So gegen 18 Uhr wird der durchschnittliche Franzose zappelig. Dann gelüstet es ihn nach einem Glas mit geistigem Inhalt. Es ist die Stunde des Aperitifs – eine Art Heiligtum in unserem westlichen Nachbarland. Schliesslich haben die Franzosen den Aperitif ja auch erfunden.

Grimod de la Reynière (1758–1838) war eigentlich Advokat am königlichen Gericht. Doch lieber als der trockenen Jurisprudenz widmete er sich den leiblichen Genüssen und überraschte seine vielen Bewunderer mit fantasievollen Festmählern. Statt einer langweiligen Suppe, urteilte der schlemmende Advokat, sollten die Franzosen vor dem Essen lieber aromatisierten Wein oder einen Likör zu sich zu nehmen. Grimod de la Reynières Idee fand Anklang.

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Ausgerechnet im Land des Pastis

Der Begriff Aperitif kommt vom Lateinischen «aperire», was so viel wie «öffnen» heisst. Und zwar den Magen für die da hoffentlich kommenden Köstlichkeiten. Womit der Aperitif die wohl zivilisierteste Form des Alkoholgenusses sein dürfte. Denn es geht eben nicht darum, sich die Nase zu begiessen. Obwohl auch dies vorkommen soll.

Erstaunlicherweise wird im Land des Pastis zum Aperitif gern Whisky konsumiert, am liebsten Single Malt auf Eis, was allerdings jeden gestandenen Schotten mehr grausen dürfte als das Ungeheuer von Loch Ness.

Das Rezept gegen die Isolation

Gerade in ländlichen Gegenden wissen die Franzosen die kommunikative Komponente des Coup davant zu schätzen. Zum Aperitif lädt man einander ganz zwanglos ein. So sieht man seine Nachbarn recht häufig und trifft dort neue nette Leute, wird wiederum von denen eingeladen, bittet selbst zum Umtrunk nach Hause. Und Schluck für Schluck gerät die Institution Aperitif zu einem probaten Rezept gegen die Isolation.

Solche kurzweiligen Treffen sind selten eine aufwendige Geschichte. Ein paar Drinks, kleine Häppchen wie salzige Nüsse oder rohes Gemüse mit Dipp, voilà! Und niemand muss Sorge haben, dass er die Geister, die er rief, nicht mehr los wird. Will heissen: Kein Gast wird sich bis 2 Uhr in der Früh am Wohnzimmertisch festkrallen. Zum Aperitif erscheint man gegen 6 oder halb 7 und verabschiedet sich nach spätestens anderthalb Stunden wieder. Daheim wartet schliesslich noch das Diner.

Italiener hatten Finger im Spiel

Die Franzosen hören es nicht gern, aber wie bereits als Wegbereiter und Ideengeber der Haute Cuisine hatten auch beim Aperitif die Italiener die Finger im Spiel. Die appetitanregende Wirkung in Wein gelöster Pflanzen wurde nämlich schon von den alten Römern geschätzt. Mulsum hiess das Gebräu aus Wein und Honig, das neben Pfeffer und Rosenblättern vor allem Wermut enthielt. Die Patrizier, von Haus aus der Völlerei zugetan, setzten auf die medizinischen Aspekte des Wermutkrauts, das Magenbeschwerden lindern und Halluzinationen hervorrufen soll – willkommener Nebeneffekt einer gepflegten römischen Orgie.

Über die Jahrhunderte wurde immer wieder versucht, des extrem hohen Gehalts an Bitterstoffen im Wermutkraut Herr zu werden. Manch üble Tinktur muss dabei herausgekommen sein, wovon heute noch die Redensart vom Wermutstropfen zeugt.

Die Zuckerrübe brachte den Durchbruch. 1786 brachte Giuseppe Benedetto Carpano in Turin den ersten Marken-Vermouth heraus. Auch die Signori Cinzano, Martini und Campari schrieben dort Aperitif-Geschichte. Als Hauptstadt von Savoyen und Piemont war Turin das kulturelle Bindeglied zwischen Frankreich und Italien. Bald begannen auch die Franzosen, Vermouth herzustellen. Sie verwendeten bessere Grundweine und weniger Zucker und schufen Spitzenmarken wie Lillet und Noilly Prat.

Doch dann kam die «Grüne Fee» und verhexte die Aperitif-Welt. Diesen Beinamen trägt der Absinth allerdings nicht nur wegen seiner grünlichen Farbe. Im Absinth-Rausch soll man sich bestenfalls als edler Beschützer von Frauen, Kindern und kleinen pelzigen Tieren fühlen. Schlimmstenfalls, so die Legende, schneidet man sich wie Vincent van Gogh ein Ohr ab.

Der Absinth ist wieder da

Zu den Liebhabern der «Grünen Fee» zählten Edgar Allan Poe, Henri de Toulouse-Lautrec, Oscar Wilde und Charles Baudelaire. Es hiess, die Spirituose mache wegen ihres Gehaltes an Thujon abhängig und würde zu schweren gesundheitlichen Schädigungen führen. Absinth wurde – auch in der Schweiz – verboten. Erst seit 2005 ist er in der Schweiz wieder erlaubt – mit streng reglementierten Mengen an Thujon. Als Aperitif erfreut sich Absinth, der traditionell mit Wasser vermengt getrunken wird, wachsender Beliebtheit.

Eine glühende Verfechterin eines hochprozentigen Aperitifs war auch Lady Elizabeth Angela Marguerite Bowes-Lyon, besser bekannt als Queen Mum. «Colin, are we at the magic hour?» beliebte die Senior-Chefin der Windsors ihren Majordomus neckisch zu fragen. 18 Uhr, Zeit für ein paar Gläschen vom royalen Lieblingsdrink, zwei Teile Dubonnet und ein Teil Gin. Offenbar hat dieser Aperitif konservierende Eigenschaften, denn Queen Mum wurde 101 Jahre alt.

Gin hat Tradition bei den Briten. In den Kolonien griff man bei Sonnenuntergang beherzt zur Flasche. Bevorzugt mischten die englischen Offiziere Gin mit Tonic-Wasser, das gegen Malaria schützen sollte. Das war die Geburt des Aperitif-Klassikers «Gin and Tonic», hierzulande als «Gin Tonic» verkürzt.

Auch der berühmteste Spion Ihrer Majestät schwört auf Gin zum Aperitif. In «Casino Royale» diktiert James Bond dem Barmann: «Drei Anteile Gordons Gin, ein Anteil Wodka, ein halber Anteil Kina Lillet, gut schütteln, bis er eiskalt ist, und ein grosses Stück Zitronenschale dazugeben.» Ein Dry Martini für die ganz harten Jungs. Die meisten Landsleute von 007 geben indes dem reinen Wodka-Martini den Vorzug – ohne Gin.

Die Verwendung hochprozentiger Spirituosen im Aperitif kam nach dem Ersten Weltkrieg in Mode. Die Cocktailparty galt als eleganteste Form der Vorabendgestaltung. Nicht selten geriet das Essen dabei zur Nebensache, was nachvollziehbar ist, wenn man sein Besteck plötzlich doppelt sieht.

Jack Daniels mit Pflaumen

Eine ganz neue Form des Aperitifs sind die «Antioxidant Cocktails», kredenzt im Londoner Szene-Hotel «One Aldwych». Ein «Bergamot Blue» mit Blaubeeren, Earl Grey und Wodka oder der «Plumb line» mit Jack Daniels und frischen Pflaumen sollen den Geniesser unter dem Motto «Its good for you, dear!» vor allerlei Zipperlein bewahren.