Vermeintlicher Skandal bei EY: Heute alles in neuem Licht

Mittwochmorgen, 13. Juni 2018. Ein Frühsommertag, der wenig Aufregendes verspricht. Nieselregen, kein wärmender Sonnenstrahl. Auch nicht bei Ernst & Young (EY) beim Bahnhof Zürich-Hardbrücke. Dann, um 7 Uhr 58, erschüttert ein Schlag den siebenstöckigen Glaskubus. Das in der Finanzbranche gern gelesene Portal «Inside Paradeplatz» verspricht Brisantes: «Ernst & Young ermittelt gegen ihren Schweiz-CEO». Und weiter erfährt die Leserschaft: Die EY-Zentrale in London habe die «Kavallerie» in die Schweiz abkommandiert. Ein scharfer «Investigativ-Experte» sei mit der Untersuchung gegen den Schweiz-Chef beauftragt. An Normalbetrieb ist in Zürich nicht mehr zu denken. Nicht bei der Prüffirma, nicht bei ihrem Chef. «Er steht im Fokus einer Untersuchung», heisst es im Indikativ. Es gehe um Interessenkonflikte, Nichteinhaltung der Unabhängigkeit, unprofessionelles Verhalten und andere illegale oder unethische Themen. Also um ziemlich viel. Ob bei EY Schweiz gar «professionelles Fehlverhalten» vorliege, fragt das Finanzportal düster. Fehlverhalten – ausgerechnet bei einer Revisionsfirma, deren grösstes Kapital das Vertrauen ist. Die von Amtes wegen überwacht wird. Die Meldung verbreitet sich rasend schnell in der Finanzwelt. Schliesslich zählt die Firma, die am Pranger steht, zu den «Big Four». So werden die vier Prüffirmen EY, KPMG, Deloitte und PwC genannt; sie begutachten und testieren die Jahresrechnung der 200 grössten Firmen des Landes. EY, die Nummer zwei hinter PwC, hat eine illustre Kundenliste: Amag, Axa, Ems, Kühne + Nagel, Nestlé, Raiffeisen, Swiss Steel, Vontobel, UBS, Zürcher Kantonalbank und viele mehr. Sie alle dürften die Newsmeldung mit Erstaunen gelesen haben. Doch die Breaking News haben einen Haken: Sie sind falsch. Es gibt keine Untersuchung gegen EY Schweiz, auch nicht gegen den Schweiz-Chef. «Inside Paradeplatz» will sich dazu nicht äussern.Der Fall Ernst & Young: Ein Zangenangriff Kontrolle: Die bekannte Auditfirma Ernst & Young (EY) prüft Buchhaltungen, bewertet Fabriken, kontrolliert Steuerabzüge. Und sorgt dafür, dass Aktionäre nicht hinters Licht geführt werden. Desaster: 2018 und 2019 wird EY ins Scheinwerferlicht gezerrt.Es hagelt in den Medien desaströse Schlagzeilen: Missmanagement, Patronage, Macho-Kultur, sexuelle Belästigung. Bizarr: Was aber ist dran an den Vorwürfen? Wochenlange Recherchen zeigen: Es ist ein Machtkampf im Gang, eine Handvoll Verschwörer aus dem EY-Topkader heckt einen Aktionsplan aus, um den Chef und seine Führungscrew zu stürzen. Ihr Plan trägt den Namen «Walküre», wie jene Aktion von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der Deutschland mit einer Bombe von Adolf Hitler befreien wollte. Es ist ein bizarrer Bogen – von der Nazidiktatur zur honorigen Prüffirma in der Schweiz. Hetzjagd: Ins Repertoire der Angreifer gehören anonyme Briefe, Verleumdung, Weitergabe von Interna an Medien – mit Vorliebe ans Finanzportal «Inside Paradeplatz». Die koordinierte Treibjagd via Medien und Social Media wird unterstützt von einer professionelle Campaigning-Firma. Was EY erlebt, sind Vorgänge, wie man sie in der hiesigen Wirtschaft nicht kennt. Und sie zeigen die Schwierigkeit, mit Vorwürfen von sexueller Belästigung umzugehen. Klagen: Auch die Justiz wird bemüht. Es setzt diverse Klagen ab, zwei gegen «Inside Paradeplatz», eine gegen das Medienhaus TX Group, eine gegen EY. Zwei Klagen sind hängig. Manche Wirtschaftsführer sind über die Vorgänge in der Prüffirma im Bild. Auch die amtliche Revisionsaufsicht RAB in Bern ist informiert. No comment: Die Akteure bleiben im Artikel aus rechtlichen Gründen ungenannt. 25 Insider waren bereit zu vertraulichen Gesprächen. EY verzichtet auf eine Stellungnahme und beantwortet keine Fragen. TX Group kommentiert keine Klage. Das Finanzportal «Inside Paradeplatz» schreibt: «Wir führen keine Kampagnen, sondern bleiben an den Themen dran.» Was damals, Mitte 2018, niemand ahnt: Die Falschmeldung ist der Beginn eines Trommelwirbels, der anderthalb Jahre anhält und unzählige kritische bis falsche Presseartikel umfasst. Für die Prüffirma ist das Ergebnis katastrophal. Nicht nur, weil der Shitstorm das Renommee beschädigt und die Kundschaft verunsichert. Ungleich schlimmer, ja desaströs, ist, dass die Attacke von innen befeuert wird – von einem kleine Kreis