Nach einer Odyssee durch Europa war Massimo Paone in Paris gelandet. Doch dann klingelte das Telefon, und er und seine Frau mussten zum wiederholten Mal die Koffer packen. «Das ist für uns normal», sagt Paone. «Als Offizier habe ich mein Leben Gott gegeben, um in der Heilsarmee zu dienen.» Und er betont: «Da gehört es dazu, überall hinzugehen, wo ich hingeschickt werde.»

Diesmal lautete die Adresse Laupenstrasse 5 in Bern, gleich neben dem Bahnhof. Hier befindet sich das Hauptquartier der Heilsarmee Schweiz, und hier waltet Paone nun seit 1. September 2014 seines Amtes als Territorialleiter Schweiz, Österreich und Ungarn. Die Flaggen der drei Länder flattern an der Fassade der unscheinbaren Zentrale. Unscheinbar ist hier alles, auch die Nachbarschaft: links ein Reisebüro, rechts ein China-Restaurant, das es gemäss TripAdvisor gerade einmal auf Rang 275 der 579 Restaurants in Bern schafft.

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Die Heilsarmee: Dank der Topfkollekte, welche die Heilsarmee-Angehörigen singend, musizierend und in dunkelblauer Uniform in der geschäftigen Adventszeit veranstalten, ist sie als fromme Vereinigung jedem ein Begriff. Doch sie ist weit mehr als das, und das wird am Hauptsitz auch sofort klar: In den Etagen über dem Erdgeschoss mit dem Versammlungsraum, wo die freikirchliche Glaubensgemeinschaft sonntäglich den Gottesdienst abhält, befinden sich lauter Büros. Und dort geht es weltlich zu und her: Die Heilsarmee ist eine weit diversifizierte Non-Profit-Organisation mit Kennzahlen, mit denen sie es locker in die Liste der 500 grössten Unternehmen der Schweiz schaffen würde.

230 Millionen Umsatz

Mit einem Umsatz von rund 230 Millionen Franken spielt sie in der gleichen Liga wie der Zahnbürstenhersteller Trisa, die Optikerkette Visilab oder das Gastrounternehmen Bindella. Die wohltätige Firma zählt hierzulande rund 2000 Angestellte, hat ein Organigramm mit derzeit einer Frau als CEO, einem Personal und einem Marketingchef sowie einem CFO, der alljährlich einen Geschäftsabschluss nach Swiss GAAP abliefert.

Heilsarmee Hauptsitz Bern
Quelle: Remo Neuhaus

Für die Imagekampagnen werden Starfotografen wie Alberto Venzago angeheuert, im Aufsichtsgremium wachen nebst Präsident und Territorialleiter Paone sowie weiteren Offizieren und Soldaten auch Nicht-Heilsarmeeler als unabhängige Experten über Strategie und Geschäftsgang. Alles professionell und transparent – nicht nur auf dem Papier. Auf die Anfrage, hinter die Kulissen schauen zu dürfen, schwingen im Bürotrakt an der Laupenstrasse die Türen auf.

Das Büro des Höchstrangierten Paone befindet sich im dritten Stock. Das Attribut unscheinbar beschreibt auch hier trefflich, was das Auge erblickt: Spannteppich, Pult, Besprechungstisch, Magnetwand mit Organigrammen und einer Karte von Paones Territorium und den dazugehörenden Stützpunkten. Nichts scheint neu, und bis auf zwei Fahnen, die in einer Ecke beim Fenster stehen, sticht auch nichts heraus.

Paone lädt ein an den kleinen runden Tisch, fragt: «Was möchten Sie gern wissen?», und erzählt dann als Erstes von seinem Leben in der Heilsarmee, und das mit einer Stimme, als sei er die Ruhe selbst. Aufgewachsen in einer Heilsarmee-Familie im katholischen Neapel, fühlte er sich bereits als 22-Jähriger dazu berufen, Offizier zu werden. Was nach Ego, Aufstieg und Karriere klingt, ist das Gegenteil dessen: Das Leben eines Heilsarmee-Offiziers gehört nicht mehr ihm selbst, sondern der Heilsarmee. «Es gibt keine Light-Version», sagt der 66-Jährige, «nur entweder oder.»

