts schützt besser vor Disruption als die Disruption in Eigenregie.