aus der EY-Partnerschaft. Von Leuten also aus dem obersten Führungszirkel, dem 140 Partner angehören. Sie sind die Eigentümer von EY in der Schweiz; ihr Salär ist ergebnisabhängig und liegt im Schnitt bei 600'000 Franken. Ein Chef, der sich zum CEO aufspielt Die Meldung vom Sommer 2018 gibt bloss einen Vorgeschmack auf das, was kommt. Wochen später folgt die nächste Breitseite, die auf der Chefetage für rote Köpfe sorgt. Diesmal lautet die Schlagzeile bei «Inside Paradeplatz»: «Ernst-&-Young-Chef peppt sich zum CEO hoch». Auch dieser Artikel ist mit glühender Nadel gestrickt; dem Schweiz-Chef wird diesmal Anmassung vorgeworfen. Er hausiere mit dem Titel eines CEO, der ihm gar nicht gebühre - ein Titelschwindler also. Eine einzige anonyme Quelle muss für den Vorwurf genügen: «Der Chef würde sich mit dem CEO-Titel eine Position anmassen, die ihm gar nicht zustehe, sagt einer.» Nur: Was da einer sagt, ist eine nächste Falschmeldung. Denn der CEO-Hut ist explizit im Organisationsreglement der Firma vorgesehen. Bereits die Vorgänger verwendeten den CEO-Titel, wie eine einfache Google-Suche offenbart. Auch ein Blick ins «Inside Paradeplatz»-Archiv sorgt für rasche Klärung: In mehreren Artikeln – vor und nach dieser Titelschwindel-Story – wird der Schweiz-Chef dort wörtlich als «CEO» bezeichnet. Was vorher und nachher richtig ist, soll jetzt ein Skandal sein? Das Finanzportal will sich dazu nicht äussern. Man kann es Social Mobbing nennen Schwindel-CEO oder Schwindeljournalismus? Das Publikum scheints nicht zu kümmern, stattdessen wird der kritisierte Chef in den Kommentarspalten als «Furz» und als «Niete» tituliert. Ja, es wird deftig ausgeteilt im Forum, doch die Lästerer treten nicht mit ihrem Namen an, so wie es bei Leserbriefen in seriösen Medien verlangt wird. Bei «Inside Paradeplatz» verbirgt man sich hinter Pseudonymen wie «Gspusi» oder «Mutti» und teilt aus. Man kann es Social Mobbing nennen. Führungskräfte werden in den Kommentaren des Finanzportals als «Heissluftgebläse» oder «charakterloser Typ» bezeichnet, als «Null» oder «Nullnummer», als «Kriecher» oder «Affe». Oder als «Nazi-Spion», wie der Präsident einer Grossbank. Frauen haben hier ihre Karriere ihrem Aussehen oder ihrem Outfit zu verdanken. So wird regelmässig Sexistisches, Rassistisches, Beleidigendes oder Ehrverletzendes verbreitet. Etwas wie eine Qualitätskontrolle existiert nicht. Oder doch? «Jeder Kommentar wird vor Publikation gelesen und notfalls redigiert oder im Extremfall gelöscht», steht da. Im Herbst 2018, nach weiteren Artikeln, dämmert es dem letzten Zweifler in der EY-Chefetage. All diese Artikel, dieser Spott und diese Häme – das kann kein Zufall sein. Der Verdacht wiegt schwer. Hier sind Insider am Werk, die mit Indiskretionen auf maximalen Schaden zielen. Also wird in der Firma ein Defense-Team eingesetzt, das nach Angreifern suchen soll. Als Erstes überprüfen die Forensiker die Mailverbindung der 2500 EY-Mitarbeitenden in der Schweiz, dann die Telefonkontakte. Ergebnislos. Was man erst viel später herausfindet: Einer der Hintermänner ist nahe dran. Er berät das Defense-Team, das fieberhaft nach den Putschisten sucht. Lange ohne Erfolg. Erst ein Jahr später, im Sommer 2019, bestätigt sich die dunkle Vermutung. Es sind tatsächlich Insider am Werk, und zwar aktive wie ehemalige EY-Partner. Sie verbindet ein Ziel: den Schweiz-Chef samt seiner Führungscrew zu verjagen. Auf ihrer Liste steht auch der Verwaltungsratspräsident. Sie alle sollen «abgeräumt» werden, wie es ein Kadermann nennt. Es geht, wie die Recherche zeigt, um Rache für verweigerte Beförderungen, Rückstufungen oder für Entlassungen. Und um die Macht in der Firma. Oder zumindest um die Hoffnung, von einer Kapitulation der Führungscrew beruflich wie finanziell profitieren zu können. Es gibt auch Trittbrettfahrer in der Firma. Sie wollen sich profilieren, alte Rechnungen begleichen, auf den Putz hauen, Frust loswerden. Und es gibt fürwahr einigen Grund zur Kritik: Aus diversen Zukäufen ist die Patchwork-Firma EY entstanden. Aus der bunten Truppe erwachsen Rivalitäten – etwa zwischen der prestigeträchtigen Financial- und der Industry-Division, zwischen Romandie und Deutschschweiz, zwischen den EY-Grossbüros Basel und Zürich. Im Sommer 2016, nach dem Verlust der beiden Prestigekunden ABB und Lafarge Holcim, steigt die Nervosität. Deshalb greift das