UBS-VR-Präsident Marcel Ospel hat im letzten Jahr 18 Mio Fr. verdient. Braucht Herr Ospel eine AHV?

Ueli Mäder: Herr Ospel braucht keine AHV, um zu überleben. Aber er soll seine AHV-Rente bekommen.

Wieso?

Mäder: Weil die AHV eine Sozialversicherung ist, die auf der Solidarität beruht. Dazu gehört, dass sie für alle gilt. Wenn wir an diesem Prinzip rütteln, fällt das letztlich auf jene zurück, die knapp durchmüssen.

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Die AHV hat aber ein finanzielles Problem. Wie wollen Sie dieses lösen?

Mäder: Die AHV selbst hat kein Problem. Wir als Gesellschaft haben eines. Dass die AHV in absehbarer Zeit Schwierigkeiten hat, hängt mit dem Finanzierungsmodus und dem fehlenden politischen Willen zusammen.

Dann ist das Geschrei um fehlende Finanzen übertrieben?

Mäder: In gewissem Masse, ja. Es stilisiert eine Gefahr hoch, was sich kontraproduktiv auswirken kann. Wenn man den Eindruck hat, die reiche Schweiz sei kurz vor dem Kollaps, dann läuft man Gefahr, sich in einer Abwehrhaltung zu verbarrikadieren. Ich wünschte mir in dieser Diskussion mehr Gelassenheit. Ich will die Probleme nicht unter den Tisch wischen. So gibt es Veränderungen in der demografischen Entwicklung. Bleiben wir beim bisherigen Finanzierungsmodus, dann gibt es in absehbarer Zeit Engpässe. Aber wenn wir den Blick öffnen und den gesamtwirtschaftlichen Reichtum betrachten, dann wird mir nicht bange.

Die Diskussion um die AHV-Finanzierung beruht stark auf demografischen Prognosen. Kann man diesen vertrauen?

Mäder: Es gibt Faktoren, wie Immigration, Krankheiten, die kaum berechenbar sind. Die verschiedenen Prognosen liegen aber nicht allzu weit auseinander. Bis 2040 nimmt der Anteil der älteren Personen zu. Doch viel wichtiger ist, dass er danach wieder sinkt. Und das wird oft ausgeblendet. Dann kommen die geburtenschwachen Jahrgänge ins Rentenalter. Heute wird in der öffentlichen Debatte der Anschein erweckt, wie wenn der Anteil der älteren Leute ewig zunehmen würde. Damit werden Ängste geschürt.

In der Wahrnehmung der Gesellschaft wird die Überalterung negativ wahrgenommen. Was ist eigentlich so schlecht daran, dass wir älter werden?

Mäder: Den Begriff Überalterung halte ich für despektierlich. Leider taucht er überall auf. Ich verstehe nicht, wieso die Tatsache, dass mehr Menschen in einer Gesellschaft älter sind, schwierig sein muss. Früher waren viel weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter in die Erwerbstätigkeit eingebunden als heute.

Was ist schlimm daran, dass dieser Anteil wieder etwas sinkt? Das könnte ja heissen, dass es wieder mehr Menschen gibt, die auf einer Bank sitzen, anstatt irre im Zeug herumzuhetzen. Oder in einem Café ein Gespräch führen, anstatt stehend den Kaffee herunterzustürzen. Leute könnten vermehrt öffentliche Aufgaben übernehmen, sie hätten mehr Zeit für Kinder. Ich glaube, es würde unserer Gesellschaft gut tun, wenn wir mehr Menschen hätten, die Zeit und Musse haben.

Kommt die negative Konnotation des Alters daher, dass wir Rentenzahlungen als Verlust betrachten?

Mäder: Das kann sein. Vergessen wird dabei, dass die Renten rentieren. Die Rentenausgaben fliessen über die Konsumausgaben, Mieten etc. zu über 90% zurück in die Wirtschaft. Damit werden auch Arbeitsplätze geschaffen, heute und morgen. Renten sind rentable Ausgaben. Wenn es sie nicht gäbe, müssten sie schnellstens erfunden werden. Die Rentenausgaben kommen zudem im Gegensatz zu vielen anderen Investitionen, wo man meint, sie seien rentabel der ganzen Gesellschaft zugute. Und vielleicht am wichtigsten: Unsere Sozialwerke haben den sozialen Frieden entscheidend geprägt. Der soziale Zusammenhalt wiederum ist ein wichtiger Pfeiler unseres Wohlstandes. Wer ihn angreift, leistet der Volkswirtschaft einen Bärendienst. Denn der Faktor Zufriedenheit ist ganz entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes.

Im Moment scheiden sich die Geister an der Mehrwertsteuer. Am 16. Mai entscheiden die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger über die Anhebung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der AHV und IV. Ist es sinnvoll, die Mehrwertsteuer für die AHV heranzuziehen?