Massimo Paone, Heilsarmee
Quelle: remoneuhaus.com

Er kandidierte, wurde selektioniert, absolvierte ein Praktikum und schliesslich die zweijährige Ausbildung an der Heilsarmee-Bibelschule in Paris. «Nunbin ich bereits 40 Jahre im Dienst ohne Unterbruch.» In dieser Zeit sind er und seine Familie unzählige Male verpflanzt worden. Die Chronik: Italien, England, Italien, Frankreich, England, Italien, Frankreich, Schweiz. Wo es hingeht, wird im Headquarter in London bestimmt.

Immer mit dabei: seine Frau Jane. «Das ist einzigartig in der Heilsarmee», sagt Paone, «Ehepaare können zusammen arbeiten, manchmal einfach in verschiedenen Jobs, es kann ja nur einen Territorialchef geben.» Seine Frau ist in der Schweiz zuständig für die Abteilung Gesellschaft und Familie, hat ihr Büro ein paar Türen neben seinem. Sie ist Schottin, Offizier und wie er im Laufe der Dienstjahre in den Rang des Kommissärs aufgestiegen. Als es im Mai darum ging, einen neuen General zu wählen, schaffte sie es auf die Shortlist des Wahlgremiums. Wäre sie gewählt worden – als vierte Frau überhaupt und als erste verheiratete –, wohnten sie und Paone heute in London – und er wäre ihr unterstellt.

Die drei Töchter, 34, 32 und 26 Jahre alt, leben in Genf, Paris und Solothurn, zwei haben einen Mann aus der Heilsarmee geheiratet, die älteste nicht. «Wen man heiratet, ist eine persönliche Entscheidung», sagt Paone. «Früher gab es die Regel, dass Offiziere untereinander heiraten sollten.»

50 Millionen Franken an Spenden

Paones Verantwortung wuchs in den vier Jahrzehnten als Offizier laufend, sein Lohn weniger. Denn weltweit gilt: Offizierslöhne können je Land zwar unterschiedlich sein, innerhalb eines Landes gibt es aber ein fixes, transparentes Lohnsystem mit Abstufungen nach Dienstalter. Die Beiträge müssen dann jedes Jahr vom internationalen Hauptquartier in London abgesegnet werden. In der Schweiz verdient der Territorialleiter derzeit brutto 58 800 Franken. Darüber hinaus bezahlt die Heilsarmee die gesamten Pensionskassenbeiträge sowie ein Generalabonnement der SBB. Paone steht zudem ein Dienstwagen zur Verfügung, und er wohnt zu günstigen Konditionen in einer Dienstwohnung im Berner Vorort Herrenschwanden.

Paones Territorium zählt 3860 Mitglieder, davon leben 97 Prozent in der Schweiz. Hier ist die Heilsarmee seit 1882 präsent und hat sich gegen den anfänglichen Widerstand – in manchen Kantonen war sie verboten – durchgesetzt: Sie ist von Genf über Bern und Zürich bis Davos mit 55 Korps aktiv. Das Credo: «Im Namen von Jesus Christus menschliche Not ohne Ansehen der Person zu lindern.» Dass es sich dabei nicht um ein Lippenbekenntnis handelt und wie ernst es ihr damit ist, zu helfen, ohne zu werten, führt sie mit Plakatkampagnen und Imagefilmen eindrücklich vor. Hier die Prostituierte, die friert, dort der Randständige ohne Dach über dem Kopf; die unmissverständliche Botschaft: Die Not allein qualifiziert bei der Heilsarmee Menschen als unterstützungswürdig.

Infografik Heilsarmee
Quelle: Bilanz

 

Das Helfen gelingt der Heilsarmee bislang skandalfrei. Wie kommt das? Paone zuckt mit den Schultern, antwortet: «Vielleicht diszipliniert uns, dass wir versuchen, kohärent zu sein mit dem, was wir glauben.» Vielleicht. Sicher ist: Es zahlt sich aus – «wir werden im Volk breit unterstützt», sagt Paone. «In den letzten drei Jahren lagen wir bei Legaten und Spenden immer über Budget.» 2017 nahm die Heilsarmee mit Topfkollekten, Onlinespenden und Legaten an die 50 Millionen Franken ein.

Öffentliche Hand als grösste Geldgeberin

Das Budget ist die Domäne des 50-jährigen Andreas Stettler, Finanzchef der Heilsarmee Schweiz. Er ist gerade unterwegs in den Katakomben im Untergeschoss der Laupenstrasse, dort, wo auch das kleine Heilsarmee-Museum untergebracht ist. Anders als Paone ist Stettler kein Offizier, wollte das auch nicht werden, sagt, «das wäre mir zu viel gewesen» und «ich wollte gewisse Entscheide für mein Leben nicht an die Heilsarmee abtreten».