EY-Hauptquartier in London durch und befördert den langjährigen CEO ins VR-Präsidium weg. Der neue Schweiz-Chef stammt aus den Financial Services und gilt als Dynamo, der mit geschwellter Brust vorausstürmt und im Vorwärts-Marsch-Modus nach Marktanteilen strebt. Sein Ziel ist, so erzählen Mitarbeitende, prestigeträchtige Mandate wie Nestlé an Land zu ziehen. Auch muss endlich die Effizienz gesteigert, das Offering ausgebaut und die Digitalisierung vorangetrieben werden. Ein Bitcoin-Apparat im Firmen-Entrée wird zum Symbol des Aufbruchs – im 101. Jahr von EY Schweiz. Im sexy Dress die Karriereleiter hoch Der ambitionierte Restart sorgt intern für Gewinner und Verlierer, für Begeisterung und Missmut. «Gestandene Partner fürchten um ihre Macht», erzählt eine Frau aus der Partnerschaft. Ein One-Company-Spirit kommt in dieser Ansammlung von Stämmen und Seilschaften nie richtig auf, seit Jahrzehnten nicht, auch nicht in dieser Transformation. Wenig hilfreich für eine Firmenkultur ist der Setup des Konzerns: Die mächtige Finanzdivision rapportiert nicht an die Schweizer Führung, sondern an eine Regionenleitung. Ein komplexes Gebilde also, mit vielen Machtzentren. Und männerdominiert, wie alle Prüffirmen des Landes. Am 18. Oktober 2018 lanciert «Inside Paradeplatz» ein nächster Knaller mit Stoff aus dem Innern der Firma. Am Pranger steht diesmal eine Frau, deren Beförderung zum Partner intern auf Unverständnis stosse. «Ernst & Young: Im Sexy-Dress hoch die Karriereleiter» steht da in fetten Lettern. Und die Begründung: «G. wurde Partnerin, nicht weil sie so gut war, sondern weil sie ihre Vorgesetzten mit ihrem Aussehen verzauberte – so die Meinung mehrerer Auskunftspersonen.» Wörtlich heisst es weiter: «Die Frau mit den gewagten Dresses ist wie eine Rakete durch die Karrieredecke geschossen.» Nun, die Frau schloss an Top-Unis Studien ab, gilt als «High Achiever» und übt bis heute Führungsfunktionen in der Schweiz und in der DACH-Region aus. Sie hat, nachdem es kein EY-Partner anzupacken wagte, eine Abteilung reorganisiert und zwei Dutzend Backoffice-Stellen abgebaut – eine Rosskur zweifellos, aber überfällig. Heisst es intern. Derweil zeichnet das Finanzportal das Bild einer Frau, die «mangelhafte Leistung» zeige und jenes einer Firma, in der ein Kurzrock zur Beförderung genüge. Umgekehrt hätten es «Kaderfrauen mit weniger attraktivem Äusseren, aber unangefochtenem Können» nicht nach oben geschafft. Sie müssten deshalb weiter «als Arbeitsbienen statt als Partner» dienen. Und natürlich kriegt auch der Schweiz-Chef, der das Fördern von Frauen zum Programm macht und Traditionalisten verunsichert, einen Abrieb verpasst. «Der CEO und seine Buddies pflegen eine Macho-Kultur», resümiert das Finanzportal ganz ohne Ironie. Und es benutzt – nebenbei - für den Schweiz-Chef exakt jenen CEO-Titel, den man ihm eben noch als Grössenwahn unter die Nase rieb. Die Sexy-Dress-Story ist derweil ganz nach dem Gusto des Publikums und beflügelt dessen Fantasie. Es setzt 163 Wortmeldungen in den Kommentarspalten ab, viele davon sexistisch und herabsetzend – für die Frau, den Chef und die Firma. Man wähnt sich bei der Lektüre in der Fankurve eines übervollen Fussballstadions: Während die einen die Leistung der Kaderfrau bejubeln, wird sie von anderen niedergebrüllt. Vom parfümierten Eigenbeschrieb der Weltfirma – «Builders of a better working world» – ist man meilenweit entfernt. Angestachelt wird das rauflustige Team von einem Vielschreiber, der sich hinter dem Pseudonym «Pink Panther» verbirgt. Er beschreibt EY als Lotterbude und ruft die Belegschaft zum Kommentieren auf: «Steht auf, zeigt Mut.» Und erläutert, wie man der Enttarnung durch das Defense-Team entgeht. Wer sich an seine Tipps halte, doziert «Pink Panther», für den sei das Risiko aufzufliegen «gleich null.» Hinter «Pink Panther» muss sich jemand mit Insiderwissen verbergen – und mit einem handfesten Plan. Dieser lautet, wie er in einem Post offenbart: «Das Übel muss an der Wurzel angepackt werden.» Und weiter hofft er, dass es «bei EY bald richtig eskaliert». «Pink Panther» sollte Recht haben. Es eskaliert. Bald. Richtig. Nach dem «Sexy-Dress»-Artikel und den hämischen Kommentaren liegen die Nerven blank im EY-Glaskubus. Genug ist genug! Nun beauftragt man die Anwaltskanzlei Walder Wyss, die am Handelsgericht Klage gegen «Inside Paradeplatz» einreicht. Verlangt