«Bis ins erste Quartal 2021 werden fünf Impfstoffe verfügbar sein»

Albert Baehny: Möchten Sie gerne einen Kaffee? Mit oder ohne Zucker? Gerne, ohne. Sie sind offenbar nicht nur VR-Präsident von Lonza – sondern auch der Barista, der den Gästen den Kaffee serviert? Warum nicht? Bei Lonza sind wir es gewohnt, anzupacken. Sie sind 68 Jahre alt und stehen mitten im Sturm. Sie präsidieren Lonza, den Schweizer Konzern, der den Covid-19-Impfstoff des US-Biotech-Unternehmens Moderna produzieren wird. Wann ist es so weit? Ich gehe davon aus, dass der Impfstoff noch dieses Jahr von der FDA zugelassen wird. Moderna wird zeitnah eine Emergency Use Authorization (EUA) bei der FDA und bei den wichtigsten Aufsichtsbehörden einreichen. Was macht Sie so zuversichtlich? Sie haben die publizierte Interimsanalyse sicher auch gesehen, sie ist vielversprechend. Pfizer und Biontech haben letzte Woche vorgelegt. Fuchst Sie das ein bisschen? Im Gegenteil, es gab uns Zuversicht. Denn es hat gezeigt, dass die neuartige mRNA-Technologie funktioniert, die Moderna ebenfalls anwendet. Die Impfstoffsuche ist ein Rennen gegen die Zeit. Was nehmen Sie bis jetzt aus dieser Geschichte mit Erstens: Wenn es notwendig ist, kann man schneller und genauso gut arbeiten. Zweitens: Es ist heute unmöglich, die Entwicklung eines Impfstoffs allein zu meistern. Weder die USA, noch Europa, noch Japan können das alleine machen, allenfalls die Chinesen. Ohne Kooperationen geht es nicht? Ja, kein Unternehmen schafft das allein. Jeder Impfstoff, der auf den Markt kommen wird, ist aus der Kombination von Knowhow entstanden. Moderna hat das Grundlagenwissen zur mRNA-Technologie, auf der der Impfstoff basiert; wir haben das Wissen über die Industrialisierung, von Produktionsprozessen. Albert M. Baehny ist seit 2018 Verwaltungsratspräsident der Lonza Group. Neben dem Chemie- und Pharmaunternehmen leitet diplomierte Biologe als VR-Präsident auch den Sanitärspezialisten Geberit. Die Hoffnung auf die Unternehmen ist begründet? Die Unternehmen haben ihre Verantwortung wahrgenommen. Sie haben investiert, ohne zu wissen, ob die Impfstoffe funktionieren werden. Aber wir machen das, weil wir der Gesellschaft helfen wollen. Aber ein Geschäft ist es ja doch auch noch. Was wird Lonza an dem Impfstoff verdienen? Das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Wichtiger ist, dass die ganze Welt sieht, was Lonza in kurzer Zeit erreichen kann. Finden Sie es gut, wenn Regierungen – etwa die deutsche oder die amerikanische – Firmen unterstützen bei der Impfstoffforschung oder dass sie sich sogar direkt am Unternehmen beteiligen? Dass sie sich beteiligen, finde ich nicht gut. Aber es ist unvermeidlich, dass die Regierungen Impfstoffe für ihre Staaten reservieren lassen, auch wenn noch nicht klar ist, ob sie wirken werden.Das Comeback Weg von der Chemie: Lonza, einst Teil der Basler «Chemischen», zählt heute weltweit zu den grössten Pharmazulieferern. Das Unternehmen profitiert davon, dass sich die Pharmaindustrie immer stärker auf Forschung und Entwicklung auf der einen und auf das Marketing auf der anderen Seite konzentriert und die Produktion an Zulieferer auslagert. Übernahmen: Lonza ist unter CEO und Börsenliebling Richard Riedinger in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Sein grösster Coup: die Übernahme des US-Kapselherstellers Capsugel für 5,5 Milliarden Dollar. Anfang 2019 trat Riedinger abrupt ab. Ihm folgte ein kurzes Gastspiel von Spartenchef Marc Funk als CEO. Seit November ist der Rocheianer Pierre-Alain Ruffieux Lonza-Chef. Von welchem Szenario gehen Sie aus? Ich gehe davon aus, dass bis ins erste Quartal 2021 fünf Impfstoffe verfügbar sein werden, die beiden von Pfizer und Biontech und der von Moderna und uns werden noch in diesem Jahr zugelassen werden, die von AstraZeneca, Johnson & Johnson und Novavax werden anfang nächsten Jahres folgen. Russland und China lasse ich