Big Pharma im Fieber: Wer knackt den Medikamenten-Jackpot?

Alzheimer ist eine Tragödie. Fünfzig Millionen Menschen leiden bereits heute unter dieser häufigsten Form von Demenz. Bis 2050 dürften es 100 Millionen Patienten und Patientinnen sein. Die Krankheit greift die Persönlichkeit an, die Gefühle, die Gedanken, die Erinnerungen, alles, was uns als Menschen ausmacht. Doch auch die Geschichte der Alzheimer-Forschung ist ein Drama. Ganze 42,5 Milliarden Dollar hat Big Pharma in den vergangenen knapp dreissig Jahren mit der Entwicklung und Erforschung von Medikamenten gegen Alzheimer verbrannt. 185’000 Patienten und Patientinnen haben in dieser Zeit an klinischen Studien teilgenommen. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl der Pharma-Stadt Basel. Das zeigt eine Studie von Lorenzo Biasio, dem Pharmaanalysten der Credit Suisse. Normalerweise würde das reichen, um rund zwei Dutzend neue Medikamente auf den Markt zu bringen. Doch bei Alzheimer ist nichts normal. Ganze sechs Alzheimer-Medikamente wurden seit den neunziger Jahren zugelassen. Fünf von ihnen wirken nur gegen die Symptome von Alzheimer, wie etwa Angstzustände oder Depressionen. Und Aduhelm von Biogen, das erste Medikament, das in den Krankheitsverlauf eingreifen sollte, wird in der Praxis kaum verschrieben. Doch nun gibt es neue Hoffnung. Eisai und Biogen vermelden positive Studienresultate zu ihrem Wirkstoff Lecanemab. Bei den mit dem Medikament behandelten Patientinnen und Patienten verlangsamte sich der kognitive Zerfall um 27 Prozent gegenüber denen, die während der 18-monatigen Studie ein Placebo bekamen. Was ist bei Alzheimer schiefgelaufen in der Wissenschaft und in der Industrie? Was bedeutet der Erfolg von Eisai und Biogen, vor allem auch für Roche? Fünf Fragen und Antworten zum grossen Showdown bei Alzheimer. 1. Warum tun sich Wissenschaft und Industrie so schwer mit Alzheimer? Krankheiten lassen sich am besten bekämpfen, wenn die Wissenschaft möglichst gut versteht, was im menschlichen Körper passiert, wenn sie ausbrechen. Bei Alzheimer ist das bis jetzt nur in Ansätzen der Fall. Bis heute dreht sich fast alles um die Ablagerungen im Gehirn, die der Frankfurter Arzt und Psychiater Alois Alzheimer schon vor mehr als 100 Jahren erstmals beschrieb. Die Ansammlung von Amyloiden, einer bestimmten Form von Eiweissen, dürfte bei der Krankheit eine Rolle spielen. Aber welche? Das ist noch immer die grosse Frage. Irritierend ist, dass es zwar bei allen Alzheimer-Patienten und -Patientinnen zu Amyloid-Ablagerungen im Gehirn kommt. Aber längst nicht alle Menschen mit Amyloid-Ablagerungen erkranken auch an Alzheimer. Kritiker werfen der Wissenschaft und Industrie vor, sich zu einseitig auf die sogenannte Amyloid-Hypthese konzentriert zu haben und andere Forschungspisten vernachlässigt zu haben; wie etwa, dass Infektionen bei Alzheimer eine Rolle spielen könnten. So blieben etwa Forschungsergebnisse weitgehend unbeachtet, bei denen in den Ablagerungen von Alzheimer-Patienten Herpesviren gefunden wurden. Die Kritik ist berechtigt. Amyloid galt als der Schlüssel zu Alzheimer. In den USA war es für Wissenschafter und Wissenschafterinnen fast unmöglich, öffentliche Forschungsgelder für Alzheimer-Projekte zu bekommen, bei denen es nicht um Amyloide ging. Und auch die Industrie versenkte ihre Milliarden hauptsächlich in Studien mit Antikörpern gegen Amyloide. 2. Wer ist diesmal am Start? Neben Eisai und Biogen sind auch Roche und der amerikanische Pharmakonzern Eli Lilly mit einem Wirkstoff im Rennen. Bei Roche ist es der grosse Tag Ende November, an der Clinical Trials on Alzheimer’s Disease Conference in San Francisco. Die Basler haben zwei Studienprogramme am Laufen. Mit einer Laufzeit von zwei Jahren und 2000 Patientinnen und Patienten gehören die beiden Roche-Studien Graduate I und Graduate II mit dem Wirkstoff Gantenerumab zu den umfangreichsten Alzheimer-Studien aller Zeiten. 