wird die Löschung des Sexy-Dress-Beitrags, und zwar sofort. Doch bis der Einzelrichter entscheidet, vergehen zwei Monate – eine Ewigkeit im digitalen Newsjournalismus. Schliesslich heisst er das Begehren gut, «Inside Paradeplatz» muss den Beitrag löschen. Weiter entscheidet sich die Firma, künftige Rechercheanfragen des Finanzportals zu ignorieren und selbst wildeste Behauptungen nicht mehr mit Fakten zu kontern. «Inside Paradeplatz» habe eine rote Linie überschritten, als es zuliess, «dass Menschen im feigen Schutz der Anonymität Sexistisches und Unflätiges gegen unsere Mitarbeiter von sich geben», teilt der EY-Kommunikationschef dem Portal mit. Ein Entscheid, den man dort auch als Lizenz zum Draufhalten verstehen könnte. Neue Strategie: Harte Kante Mit der Gesprächsverweigerung wird auch der Zugriff auf die Website von den firmeneigenen Geräten gesperrt. Man wolle mit Klicks nicht auch noch zum Geschäftserfolg des Mediums beitragen. Es ist eine ähnliche Massnahme, welche die UBS durchsetzte, nachdem der CEO aus dem Tessin regelmässig angepflaumt wurde. Er sei halt ein «feuriger Südländer», der viel verspricht und nichts hält, hiess es etwa. Die neue Strategie von EY – «Harte Kante» – passt nicht allen in der Firma. Insgeheim reisst sie gar einen transatlantischen Graben auf: hier der Schweiz-Ableger, der sich gegen die medialen Giftpfeile wehren will; dort ein Weltkonzern, dessen Big Boss in New York nur eines will: Ruhe in Switzerland, wo gerade mal 1 Prozent der Belegschaft sitzt. Und ständig für Rabatz sorgt. Schon bald auch in den USA. Nun werden die Angriffe bedrohlich, geschäftsschädigend. Es trifft bei der Firma unliebsame Post ein, abgeschickt von irritierten EY-Kunden. Darunter sind UBS, Zürcher Kantonalbank, Basellandschaftliche Kantonalbank und viele mehr. Deren VR-Präsidenten haben anonyme Schreiben mit brisantem Inhalt erhalten. Sie werden darin auf all die kritischen «Inside Paradeplatz»-Berichte verwiesen und aufgefordert, die Geschäftsbeziehungen zur Prüffirma abzubrechen, aus Schutz «der eigenen Reputation». Die EY-Chefs, auf deren Tisch sich die Drohbriefe stapeln, sind entsetzt. Die anonymen Absender, die unzweifelhaft Geschäftsschädigendes verbreiten, müssen die Kundenliste kennen. Weihnachtsfeier mit Crazy Lapdance Exakt zur selben Zeit erhält auch der VR-Präsident von EY Schweiz brisante Post. «Lieber B.», steht in einem ungezeichneten Brief, von «drei Frauen» verfasst. Die Absender fordern eine Nulltoleranzpolitik bei «sexueller Belästigung» und verlangen, dass ein Kadermann aus der Finanzdivision freigestellt wird. Sonst droht eine nächstes Leak: Eine Kopie des Schreibens, heisst es im Brief, sei nämlich «per B-Post» zum Portal «Inside Paradeplatz» unterwegs. Verbunden mit einer Forderung: Der Kadermann muss «per sofort» entlassen werden. In diesem Fall werde man das Finanzportal «höflich» darum bitten, die Briefkopie zu vernichten. Im andern Fall: Dann dürfe «Inside Paradeplatz» das Schreiben an den VR-Präsidenten gerne publizieren. Die Firma reagiert nicht, dafür ist der Brief bald integral auf dem Finanzportal aufgeschaltet. Bei EY ist derweil Schadenbegrenzung angesagt: Die angeschriebenen Kunden werden beruhigt und rechtliche Schritte geprüft. Forensiker versuchen, mit Textanalysen Rückschlüsse auf die Briefschreiber zu finden. Das Ergebnis ist unbekannt, EY äussert sich nicht. Eigene Recherchen lassen vermuten: Der Brief, den angeblich «drei Frauen» verfassten, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit fingiert. Die zeitgleiche Taktung der Briefe – die einen an die EY-Kunden, der andere an den EY-Präsidenten – deuten auf eine enge Koordination hin. Das gilt auch für die forsche Diktion in den Briefen, die sich auffallend ähneln. Der Ton erinnert schliesslich stark an «Pink Panther», der das EY-Personal zum Auskotzen auf «Inside Paradeplatz» animiert. Später ist es ganz anders Der Brief der «drei Frauen», die das Thema «sexuelle Belästigung» aufbringen, birgt Sprengstoff. Zumal seit der weltweiten Me-Too-Bewegung, die seit 2017 Übergriffe und Machtmissbrauch in Firmen anprangert. Nun also wird auf Anlässe zurückgegriffen, die zwei oder drei Jahre zurückliegen – und sich skandalisieren lassen. Da ist die Weihnachtsfeier 2015 in einer Event-Hall in Zürich-Oerlikon. Ein Mitglied aus der Partnerschaft sitzt in roter Sankt-Nikolaus-Robe und