jetzt mal beiseite. Von den Impfstoffen von Pfizer und Moderna werden wir bis Ende 2020 maximal 50 Millionen Dosen produzieren können. Und wohin gehen diese Dosen? Sehr wahrscheinlich nach Nordamerika, ans Gesundheitspersonal. Bis Mitte 2021 haben wir vielleicht eine halbe bis eine Milliarde Dosen. Warum? Weil die Amerikaner viel früher als die Europäer in die Impfstoffunternehmen investiert haben und weil sie ihre Kapazitäten reserviert haben. Wann werden wir in der Schweiz genügend Impfstoff-Dosen haben, um die Bevölkerung durch zu impfen? In einem Interview sagte der CEO von Moderna kürzlich, dass die ersten Dosen in der Schweiz im Januar 2021 erhältlich sein werden. Wieviel haben Sie ins Projekt Corona-Impfstoff investiert? Wie gross ist die Produktionskapazität? Lonza wird in dieses Projekt rund CHF 80 bis 90 Millionen Franken investieren. Unsere geplante Produktionskapazität in Portsmouth, New Hampshire, und Visp beträgt 400 Millionen Dosen pro Jahr. Der Druck auf die Zulassungsbehörden ist gewaltig. Besteht da nicht das Risiko, dass ein Impfstoff zu früh zugelassen wird und dass es zu Nebenwirkungen kommt – mit dramatischen Folgen für die Betroffenen und für die Reputation von Lonza? Ich habe Vertrauen in die Technologie, sonst hätten wir den Deal mit Moderna nie gemacht. Zudem: Alle Daten aus den klinischen Tests gehen zuerst an unabhängige Expertinnen und Experten. Diese formulieren dann eine Empfehlung an Moderna, ob das Unternehmen die Zulassung beantragen soll oder nicht. Glauben Sie mir: Noch nie in der Geschichte der Medikamentenforschung wurde ein Wirkstoff so genau unter die Lupe genommen wie die Covid-19-Impfstoffe. Niemand, weder Lonza noch Moderna noch ein anderes Unternehmen noch die FDA, will das Risiko eingehen, einen unsicheren Impfstoff auf den Markt zu bringen. Die Bevölkerung ist verunsichert. Das kommt, weil so viel polemisiert wird. Aber ich habe volles Vertrauen in die Prozesse und in die Institutionen. Vor wenigen Tagen haben Sie Ihr Doppelmandat abgegeben und Pierre-Alain Ruffieux hat als neuer CEO bei Lonza angefangen. Er kommt von Roche, einem Ihrer wichtigsten Kunden. Warum ist er der Richtige? Pierre-Alain Ruffieux kennt das Metier. Er hat bei Roche die Produktion geleitet, er kennt die logistischen Herausforderungen – und er ist sich bewusst, was Qualitätskontrolle bedeutet. Zudem weiss er genau, was unsere Kunden erwarten. Welches sind die grössten Herausforderungen für Ruffieux? Lonza ist in den vergangenen Jahren sehr schnell gewachsen, organisch und durch Zukäufe. Doch die Prozesse haben nicht Schritt gehalten. Das muss sich ändern. Zudem müssen wir bei Lonza einiges bei der Kultur verbessern. Wir haben nicht eine Kultur, sondern wir haben verschiedene Kulturen, in den USA, in Visp, in Basel. Es ist Zeit, eine langfristige Firmenkultur zu entwickeln, auch das ist wichtig. Das machen Sie mit externen Beratern? Solange ich Chairman dieser Firma bin, sage ich: no way. Wir brauchen keine Berater, um für 3 oder 4 Millionen Franken eine Firmenkultur zu implementieren. Das ist die exklusive Verantwortung des Managements. Dieses muss die Kultur der Firma prägen, indem es mit gutem Beispiel vorangeht und die Werte so an die Leute weitergibt. Das kann man nicht kaufen, sondern selbst aufbauen. Sie sind so etwas wie der heimliche Held der Schweizer Wirtschaft. Das sehe ich aber überhaupt nicht so (lacht). Zum Thema: Moderna-Impfstoff könnte bis Sommer 2021 in der Schweiz breit verfügbar sein Bei Lonza liegt die Gewinnmarge bei 35 Prozent; bei Geberit, wo Sie seit 15 Jahren an der Spitze sind, liegt die Marge bei 25 Prozent. Damit sind Sie einer der erfolgreichsten Manager der letzten 15 Jahre der Schweiz. So etwas werden Sie von mir nie hören. Sie haben Margen bei Geberit und Lonza, wie sie sonst nur in der Tech- oder Pharmabranche üblich sind. Das ist richtig. Wir haben bei Geberit fast bessere Margen