Mäder: Heute werden die Sozialversicherungen einseitig über Lohnprozente finanziert. Die Lohnabgaben noch mehr zu erhöhen, halte ich für falsch. Das wäre schwierig für das Portemonnaie des Einzelnen. Wo es um etwas so Elementares wie die Existenzsicherung von Menschen geht, sollte man den Steuerhaushalt stärker heranziehen.

Also keine Mehrwertsteuer?

Mäder: Wenn die europäische Integration eine Mehrwertsteuer erfordert, dann brauchen wir diese besser für die AHV als für Strassen. Die Mehrwertsteuer belastet aber über die Konsumausgaben die ärmeren Schichten stärker. Von daher ist es eine unsoziale Steuer. Ich würde die AHV lieber über mehr progressive Steuern finanzieren.

Das ist wenig konkret...

Mäder: Die mittleren Einkommen haben in den 90er Jahren teilweise reale Einbussen hinnehmen müssen. Das ist ein grosses Problem, dem viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Nur die reichsten und ärmsten 10% des Mittelstandes sind stabil. Dazwischen gibt es immer mehr Menschen, die sich nach unten anpassen müssen. Der Mittelstand darf demnach nicht über höhere Einkommenssteuern belastet werden.

Wir könnten auch länger arbeiten, wie Bundesrat Pascal Couchpin meint...

Mäder: Für mich ist dieser Vorschlag ein Armutszeugnis. Ich will die Arbeit niemandem streitig machen, der länger arbeiten will. Aber das zur gesellschaftlichen Norm zu machen, für Leute die Strassen wischen, die auf dem Bau arbeiten, die ganz anders gefordert sind als wir Intellektuellen das finde ich anmassend und zynisch.

Zur Person

Ueli Mäder, geboren 1951, wohnt in Basel. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und an der Hochschule für Pädagogik und Soziale Arbeit. Von ihm stammen u.a. die Bücher «Für eine solidarische Gesellschaft» (rpv, Zürich 1999) und «Reichtum in der Schweiz» (mit Elisa Streuli, rpv, Zürich 2002). Mäder hat auch eine Grundausbildung in Psychotherapie abgeschlossen und zehn Jahre lang eine Entwicklungsorganisation geleitet. Er ist verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern und meistens mit dem Velo unterwegs.

Fakten zur AHV

In 20 Jahren finanzieren zwei Arbeitnehmer einen Rentner

Am 16. Mai stimmt das Schweizer Volk nicht nur über die 11. AHV-Revision ab, die in gewissen Bereichen einen Leistungsabbau vorsieht. Zur Debatte steht auch, ob inskünftig mehr Mehrwertsteuerprozente in die erste Säule fliessen sollen. Ab 2009 soll nämlich ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent der AHV zugute kommen allerdings nur bei Bedarf.

Der Ausgang der doppelten Abstimmung beinflusst massgeblich, wie sich der AHV-Ausgleichsfonds in den nächsten 20 Jahren entwickeln wird. Auch wird das Verdikt des Volkes zum Ausdruck bringen, welchen Stellenwert die AHV heute in der Bevölkerung einnimmt. Das sind die wichtigsten Facts zur AHV:

- rund 1,8 Mio Rentner stehen heute knapp 4 Mio Beitragszahlenden gegenüber. Oder andersherum: 1970 standen 4,6 Beitragszahler einem Rentner gegenüber; im Jahr 2035 sollen es nur noch 2,3 Arbeitnehmer sein.

- über 40% der Rentner beziehen eine 100%ige AHV-Rente in der Höhe von 2110 Fr.;

- Frauen beziehen heute durchschnittlich sieben Jahresrenten mehr als noch 1950, Männer 4,5 Jahresrenten;

- die AHV wird schwergewichtig über Lohnprozente finanziert. Arbeitgeber und nehmer zahlen zusammen 8,4% der Lohnsumme, die im Jahr 2002 264 Mrd Fr. betrug;

- schon heute fliesst 1% der Mehrwertsteuer (2,3 Mrd Fr. pro Jahr) in den AHV-Ausgleichsfonds;

- inskünftig soll der AHV-Ausgleichsfonds nicht mehr zu 100% gedeckt sein müssen, sondern nur noch zu 70%;

- wächst die Schweizer Wirtschaft mit jährlich 3%, kann auf die zusätzlichen Mehrwertsteuerprozente verzichtet werden;

- die jährlichen Ausgaben der AHV belaufen sich auf rund 30 Mrd Fr. Auch die Goldreserven der Nationalbank vermögen den AHV-Haushalt nicht nachhaltig zu entlasten: Der maximale Jahreserlös beläuft sich auf 500 Mio Fr.