mit weissem Bart auf der Bühne und soll eine Darbietungen der jüngeren Generation mit launigen Sprüchen kommentieren. Bei einer Performance setzt sich seine Assistentin spontan für einen kurzen Moment auf die Oberschenkel von Sankt Nikolaus, der seinen Oberkörper zum Publikum abdreht. Die Fotos vom Event hängen später ein halbes Jahr beim Assistenz-Pool der Firma. Niemand stösst sich daran. Drei Jahre später ist es ganz anders: Die Sankt-Nikolaus-Szene wird zu «Inside Paradeplatz» durchgestochen und dort als «Crazy Lapdance», als enger Hüfttanz aus dem Nightclub, beschrieben. Ein Bild, das ein Blog der New Yorker Buchprüfergilde gerne aufnimmt und weiterdreht. Dort, auf dem Webportal namens «Going Concern», wo «Fuck» und «Asshole» zum Basisvokabular gehören, wird die 15-Sekunden-Szene zum «Erotic Lapdance» hochgeschrieben, EY Schweiz zur «Partybude» und Santa Claus zum «Volltrottel». Wohl kaum zur Freude des Big Boss im Ernst-&-Young-Tower in New York. Ohne Zweifel, der Stoff klingt süffig. Und sonst? Eine Durchsicht der Bilder der Weihnachtsparty und Gespräche mit Leuten aus dem Publikum zeigen eine andere Geschichte. Da war kein Tanz, kein Lapdance, schlimmstenfalls eine verunglückte Spontanszene. «Inside Paradeplatz», das daraus einen irren Hüfttanz zauberte, will keine Stellung nehmen. Die Assistentin, eine ehemalige Profi-Snowboarderin, versteht nach dem Medienwirbel die Welt nicht mehr, der Partner unter dem Sankt-Nikolaus-Kostüm reicht später die Kündigung ein. Ihm folgt der Marketing- und Kommunikationschef, den der Machtkampf zwischen der EY-Zentrale und dem Schweiz-Ableger zermürbt hat. «Fuck, I need a pay-rise, now!» Doch der Shitstorm geht weiter. In einem nächsten «Inside Paradeplatz»-Beitrag wird einem Partner sexuelle Belästigung einer Assistentin vorgeworfen. Auch dieser Fall liegt zurück, diesmal über zwei Jahre. Die Fakten zeugen, das zeigen Reports und Gespräche, von wenig Stil. Und sind komplex: In einer Whatsapp-Gruppe, in der sich junge Assistentinnen austauschen, wird ziemlich freimütig über Privates geplaudert. Auch darüber, wer sich am schnellsten einen EY-Partner anlachen kann. Eine Frau, das zeigt der Chat-Verlauf, ist besonders fleissig in der Anmache und bittet die Kolleginnen, sie an Meetings einzuladen, damit sie so Partnern, die sie auf der Liste hat, auf den Leib rücken kann. Später vermeldet sie im Chat: «Jetzt habe ich auch einen Partner, der ein Auge auf mich geworfen hat.» Später kündigt sie auf den Gängen eine ästhetische Brustoperation an und bittet um Kredit, wie mehrere Involvierte erzählen. Well, die Chats sind das, was man in den USA «Locker Room Talks» nennt, privates Geplapper auf eher mässigem Niveau. Ungleich höher gelagert, nämlich riesig, ist offenbar der Mitteilungsdrang: Jene Chat-Teilnehmerin, die ihre Schönheitsoperation ankündigt und EY-Partner anmacht, vergnügt sich am Arbeitsplatz stundenlang in den Social Media. Innert zwölf Monaten schreibt oder erhält sie «rund 50 000 Messages», wie in einem Bericht steht, Hunderte verfasst sie während der Arbeitszeit. Die allermeisten Nachrichten sind banal, eine Handvoll aber nicht. Sie finden sich im SMS-Chat mit einem EY-Partner, den sie von früher kennt; er hat die jobsuchende Assistentin einst zur Prüffirma vermittelt. Neu-Deutung von «Assets» Im Frühling 2016 fallen zwischen ihr und dem EY-Partner in SMS-Messages Worte, die in keinen professionellen Kontext passen. Beidseitig fallen Begriffe wie «Boobs» und «Assets». Die teure Operation sei als Investition in die eigenen Assets zu betrachten, erklärt ihr der Buchprüfer. Die Frau schreibt zurück: «Guter Spruch. Muss ich mir merken.» Kurz darauf kippt die Stimmung – vom frivolen Umgangston zur handfesten Forderung. «Fuck, I need a pay rise, now!», heisst es nun unter den alten Bekannten. Sie verlangt einen Lohnsprung von 35 Prozent, damit sie gleich viel kassiere, wie ihr eine Grossbank bei einem Jobwechsel offeriere. EY aber bietet ihr eine bescheidenere Lohnerhöhung und dazu eine Weiterbildung an. Das genügt ihr nicht. Darauf sucht sie einen Arzt auf und lässt sich krankschreiben. Im August, zwei Monate nach dem problematischen SMS-Verkehr, reicht sie in der Personalabteilung eine Anzeige wegen sexueller Belästigung ein – gegen den Partner. Nach Monaten drängt der Rechtsdienst auf Wiederaufnahme der Arbeit oder eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Assistentin, die laut Instagram-Einträgen auf Ibiza Partys feiert. Die Firma bietet ihr sechs Monate Lohn – sie verlangt zehn Monate. In einer Austrittsvereinbarung einigt man sich auf die Zahlung von zehn Monatslöhnen plus Ferienanteile. Auch Details dieser vertraulichen Abmachung landen bei «Inside Paradeplatz». Allerdings nicht die komplizierten, für niemanden schmeichelhaften Hintergründe. Vielmehr ist nun von «sexueller Belästigung» einer Frau und «Me-Too»-Abgründen die Rede. Und die Auszahlung gemäss Trennungsvereinbarung wird zum »Schweigegeld». Ein Begriff, gegen den EY wieder vor Gericht zieht – und gewinnt. Doch die Dämme sind gebrochen, denn mittlerweile haben weitere Medien den «Me-Too»-Vorwurf aufgenommen. EY ist nach «Lapdance»-Weihnacht und «Assets»-Vergleich ein scheinbar hoffnungsloser Fall. Kein Kündigungsgrund, aber Verweis Logisch, der «Asset»-Vorfall gab intern zu reden, und zwar zwei Jahre bevor er in der Öffentlichkeit landet. Mehrfach wurde er auf seine arbeitsrechtliche Brisanz hin geprüft. Zum ersten Mal vom Schweiz-Chef, der den Vorfall – welcher vor seiner Amtszeit stattfand –, durch die Abteilungen Legal, HR und Forensik abklären lässt, und dies kurz nach seinem Antritt im Sommer 2016. Nach der Untersuchung lautet der Befund: keine sexuelle Belästigung. Und weiter steht im Bericht: «Was zweideutige und unangemessene Textnachrichten betrifft, fehlte es von beiden Seiten an vorbildlichem Verhalten.» Ein Kündigungsgrund liege nicht vor, hingegen kassiert der Partner einen Verweis. Eine Teilnehmerin aus der Whatsapp-Gruppe erinnert sich: «Mit sexueller Belästigung hatte diese Geschichte nichts zu tun – es ging um mehr Lohn, zur Finanzierung von Operation und Lebensstil.» Als diese Story zwei Jahre später, im Herbst 2018, via «Inside Paradeplatz» erstmals in der Öffentlichkeit auftaucht, nimmt die nervöse EY-Zentrale in London den Vorfall erneut unter die Lupe. Das Ergebnis deckt sich mit dem Befund von 2016: keine sexuelle Belästigung, beidseits unangebrachte Kommunikation, kein Kündigungsgrund. Als weitere Medien auf den Fall einsteigen, ist der Big Boss ausser sich. Wieder dieser Schweiz-Ableger, der für Schlagzeilen sorgt. Nun betraut er die Anwaltskanzlei Lenz & Staehelin mit einer weiteren Untersuchung der in den Medien immer wieder aufgebrachten Vorfälle. Die «Crazy Lapdance»-Weihnachtsfeier ist für die Anwälte schnell erledigt: kein Tanz, kein Lapdance, eine Falschmeldung. Beim «Asset»-Fall kommen die externen Prüfer, die für ihre Arbeit angeblich 400'000 Franken verrechnen, zum Fazit: keine sexuelle Belästigung, aber unangemessene Kommunikation des Kadermanns – ein Ergebnis, das man ebenfalls aus früheren Untersuchungen kennt. Schliesslich verabschiedet sich der Partner von EY durch die Hintertür – und die Firma hofft, nun das leidige Thema ein für allemal vom Tisch zu haben. Ein Irrtum. Der Höhepunkt der Misere ist erst erreicht, als die TX-Group-Medien in den «Fall EY» einsteigen und knallhart die Opferthesen verbreiten. Es wird für die Manipulatoren zum perfekt inszenierten Schlussbouquet: Genau zum Publikationstag des Artikels flattert ein Riesenplakat an der viel befahrenen Hardbrücke in Zürich, direkt vor den Fenstern des EY-Glaskubus. Es zeigt den Big Boss, der aufgefordert wird: «Mark, clean up EY Switzerland now!». Unterschrieben ist der Aufruf mit «#EY Too». Der Trick mit dem manipulierten E-Mail Hinter der spektakulären Plakataktion zur Rushhour und direkt vor der Nase der EY-Belegschaft steht, das zeigen die Recherchen, die professionelle Campaining-Firma Campax. Diese wird vom ehemaligen Greenpeace-Aktivist Andreas Freimueller geleitet. Er, der «Meister des Shitstorms» (NZZ), ist an diesem Morgen selber vor Ort und sammelt Unterschriften und Spenden – gegen EY. Nach der anderthalb Jahre währenden Treibjagd ist die Firma erschüttert. Der zutreffende Hinweis, wonach man Verdachtsfälle von sexueller Belästigung ernst nehme und sanktioniere, interessiert längst niemanden mehr. Schon gar nicht die Zürcher Frauenbewegung: Sie zieht eines Morgens trommelnd und pfeifend zum Glaskubus und verleiht EY den Titel «Sexistischstes Unternehmen der Schweiz». Die Meinungen sind gemacht: hier die Macho-Bude, die jeden Vorfall unter den Teppich kehrt, dort die Opfer, die mit Cash abserviert werden. In dieser aufgeheizten Zeit gibt