als bei Lonza, einem Pharmazulieferer. Das Ganze ist optimiert. Wir haben bei Geberit nie gesagt: Jetzt haben wir den Peak erreicht. Das gibt es nicht. Unsere Kultur ist: Wir sind ambitiös, zupackend, bodenständig. Und wir hängen unsere Erfolge nicht ständig an die grosse Glocke. Geberit ist heute an der Börse mehr wert als die Credit Suisse. Lonza zweimal so viel. Darauf können Sie stolz sein. Zugegeben, ich habe Geberit mit einer Marktkapitalisierung von 1,7 Milliarden übernommen, heute ist die Firma 21 Milliarden wert. Aber das ist nicht allein mein Verdienst. Verraten Sie uns die Baehny-Erfolgsformel. Ich habe bei Geberit eine Strategie gewählt und geschaut, dass sie durchgesetzt wurde. Und ich bin fast zehn Jahre lang nicht von ihr abgewichen. Ich bin ein Optimist und glaube, dass jede Firma erfolgreich sein kann. Es gibt keine Entschuldigung. Jede, jeder hat die Möglichkeit, aus einem Unternehmen, seinen Mitarbeitenden, dem Kapital und seiner Innovationskraft das Optimum herauszuholen. Bei Geberit haben Sie viele Leute ausgewechselt. Das ist richtig. In den ersten zwölf Monaten habe ich ungefähr 30 Prozent der Topleute auswechselt, und zwar ohne Destabilisierung oder Angst zu kreieren. Wie geht das? Die Leute kannten die Strategie und wussten, welche Werte wichtig waren, um die Ziele zu erreichen. Mein Ziel war, aus eigener Kraft zu wachsen. Und ich kann Ihnen sagen, der Druck, Übernahmen zu machen, war gewaltig. Die Investmentbanker sind regelrecht auf mich losgegangen und haben mir gedroht: Wenn Sie keine Akquisition machen, werden Sie aufgekauft. Was haben Sie ihnen gesagt? Es gibt genügend Gras für Geberit, wir können auch ohne Zukäufe wachsen. Während zehn Jahren haben wir keine Akquisition getätigt. Obwohl wir ganz viel Cash hatten. Stattdessen haben wir Kurs gehalten – und sind ständig qualitativ gewachsen. Geberit produziert WC-Schüsseln, Lavabos, Duschhähne. Das ist Lowtech mit wenig Innovation. Das sagen Sie. Innovation ist nicht nur bei den Produkten möglich, sondern auch in der Logistik, im Vertrieb, im Marketing und in der Produktion. Vor 15 Jahren habe ich alle Produktionsleiter in Jona zusammengerufen und ihnen gesagt: Liebe Kollegen, in fünf Jahren sehe ich keine Hände mehr in der Produktion, dann ist alles automatisiert. Da haben alle gesagt: Albert, du spinnst (lacht). Und heute? Heute ist alles automatisiert. Deshalb haben wir eine Kostenstruktur, die unschlagbar ist. Und wie geht es bei Lonza weiter? Für mich als Präsident ist die Richtung klar: Wir werden organisch wachsen, wir haben einige Hausaufgaben zu machen – bevor wir neue Akquisitionen tätigen. Wir müssen in unsere Kapazitäten investieren und unsere Prozesse verbessern. Optimieren, optimieren – wie bei Geberit? Es geht nicht darum, Leute zu entlassen, es geht um Effizienzsteigerung und Automatisierung. Ich habe damals bei Geberit jedem und jeder gesagt: Dein Job wird in fünf Jahren noch wertvoller sein. Und zwar nicht nur für Geberit, sondern auch für dich; du wirst besser qualifiziert sein. Genau darum brauche ich dich. Wir haben nie Leute entlassen, um die Marge zu verbessern. Es gab Leute, die diesen Weg nicht mitmachen wollten und gingen. Friss oder stirb? Moment. Jeder hat eine Chance. Aber es ist meine Rolle als Chef, zu sagen, wo wir in fünf Jahren sein müssen. Das hat nichts mit einer Diktatur zu tun. Ich zwinge niemanden zu etwas. Alles ist freiwillig. Der Geberit-Verwaltungsrat hat mich damals als CEO gedrängt, Werke in Europa zu schliessen. Doch das wollte ich nicht. Ich verteidige die Arbeitsplätze in der Schweiz, aber das gelingt nur, wenn alle etwas leisten. Andere Industrieunternehmen lagern nach Polen und Indien aus. Habe ich nie gemacht. Ich sage immer: Unsere Kunden sind vor unserer Haustür. Ich will vor Ort produzieren. Das gibt uns die Flexibilität, die wir brauchen, um unsere Kunden möglichst gut bedienen zu können. Und es