3. Wie stehen die Chancen, dass es auch für Roche klappt? Vor der Publikation der Studienresultate von Eisai und Biogen waren die Erwartungen tief. Die Analysten sprachen von «low probability studies», klinischen Studien also, bei denen die Wahrscheinlichkeit sehr klein ist, dass es zu einer Zulassung kommt. Konkret: Die Erfolgschancen liegen nur bei 20 Prozent. Mehr zum Thema: Das Scheitern von Aduhelm: Lessons to Learn Warum das Alzheimer-Medikament Aduhelm nicht auf Touren kommt Aduhelm - Absturz eines Hoffungsträgers: die Hintergründe Doch nun müssen die Investoren über die Bücher. Die Roche-Valoren legten heute Morgen in einem schwachen Marktumfeld um mehr als 5 Prozent zu, die des amerikanischen Pharmakonzerns Eli Lilly machten im vorbörslichen Handel sogar einen Sprung von gegen 7 Prozent. Lorenzo Biasio von der Credit Suisse geht davon aus, dass Gantenerumab bis zu 8 Milliarden Franken Umsatz machen könnte, sollte der Wirkstoff zugelassen werden. Der Konsens liegt bei 10 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Ocrevus, das aktuell umsatzstärkste Produkt von Roche, ein Medikament gegen Multiple Sklerose, machte im vergangenen Jahr 5,1 Milliarden Franken Umsatz. 4. Aduhelm von Biogen wurde gross gefeiert. Jetzt wird es kaum verschrieben. Wie gross ist die Gefahr, dass sich das Drama wiederholt? Der Fall Aduhelm zeigt, wie man es nicht machen soll. Bei Aduhelm wurden die Studienresultate nachträglich anders interpretiert, sodass eine Zulassung möglich war. Zudem waren die Umstände der Zulassung fragwürdig. Das Medikament wurde von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA freigegeben, obwohl das Unternehmen nicht beweisen konnte, dass der Wirkstoff eine klinische Verbesserung bringt; dass es den mit Aduhelm behandelten Patienten und Patientinnen also besser ging als denen, die ein Placebo bekamen. Die Zulassung basierte nur auf einem Biomarker, also der Tatsache, dass der Wirkstoff zu einer Verringerung der Amyloid-Ablagerungen führte. Inzwischen spielt das einst hoch gefeierte Aduhelm bei der Behandlung von Alzheimer kaum mehr eine Rolle. In den USA ist das Medikament zwar zugelassen; es wird aber von den öffentlichen Krankenkassen Medicare und Medicaid nicht bezahlt und deshalb kaum verschrieben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem zweiten Fall Aduhelm kommt, ist klein: Roche-Pharmachef Bill Anderson hat bereits klargemacht, dass sein Unternehmen nicht aufgrund eines Biomarkes für eine Zulassung filen wird. Zudem ist zu erwarten, dass die Basler beim Pricing mehr Fingerspitzengefühl beweisen als Biogen, sollten sie in die Lage kommen, überhaupt ein Preisschild an Gantenerumab heften zu müssen. Was bringt ein hoher Preis, wenn die Gesundheitssysteme die Belastung, die mit einem Alzheimer-Medikament auf sie zukommt, gar nicht tragen können? Das ist die Frage, die man sich in Basel wird stellen müssen. Zur Erinnerung: Biogen stieg bei Aduhelm mit einem Preis von mehr als 50’000 Dollar pro Patient und Behandlungsjahr ein. Das war etwas gar viel für ein Medikament, dessen Nutzen nicht wirklich erwiesen war. 5. Was bedeutet der Erfolg von Eisai und Biogen? Mit den Studienresultaten ist die von vielen abgeschriebene Amyloid-Hypothese wieder zurück. Sie bestätigen, was viele schon vorher vermutet haben: dass es den Patienten und Patientinnen hilft, wenn es gelingt, die Belastung mit Amyloiden im Gehirn zu reduzieren. Die Studienresultate zu Lecanumab sind ein Erfolg. Nicht nur für Eisai und Biogen, sondern für das ganze Feld der Alzheimer-Forschung. Damit ist der Grundstein für ein besseres Verständnis dieser verheerenden Krankheit gelegt. Das könnte dazu führen, dass bei Alzheimer in den nächsten Monaten und Jahren eine ähnliche Situation eintreten könnte wie es sie vor zwei Jahrzehnten bei Krebs. Damals begann man zu verstehen, welche Mutationen zu Krebs führen und welche Rolle das Immunsystem bei der Bekämpfung von Krebs spielt. Das hat die enormen Fortschritte in der Onkologie erst möglich gemacht. Der Anfang dazu ist gemacht.