Als Mitglied der Heilsarmee lebt zwar auch er abstinent, aber eben freiwillig. Er hat Betriebswirtschaft studiert, danach in verschiedenen Firmen gearbeitet, zuletzt als Verwalter der kantonalbernischen Berufsschule BFF. Seit acht Jahren ist er für die Finanzen der Heilsarmee Schweiz verantwortlich und bezeichnet es als eine seiner wichtigsten Aufgaben, darüber zu wachen, dass das Geld korrekt ausgegeben wird: «Wir haben eine grosse Verantwortung gegenüber den Spendern.» Und auch gegenüber der öffentlichen Hand, wie Stettler ergänzt. Der grössten Geldgeberin der Heilsarmee.

Die öffentliche Hand sind in diesem Fall Kantone und zum Teil auch Gemeinden, die der «friedlichsten Armee der Welt» Aufgaben übertragen wie das Führen von Wohn-, Alters-, Pflege- und Kinderheimen und Unterkünften für Flüchtlinge. 76 Millionen Franken hat dies 2017 in Stettlers Kasse gespült. 70 Millionen Umsatz steuerten die sogenannten «Dienstleistungserträge» bei, worunter alles subsumiert wird, was jene Personen an die Heilsarmee zahlen, die deren Leistungen nutzen. Das erfolgt in Form von Heimtaxen, Kita-Beiträgen oder Übernachtungskosten in Hotels, Ferienwohnungen oder Lagerhäusern. Weitere 22 Millionen Franken verdient die Heilsarmee mit Warenverkäufen, mehrheitlich über die 19 Brockenhäuser.

All das und noch viel mehr steht im Geschäftsbericht der Heilsarmee (siehe Grafik links). Transparenz heisst das oberste Gebot – und ist das grosse Verdienst des schweizerisch-britischen Doppelbürgers André Cox, von 2013 bis 2018 General der Heils armee. Er hat internationale Buchführungsstandards eingeführt und unabhängige Kontrollstellen installiert (siehe auch «General mit Finanzmission» auf Seite 68). Darauf kann sein Nachfolger, der Kanadier Brian Peddle, nun aufbauen. Er ist Ende Mai von den 108 Mitgliedern des Hohen Rats, zu dem auch Massimo Paone und seine Frau gehören, in London zum 21. General gewählt worden.

Finanzanlagen erledigt die Heilsarmee hierzulande mit zwei Banken: mit der Bank CIC Basel und der Privatbank Dreyfus. Die Gelder werden gemäss Stettler «sehr, sehr defensiv» angelegt. Nebst einem Cash-Anteil von gegen 50 Prozent liegen vor allem Kassenobligationen, Festgelder und Aktien vereinzelter SPI-Firmen im Depot – Betonung auf vereinzelt: Wertpapiere von Unternehmen mit Konnex zu Waffen, Alkohol, Tabak, Pornografie und nicht erneuerbaren Rohstoffen sind tabu.

Portfolio mit 150 Liegenschaften

Geht es um Hypotheken, die eine Heilsarmee-Institution braucht, beispielsweise um ein Gebäude zu erneuern oder auszubauen, spielt die Heilsarmee gleich selbst die Bank. Das Ganze findet in einem geschlossenen Kreis statt: Der Heilsarmee gehört das Vermögen, aus dem sie die Hypotheken alimentiert, ihr gehören die Institutionen, denen sie dieHypotheken gibt, und auch die Immobilien, für welche die Hypotheken jeweils bestimmt sind. Schweizweit besitzt dieHeilsarmee rund 150 Liegenschaften.

Diese figurieren «sehr konservativ bewertet» mit 250 Millionen Franken in Stettlers Büchern. Eine Perle in diesem Portefeuille ist zweifellos das fünfstöckige Sandsteinhaus an bester Zentrumslage in Bern, in dem die Heilsarmee-Führung seit über 100 Jahren untergebracht ist. «Dieses Gebäude könnten wir heute nicht mehr kaufen», sagt Andreas Stettler.