der Schweiz-CEO Anfang 2019 seinen Chefposten in der Schweiz ab, bleibt aber Marktleader für die DACH-Region. Nur einer lässt sich durch nichts erschüttern: der VR-Präsident, der einst wegen seiner Passivität nicht mehr CEO sein durfte. Seinem Stil ist er selbst in der wildesten Zeit in der Firma treu geblieben. Jetzt wird die Falle gestellt Führungslosigkeit, Ernüchterung und Frustration prägen die Stimmung im EY-Glaskubus. Nach Plakataktionen, Frauendemo, Medienberichte, Shitstorm, Drohbriefen ist man das Gespött der Finanzbranche. Und tappt noch immer im Dunkeln. Wer sind die Brandstifter? Die Suche nach ihnen hat mittlerweile Millionen verschlungen, doch das Ergebnis ist mager. Mail-Kontrolle beim Personal: keine heisse Spur; Telefonüberwachung: nichts Brauchbares; Analyse der anonymen Briefe: nur Vermutungen. Bloss die geschwätzige Whatsapp-Gruppe der Assistentinnen ist aufgeflogen. Schliesslich wird ein letzter Versuch unternommen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Und zwar mit einer Falle: Die Europa-Chefin soll ein manipuliertes E-Mail an sämtliche Mitarbeitende in Deutschland, Österreich und der Schweiz verschicken. Jedes der 15'000 Mails ist durch klitzekleine Nuancen – Schriftwahl, Zeilensprung – individualisiert. Es ist wie ein Fingerabdruck, der je einer Person zugeordnet werden kann. Dann wird das Mail, das ein paar Personalmutationen ankündigt, an die «Dear Partners & Colleagues» verschickt. Und insgeheim gehofft, dass es irgendwo auftaucht und einen Hinweis auf das Leak liefert. Dann vergehen Stunden, Tage, eine Woche. Wieder eine Pleite? Nein! Plötzlich erscheint die interne Mitteilung mit der verräterischen Schriftbild an einem bekannten Ort: bei «Inside Paradeplatz». Und erst noch im Original. Volltreffer.Der EY-Fall: Eine Chronologie Sommer 2016: Chefwechsel in der Partnerschaft von EY: Der CEO wird auf den VR-Präsidentenposten abgeschoben. Ein neuer CEO Schweiz wird von der EY-Konzernleitung in der Schweiz eingeführt, die Partnerschaft stimmt der neuen Geschäftsleitung zu. 2017: EY feiert das 100-Jahre-Jubiläum. Titel der Festschrift: «Vertrauen als Mehrwert – 100 Jahre EY Schweiz». Im November baut EY im Backoffice zwanzig Stellen ab. Es folgen kritische Medienartikel. Juni 2018: Die EY-Konzernzentrale in London ermittle gegen den Schweiz-CEO, berichtet das Finanzportal «Inside Paradeplatz». Es gehe um Missmanagement, Illegales und Unethisches. Die Meldung ist falsch. Es gibt keine Untersuchung gegen den Schweiz-Chef. Oktober 2018: Das Finanzportal «Inside Paradeplatz» behauptet, der CEO in der Schweiz masse sich einen Titel (CEO) an, der gar nicht vorgesehen sei. Wieder eine Falschmeldung. In einem Beitrag des Finanzportals wird weiter geschrieben, eine Mitarbeiterin sei nur wegen ihres sexy Dresses in die EY-Partnerschaft aufgenommen worden. Das Unternehmen geht vor Gericht und erhält recht. Der Artikel muss gelöscht werden. 12. Dezember 2018: In den TX-Group-Medien erscheint ein Artikel über mutmassliche sexuelle Belästigung bei EY, zeitgleich hängt ein riesiges Me-Too-Plakat einer professionellen Kampagnenfirma vor den Bürofenstern der Firma. Eine perfekt orchestrierte Aktion. Nach diesem Doppelschlag greift der Big Boss durch. Januar 2019: An einer Weihnachtsfeier im Dezember 2015 soll es auf der Bühne zu einer sexuellen Belästigung gekommen sein, behauptet «Inside Paradeplatz». Gemäss interner wie externer Untersuchung eine Falschmeldung. Der Chef gibt seinen CEO-Posten in der Schweiz ab, behält aber eine überregionale Funktion. Im Herbst wechselt er den Arbeitgeber. März 2019: Das Zürcher Frauenkollektiv zieht am Frauentag an den Sitz von Ernst & Young in Zürich und verleiht dem Unternehmen den Titel «Sexistischste Firma der Schweiz». Juni 2019: Ein neuer EY-CEO wird gewählt. Intern wird einer der Drahtzieher der Intrige enttarnt; er gehört der Partnerschaft an. Er wird fristlos entlassen und streitet mit der Firma wegen der fristlosen Kündigung. Weitere Angreifer, ehemalige Mitglieder der EY-Partnerschaft, werden enttarnt. Nun ist es mit einem elektronischen Abgleich ein Leichtes, die interne Quelle zu eruieren. Der Verdacht fällt auf ein Mitglied aus der Partnerschaft, ausgerechnet auf einen Vertrauensmann, der das Defense-Team und die Geschäftsleitung bei der Jagd nach den Verschwörern berät. Er drückt nicht einfach die Forward-Taste und