ENR Russia Invest: Diese Gesellschaft an der Schweizer Börse investiert immer noch in Russland

Bereits der Name irritiert: ENR Russia Invest. Die kleine Genfer Beteiligungsgesellschaft findet sich unter den kaum gehandelten Titeln an der Schweizer Börse. Ihre Spezialität: Investitionen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Und trotz Krieg und Sanktionen setzt ENR heute ausschliesslich auf Russland. Mit der Finanzgesellschaft führt von der Schweizer Börse eine direkte Verbindung nach Moskau und St. Petersburg. Ein Blick in den Anfang April veröffentlichten Geschäftsbericht zeigt: Während sich die meisten der zuvor dort aktiven Schweizer Unternehmen zurückgezogen haben, hat ENR Russland die Treue gehalten. Zum 32-Millionen-Franken schweren Fondsvermögen (Net Asset Value) gehört ein elfstöckiger Büro- und Shoppingkomplex im Herzen von St. Petersburg und eine 50-Prozent-Beteiligung an Russlands grösstem Blumenhersteller unweit von Moskau. ENR macht in Russland Gewinn Zudem ist ENR hälftig an einer Moskauer Tiefgarage beteiligt und hält Aktien des Stahlherstellers Severstal und Obligationen der Bank VTB. Letztes Jahr machte ENR einen Gewinn von 180’000 Franken. Milliardär Georg von Opel ist indirekt beteiligt Zwei prominente Namen stecken hinter der in diesen Zeiten ungewöhnlich anmutenden Finanzgesellschaft: der gebürtige Norweger und Wahl-Genfer Gustav Stenbolt, der ENR präsidiert und über seine Freiburger Bank Valartis zwei Drittel der Anteile hält. Und der deutsche Milliardär Georg von Opel, Spross der berühmten Auto-Dynastie, welcher mit seinem Bündner Investvehikel Athris den Grossteil der übrigen Titel besitzt. Als ENR-Verwaltungsratsmitglied amtet zudem Walter Fetscherin, der früher Schweizer Botschafter in Moskau war. An der Börse ist der Titel letztmals im April vor einem Jahr gehandelt worden. Eine moralische Frage steht im Raum ENR ist seit 2007 in Russland aktiv, doch was früher unproblematisch war, scheint heute fragwürdig: Ist es richtig, von einem Land, welches einen brutalen Angriffskrieg führt, einen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen? Die meisten westlichen Gesellschaften haben auf diese Frage hin eine klare Antwort gefunden und ihre Verbindungen in den Osten gekappt. Ein Engagement in Russland, das sein Nachbarland Ukraine seit über einem Jahr attackiert, gilt auch abseits der Sanktionen als fragwürdig – und als Geschäftsrisiko. Dass ENRs Verflechtung mit Russland heute heikel wirkt, ist auch Geschäftsführer Ben De Bruyn bewusst. «Ich bin überrascht, dass mich Medien nicht schon vorher konfrontierten», sagt er, von der «Handelszeitung» kontaktiert. Ob Investitionen in Russland in der aktuellen Situation verwerflich sind, sieht er als eine offene Frage. Von Krieg ist nie die Rede Bedarf, am Kurs etwas zu ändern, erkennt er nicht. «Dieser Konflikt lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Wir sind schon seit langer Zeit in Russland tätig und sehen keinen Anlass, uns jetzt zurückzuziehen. Als Private-Equity-Investoren haben wir eine langfristige Perspektive», sagt CEO De Bruyn. Mehrheitsbesitzerin Valartis stützt diese Haltung. «Die Investition in Russland ist für ENR Russia Invest gewissermassen Teil der DNA des Unternehmens. Sie aufzugeben, würde Fragen nach dem eigentlichen Zweck des Unternehmens aufwerfen», schreibt der Valartis-Finanzchef in einem E-Mail. ENR hält sich an die Sanktionen Die politische Situation wird weitmöglich umschifft. Im Jahresbericht von ENR wird der Krieg zwischen Russland und Ukraine durchgehend als «Konflikt» oder «Vorfall» betitelt. «Wir äussern uns nicht zur Politik. Und ohnehin ist allen Leuten sehr bewusst, was gerade in der Ukraine passiert», sagt De Bruyn dazu. Juristisch betrachtet ist ENRs Engagement kein Problem, die Gesellschaft verstösst gegen keinerlei Sanktionen. Die westlichen Sanktionen treffen ENR allerdings indirekt, denn sowohl der Stahlhersteller Severstal als auch die Bank VTB sind vom Bannstrahl betroffen, und so sind die von ENR gehaltenen Aktien und Obligationen von den russischen Behörden blockiert worden. 18 Angestellte in Russland Für ENRs eigentliche Geschäftstätigkeit ist Russlands Krieg aber kein grosses Problem. Zwar steht der St. Petersburger Bürokomplex Petrovsky Fort zu einem Fünftel leer, die Mieten hätten sich aber «solide» entwickelt, heisst es im Geschäftsbericht. Und für die westlichen Mieter, welche ihre Flächen aufgeben haben, seien inzwischen russische Ersatzmieter gefunden worden. Noch besser läuft das Geschäft für den Blumenzüchter Kaluga Flower Holding. Die Gewächshäuser sind voll ausgelastet, auf insgesamt 25 Hektaren spriessen über 40 verschiedene Rosenarten sowie Tulpen und Chrysanthemen. «Als grösster heimischer Blumenhersteller sind wird gut positioniert, um Importblumen mit lokal gezüchteten Pflanzen zu ersetzen», ist im Bericht zu erfahren. Insgesamt hat ENR 18 Angestellte in Russland, die sich hauptsächlich um die Verwaltung des Bürokomplexes Petrovsky Fort kümmern. Das BIP ist nur leicht geschrumpft «Die russische Wirtschaft ist nicht so stark geschrumpft, wie alle vorausgesagt haben», sagt Ben De Bruyn. Letztes Jahr ging das Bruttoinlandprodukt um knapp 3 Prozent zurück, ab der zweiten Jahreshälfte 2023 dürfte die Wirtschaft nach Einschätzung der russischen Zentralbank wieder zu wachsen beginnen. «Wenn sich die Rohstoffpreise positiv entwickeln, bin ich für die russische Wirtschaft zuversichtlich», sagt der ENR-Direktor. Zusätzlich investieren will er derzeit aber nicht. Man sei «happy» mit dem Portfolio, sagt De Bruyn. Ein Ausdruck, den man im Zusammenhang mit russischen Investitionen in diesen Tagen auch nicht allzu oft hört.