Von den Immobilien ist nur ein Teil gekauft. Ein anderer Teil ist geschenkt. Stettler erhält immer wieder Anrufe von Leuten, die ihren Nachlass regeln und die Heilsarmee als Erbin in Betracht ziehen. Dann reist er ins Wallis, in die Ostschweiz, ins Bündnerland zum persönlichen Gespräch. Legate und Spenden sind natürlich willkommen, aber nicht alle: Bindet jemand die Spende an einen Zweck, muss dieser mit dem Leitbild der Heilsarmee übereinstimmen. Und das ist nicht immer der Fall.

Heilsarmee
Quelle: remoneuhaus.com

Etwa bei dem Herrn, der seine Millionen der freikirchlichen Hilfsorganisation vermachen wollte unter der Bedingung, dass diese seiner Tochter zeitlebens 1000 Franken im Monat überweist. Oder bei der Familie, die mitten auf der Skipiste in Les Diablerets ein faktisch unbebaubares Stück Land überschreiben lassen wollte mit der Auflage, darauf ein Kinderheim zu errichten. Ergo hat Andreas Stettler abgewinkt. «Wir sind dem Zweck verpflichtet und müssen ihn erfüllen», sagt er.

Geld aus kriminellen Machenschaften nimmt er freilich nicht an. Bei Überweisungen durch eine Schweizer Bank verlässt der Finanzchef sich darauf, dass die Provenienz entsprechend den Geldwäschereigesetzen geprüft worden ist. Enthalten Legate Schwarzgeld, «was immer wieder vorkommt», nimmt Stettler dankend an und zahlt die Steuern nach, bevor er dieSpende in den Topf legt.

Zitterpartie um Grossauftrag

Ende Jahr steht in Stettlers Erfolgsrechnung immer eine Null. Als steuerbefreite Stiftung darf die Heilsarmee keinen Gewinn machen. Überschüsse werden in Fonds transferiert. Anfang Jahr wird Finanzchef Stettler dennoch etwas nervös. Kommen wieder genug Spenden rein? Laufen die millionenschweren Grossaufträge der öffentlichen Hand weiter? Aktuell heisst dieZitterpartie Flüchtlingshilfe im Kanton Bern. Sie wurde eben neu ausgeschrieben. Verliert die Heilsarmee diesen Auftrag mit einem beachtlichen Volumen von 40 Millionen Franken pro Jahr, muss sie 200 Arbeitsplätze in der Flüchtlingsbetreuung abbauen. Im besten Fall können diese an die obsiegende Konkurrenz weitergegeben werden, im schlimmsten Fall kommt es zu Entlassungen.

Was die Heilsarmee von sonstigen Sozialinstitutionen unterscheidet: Wo Not ist, packt sie schon an, wenn andere über mögliche Problemlösungen erst zu reden anfangen. Das zumindest sagt Philipp Steiner, in der Geschäftsleitung verantwortlich für Marketing und Kommunikation. Er steht im Versammlungsraum im Erdgeschoss des Hauptquartiers, das grosse Kreuz auf der Bühne dominiert die Szenerie. «Die Heilsarmee ist jedenfalls schneller als die Politik», sagt Steiner, «erkennen wir Not, legen wir los.» Auch wenn es kostet wie etwa in Genf, wo die Heilsarmee in den Wintermonaten in einer Zivilschutzanlage und einer ehemaligen Kirche Notschlafstellen eröffnet – auf eigene Rechnung und in Partnerschaft mit anderen Kirchen.

Oder in der «Fabrik» im Liebefeld-Quartier bei Bern: «Hands On» heisst das Projekt, das 30 vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen Struktur und Aufgabe gibt; Deutschkurs am Morgen, Beschäftigung am Nachmittag. Sie zerlegen ausrangierte Velos für Ersatzteile, nähen und bedrucken Taschen aus alten Blachen, flechten Körbe. Die Unikate werden dann zusammen mit Teigwaren in Heilsarmee-Wappen-Form sowie Heilsarmee-Faserpelzjacken und -Hoodies verkauft, unter anderem im hauseigenen Lädeli im Hinterhof des Hauptquartiers.

Stettler und Steiner stehen für die neue Generation von Soldaten. Noch vor 30 oder 40 Jahren waren im Berner Hauptquartier fast alle Mitarbeiter Offiziere in Uniform, heute sind sie dort in der Minderheit. Und Mitarbeiter, ob Mitglied oder nicht, tragen im Büro Jeans und Pulli. «Die Gesellschaft hat sich verändert und mit ihr die Heilsarmee», sagt Stettler in Heilsarmee-Hose, weissem Hemd und Krawatte. «Wer weiss, vielleicht tragen hier in 30 oder 40 Jahren selbst Mitglieder keine Uniform mehr.» Überhaupt: Bei der Selektion des Personals wird heute nebst dem Glauben auch das Fachliche hoch gewertet. Von den insgesamt 35 Heimleitern in der Schweiz sind nur gerade noch zwei Offiziere. 80 Prozent der Mitarbeiter sind nicht einmal mehr Heilsarmee-Mitglieder.