leitete das manipulierte Mail weiter, weil dies, wie er selber wohl weiss, sofort einen Alarm ausgelöst hätte. Stattdessen fotografierte er das Mail vom Bildschirm und sendet es per Handy weiter. Nazi-Kreuz und Heil-Hitler-Gruss Mit diesem Wissen wird er zur Rede gestellt und gibt er weitere Details preis, darunter Namen, Links zu Dokumenten. Dann wird er zum Ausgang eskortiert und fristlos entlassen. Stunden später werden die Mitglieder der EY-Partnerschaft zum Call eingeladen. Dort präsentiert der frisch gekürte Schweiz-Chef mit ernster Stimme die groben Fakten: Man habe im Unternehmen eine «Collusion» aufgedeckt, eine Verschwörung, dazu einen ausformulierten Geheimplan und weitere Dokumente. Ein Mitglied aus der Partnerschaft habe gegen den «Code of Conduct» verstossen und sei am Morgen von «seinen Pflichten» entbunden worden. Er habe Hausverbot, sein Name sei von der Liste der EY-Alumni gestrichen. Für den Kadermann ists ein hartes Grounding. Kurz vor der Enttarnung stand er nämlich noch vor dem mit Verbissenheit verfolgten Karriereziel, Chef von EY Schweiz zu werden. Er stand gar auf der Shortlist fürs Exekutivamt und schaffte es bei der Wahl durch die Partnerschaft auf Rang zwei. Nur Tage später wird er enttarnt und entlassen. Sein wechselhaftes Verhältnis zum Arbeitgeber, bei dem er zwanzig Jahre ein stattliches Einkommen kassierte, geht schon bald in die Verlängerung: Er ficht vor Gericht die fristlose Kündigung an und sieht sich als Opfer eines Machtkampfs. Derweil fliegen neben ihm weitere ehemalige Mitglieder der Partnerschaft auf. Einer hatte es ebenfalls auf den CEO-Posten abgesehen, doch weil man ihn ins Leere laufen liess, trat er wütend zurück. Der Dritte hatte es auf den Präsidentensessel abgesehen; weil ihm dieser aber verwehrt blieb, verliess er das Unternehmen – und setzte zur Vendetta an. Die Abschiedspointe Und gönnte sich bei der Kündigung noch eine kleine Abschiedspointe: Seinen Abgang kündigte er Ende 2018 nicht als Erstes in der Firma an, sondern bei «Inside Paradeplatz». Dort wird er in seiner Abgangsannonce als «besonders wichtiger und zentraler Partner von EY Schweiz» gefeiert. In Erinnerung blieb er allerdings mehr als Mann der grossen Sprüche und der grossen Spesen. Er gilt in der Firma unzweifelhaft als Mastermind der Verschwörung. Die Forensiker stossen bei ihrer Spurensuche auf ein Mail, in dem er in bester Laune schreibt, er sitze grad in der First Class der Swiss – ein wunderbarer Ort für kreative Ideen – und überarbeite den Operationsplan. Heute sitzt er in Verwaltungsräten von renommierten Schweizer Firmen. Man findet auch einen Operationsplan, der den Namen «Walküre» trägt – in Anlehnung an den Sprengstoffanschlag, mit dem Adolf Hitler aus der Welt geschafft und der Weltkrieg beendet werden sollte. Ausgearbeitet sind im Plan drei Aktionen. Erstens: Aufbau einer Oppositionsgruppe in der EY-Partnerschaft. Zweitens: Manipulation von Medien. Drittens: Anonyme Briefkampagnen. Neben dem Angriffsplan stösst man auf eine Mindmap, auf der die Mitglieder der EY-Partnerschaft in einem Freund-Feind-Raster eingeteilt sind. Als Codewörter dienen in den Dokumenten die Namen hoher Offiziere aus dem Zweiten Weltkrieg. Schliesslich stossen die Forensiker auf Ungeheuerliches, auf den Nazigruss «Heil Hitler» und auf ein Hakenkreuz. Es sind Spuren, die man sich in keiner Schweizer Firma vorstellen kann. Als die Funde der Konzernspitze präsentiert werden, macht sich Konsternation breit. Die Dokumente sind das Skript für Aktionen, die EY zwischen Sommer 2018 und Herbst 2019 ins Wanken brachte. Die Verschwörer agierten offenkundig ohne Rücksicht auf Verlust, waren bloss auf den eigenen Vorteil bedacht. Und redeten sich ein, sie müssten die Firma vor Unheil bewahren. Die eigene Schlussbilanz der Buchprüfer ist tiefrot: Aderlass in der Partnerschaft, Vertrauensverlust in der Belegschaft, Reputationsschaden in der Öffentlichkeit, verunsicherte Kunden. Bloss für eine Seite geht die Rechnung auf: für «Inside Paradeplatz». Die Finanzplattform lebte monatelang von Knallern, Klicks und Kommentaren. Offenlegung: EY ist Revisor von Ringier und von Ringier Axel Springer Schweiz, dem Herausgeber der «Handelszeitung». Dieser Text wurde das erste Mal publiziert am 17. März 2021.

Vermeintlicher Skandal bei EY: Heute alles in neuem Licht

Akte EY: So lief der Putschversuch wirklich ab