vereinfacht die Logistik. Und das ging auf? Es hat funktioniert: Wir hatten weder in der Krise vor zehn Jahren noch jetzt Kurzarbeit. Beide Male habe ich gesagt: Ich zähle auf euch, besucht die Kunden, geht raus, noch mehr als vorher. Die Konkurrenz wird restrukturieren, das wird sie intern destabilisieren. Das ist unsere Chance. Packen wir sie. Wie gut hat das funktioniert? Perfekt. Entscheidend ist, dass man Klarheit schafft. Ein Chef, der nicht weiss, wohin er will und wie er sein Ziel erreicht, hat verloren. Was aber heisst Klarheit? Ich erkläre meiner Mannschaft nicht einfach, dass wir in zwei Jahren in den Himalaya gehen. Ich sagen ihnen, dass wir den K2 besteigen, dass wir die italienische Route klettern, dass wir das im Herbst machen und dass wir den Gipfel im Alpinstil erreichen sollten. Unter dem Strich dürften Sie damit wohl einige Dutzend Millionen verdient haben. Das ist viel zu hoch gegriffen. Bei Geberit waren Sie jahrelang Präsident und CEO, also mit einem Doppelmandat ausgestattet. Wie viel haben Sie da verdient? Ich wurde oft kritisiert wegen des Doppelmandats, weil ich gleichzeitig CEO und VR-Präsident war. Aber bezahlt wurde ich immer nur für den CEO-Posten. Das können Sie in den Geschäftsberichten nachlesen. Ich bin kein Held. Es entsprach ganz einfach meinen Werten. Ich arbeite primär für die Firma, nicht für mich. Sie haben ein Einfamilienhaus in Arlesheim, einem schönen Vorort von Basel. Bauen Sie hier wenigstens alle paar Jahre ein neues Bad von Geberit ein? Nein. Aber ich gebe zu, ich habe ein schönes Haus und einen schönen Garten. Das ist mein einziger Luxus. Ich fahre keinen Porsche, habe keine Harley-Davidson und kein Chalet im Gstaad. Ich wohne schön, aber bescheiden. Ihr grösster Luxus? Sie werden sich vielleicht totlachen. Mein grösster Luxus sind Gartengeräte, ich könnte jeden Monat ein neues Gerät kaufen. Was sagt Ihre Frau, wenn Sie ständig neue Gartenschläuche oder Heckenscheren nach Hause bringen? Sie findet, wir sollten endlich einen Gärtner anstellen, damit ich mir nicht den Rücken kaputt mache. Mein zweiter Luxus sind übrigens die Ferien. Ferien? Sie gelten als Workaholic. Wie viele Stunden haben Sie 2020 gearbeitet? Wollen Sie das wirklich wissen? Gut, wegen des Doppelmandats bei Lonza waren es sicher achtzig Stunden pro Woche. Ferien seien ein Fremdwort bei Ihnen, heisst es. Ich habe in der Tat seit anderthalb Jahren keine Ferien mehr gemacht. Irgendwann aber werden neben der Familie auch der Körper und der Geist sagen: Jetzt ist genug, jetzt musst du mal runterfahren. Und das werde ich tun. Was werden Sie genau tun? Ich gehe gerne in die Berge, die Berge waren schon immer meine Leidenschaft. Dann spielte ich in meiner Jugend sehr viel Klavier – nun nehme ich ab nächster Woche wieder Klavierunterricht. Ich freue mich riesig. Sie stammen aus Payerne im Waadtland. Ein strenger Waadtländer Protestant? Nein, katholisch. Dabei habe ich viel von meinen Eltern mitbekommen, auch an Werten. Ich hatte das Privileg, früh in meiner Jugend sehr viel reisen zu können. Ich war im Himalaya auf Klettertouren. Da wurde mir bewusst, wie privilegiert ich bin. Das hat mich geprägt. Die katholische Kirche unterstützt die Konzernverantwortungsinitiative. Sie zieht gegen die Schweizer Firmen ins Feld und unterstellt ihnen, sie würden Menschenrechte dem Profit opfern. Zu Recht? Ich bin katholisch, aber das heisst nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, was die Kirche macht oder sagt. Von dieser Initiative distanziere mich in aller Deutlichkeit. Lonza und Geberit sind im grossen Stil auf Rohstoffe aus dem Ausland angewiesen. Auch wir setzen uns für Menschenrechte und für Umweltschutz ein. Mit der Initiative aber zieht man sofort vor ein Schweizer Gericht. Das bedeutet Konfrontation. Das ist falsch. Wenn ein Problem in einem Land auftaucht, suchen wir den Dialog mit den Leuten vor Ort und finden eine Lösung.