Philipp Steiner, Heilsarmee
Quelle: remoneuhaus.com

Die zunehmende Professionalisierung bei den sozialen Einrichtungen kontrastiert mit der Entwicklung der Kirche, die von den Offizieren und den Mitgliedern getragen und vor allem durch die Abgabe des Zehnten auch finanziert werden sollte. Denn die Subventionierung der rein internen, kirchlichen Angebote durch Spendengelder ist tabu. Inhaltlich hingegen sollten die zwei Bereiche nicht ganz voneinander getrennt werden, warnt Steiner. «Wir müssen aufpassen, dass der Graben zwischen dem Sozialwerk und dem kirchlichen Werk nicht zu gross wird.» Ein Pilotprojekt, das zusammenfasst, was zusammengehört, ist im aargauischen Reinach im Bau: Hier entsteht, was Steiner als «Community Center» bezeichnet, mit Sozialwerk, Arbeitsintegration, Brockenhaus und Kirche unter einem Dach. Ende 2019 soll es eröffnet werden.

Der Finanz- und der Marketingchef stammen beide aus Heilsarmee-Familien, sind wie auch ihre Ehefrauen Mitglied der Kirche. Sie besuchen sonntags den Gottesdienst und haben schriftlich versprochen, auf Alkohol, Zigaretten und sonstige Drogen zu verzichten. Als Angestellte der Heilsarmee sind sie nicht einfach Soldaten, sondern Sergeants, Soldaten mit besonderen Aufgaben. Sie sind zu den gleichen Konditionen angestellt wie Nicht-Heilsarmee-Mitglieder, was unter anderem bedeutet, dass sie mehr verdienen als ihr Chef, Territorialleiter Paone.

Aber weniger, als sie in gleicher Funktion in einem gewöhnlichen Unternehmen verdienen würden: Das Lohnniveau bei der Heilsarmee ist eher bescheiden. Dafür verdienen Frauen und Männer gleich viel, und der Faktor zwischen dem höchsten Lohn und dem niedrigsten beträgt maximal 3,5. Damit ist die Heilsarmee in Bezug auf die Lohngleichheit um einiges radikaler als die Jungsozialisten, die vor fünf Jahren mittels Volksinitiative erfolglos versucht hatten, eine maximale Lohnschere von 1:12 einzuführen.

Wachstum – bittersüss

Qualifiziertes Personal zu finden, ist nicht immer einfach. Doch Steiner wie Stettler können aus dem Stegreif Beispiele aufzählen von Kollegen, die mit dem Wechsel von der Privatwirtschaft zur Heilsarmee saftige Lohneinbussen in Kauf genommen haben – «für einen Job, der Sinn macht». Sinn ist überhaupt ein Lieblingswort von Steiner. Der 48-Jährige, der beim Pendeln im Zug zwischen Bern und seinem Wohnort im Berner Oberland in seiner Bibel-App versinkt, braucht es immer wieder, sagt, es sei das Bedürfnis nach Sinn, das Menschen zur Heilsarmee führe – als Mitarbeiter oder als Mitglieder.

Apropos Mitglieder: Während die Heilsarmee Schweiz als Sozialwerk läuft wie am Schnürchen, ergeht es der Heilsarmee Schweiz als Kirche wie der christlichen Konkurrenz in Westeuropa: Die Mitgliederzahl stagniert – Tendenz abnehmend. Gegründet wurde die Heilsarmee 1865 vom methodistischen Prediger William Booth in Ostlondon als straff geführter, christlicher Kampftrupp gegen das durch die Industrialisierung mitverursachte Elend.

Andre Cox, Heilsarmee

Der General: Der kürzlich zurückgetretene General André Cox auf Stippvisite im Berner Hauptquartier.

Quelle: Remo Neuhaus / PR

General mit Finanzmission

Wie den General der Heilsarmee ansprechen? «Einfach General», sagt André Cox. Der schweizerisch-britische Doppelbürger dirigierte von Sommer 2013 bis Sommer 2018 vom internationalen Hauptquartier in London aus dieHeilsarmee. «Macht und Kontrolle sind aber an die einzelnen Territorien delegiert», sagt Cox, «alles andere würden dieRegierungen ja gar nicht akzeptieren.» In die Annalen wird er eingehen als der, welcher interne Buchführung und Kontrolle von Grund auf modernisiert hat. Bilanz und Erfolgsrechnung der Heilsarmee Schweiz etwa entsprechen heute dank ihm den Swiss-GAAP-Standards.

Cox erklärt die durchgeführten Reformen damit, dass in den 39 Jahren, die er als Offizier gedient hat, der Businessaspekt der Heilsarmee immer stärker geworden sei und damit die Dringlichkeit von international anerkannten Standards. «Es reicht nicht, gute Arbeit zu leisten, wir brauchen jemanden, der dieses Schiff steuert, und unabhängige Kontrollen.» Auf die Frage nach der Bedeutung des Generals sagt er: «Sie ist vergleichbar mit der des Papstes, mit dem Unterschied, dass ich verheiratet bin und meine Frau mich immer wieder daran erinnert, dass ich nicht perfekt bin.»

Wie der Papst ist der Heilsarmee-General oft auf Reisen, trifft Staatsoberhäupter und Lokalpolitiker, deponiert seine Anliegen, entsendet seine Offiziere. Auch in Katastrophengebiete. «Dort sind wir zwar selten die Ersten, die ankommen, aber dafür noch da, wenn die andern und die Kameras wieder weg sind.» Am 2. August wurde Cox vom Kanadier Brian Peddle abgelöst. Nun ist der 64-Jährige in Burgdorf BE bei Kindern und Kindeskindern im Ruhestand, anzusprechen mit General André Cox. Seinen Namen hat er beim Rücktritt zurückbekommen.

Eine Freiwilligenarmee, eingebettet im Geiste Grossbritanniens des 19. Jahrhunderts, als man stolz war auf die Disziplin des Militärs. Seitdem gehören Uniformen und Dienstgrade zur Organisation, die heute weltweit 1,77 Millionen Mitglieder zählt und auf Expansionskurs ist. Inzwischen ist sie in 131 Ländern präsent, im vergangenen Jahr erhielt die Heilsarmee gar eine offizielle Anerkennung durch dieBehörden zweier chinesischer Provinzen. Grundsätzlich bieten sich der Organisation vor allem Wachstumsmöglichkeiten in den armen Ländern Afrikas und Asiens. Ein bittersüsser Erfolg. Denn nicht selten breitet sich die Heilsarmee dort aus, wo sozialstaatliche Strukturen fehlen.

Heisst: Dort, wo die Heilsarmee am stärksten wächst, ist nicht dort, wo die Heilsarmee die meisten Mittel hat. Da sie nicht eine einzige grosse Firma ist, sondern ein Konglomerat aus territorialen Einzelfirmen, kann Geld nicht einfach umverteilt werden. Hingegen liefern alle Heilsarmee-Gesellschaften einen Obolus an die Zentrale in London ab und zahlen in denWorld Mission Fund ein. Dieser zentral gesteuerte Fonds unterstützt weltweit bedürftige Menschen, egal, welcher Religion sie angehören. Aber natürlich verleugnen die uniformierten Heilsarmeeler ihre christliche Herkunft nicht. Werden sie gefragt, geben sie noch so gerne Auskunft. Denn letztlich ist es der Glaube, der sie antreibt.

Die Korpsmitglieder teilen weit mehr als das sonntägliche Gebet, sie treffen sich oft in sogenannten «Hauskreisen», diskutieren oder unternehmen in ihrer Freizeit gemeinsam Ausflüge. Wie eng diese Gemeinschaft ist, stellte Steiner vor ein paar Jahren fest, als er von Bern nach Spiez zog und sein Korps wechseln musste. «Ich habe das unterschätzt», sagt er. «Das war, als hätte ich meine Familie loslassen müssen.» Ein Gefühl, das auch Paone nach all seinen Zwangsversetzungen gut kennen muss, auch wenn er sich nichts anmerken lässt. «Ich bin da, um zu dienen», sagt er. Und er fügt an, dass ja überall, wo man hinkomme, auch immer eine neue Heilsarmee-Gemeinschaft auf einen warte. «Die Sprache kann ändern, aber das Gefühl ist überall das gleiche.»

Iris Kuhn Spogat
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