Erfolgreiche Einwanderer: Der Weg ins Unternehmertum

«Kommen Sie, wann immer Sie wollen. Ich bin da.» Der gebürtige Inder und Schweizer Ghansham Aggarwal ist immer da: für Kunden, für seine Angestellten, für seine Familie und für den Journalisten, der ihn besuchen will. Während Schweizer Unternehmer für einen ersten Kontakt einen oftmals gerne warten lassen, scheint der eingewanderte Unternehmer immer verfügbar. Gelassenheit und Durst nach Neuem als dominierende Kräfte. Wie werden Einwanderer erfolgreich? Können sie auf ein Netzwerk zählen? Ab welchem Punkt wird die Schweiz für sie zur neuen Heimat? Die zweite Frage führt zu einem überraschenden Befund: Kaum einer kann auf die berufliche Hilfe seiner Diaspora zählen. Fünf Unternehmer erzählen Ad hoc sagten fünf Unternehmer zu: ein aus dem Kosovo stammender Unternehmensberater aus Wil SG, ein vietnamesisches Geschwisterpaar aus Zürich, ein Malaie aus Basel, ein kosovarischer Barbier aus Genf und der Berner Ghansham Aggarwal. Aggarwal ist Lebensmittelgrosshändler und -detaillist. Seine Firma importiert Gewürze, frisches Gemüse, gefrorenes Fleisch und Fische, Mehl, Nudeln, Reis, Wraps und fernöstliche sowie afrikanische Markenprodukte. Ihre Kunden sind Restaurants, Shops und Private: Von der Herkunft her sind es Inder, Tamilen, Thailänder, Chinesen, Afrikaner und Schweizer. Letztere machen etwa einen Fünftel der Kundschaft aus und die Nachfrage für Produkte aus Afrika entwickle sich stark. Aggarwal beschäftigt 34 Leute und setzt einen tiefen zweistelligen Millionenbetrag in Franken pro Jahr um. Er hat Erfolg, sein Geschäft wächst und die ganze Familie ist involviert. Doch der Weg dahin war hart. Das fehlende Netzwerk macht es schwerAggarwal kam vor 43 Jahren nach Europa. In Frankfurt war er zunächst Angestellter einer indischen Bank. Dort verliebte er sich in eine Schweizerin und zog ihr nach. In Lausanne begann sein neues Leben als Kellner. «Der Anfang war nicht einfach. Ich bin nur wegen meiner Frau geblieben, sonst wäre ich nach Indien zurückgekehrt.» Er erlebte Rassismus, Zurückweisungen, Demütigungen, wie alle, die in dieser Reportage beschrieben sind, doch keiner will, dass diese Erfahrungen namentlich zitiert werden. Manchmal habe Aggarwal das Gefühl gehabt, «eine Beleidigung für die Leute zu sein». Doch heute, er lacht, seien «die Schweizer meine besten Freunde». Er hatte kein Netzwerk. Inder traf er zwar an Anlässen der indischen Diaspora. Aber geschäftlich nützte ihm dies wenig. Die Idee für den Handel kam bei den wiederholten Besuchen seiner Eltern in der Schweiz. Seine Mutter klagte darüber, dass sie keine indischen Zutaten fände, nicht einmal Kurkuma, das heute jeder kennt. So flog er jedes Mal vor einem Besuch nach London, um bei der indischen Diaspora einzukaufen. Daraufhin riet ihm der damalige indische Botschafter, ein Freund seines Vaters, einen Lebensmittelimport aufzubauen. Auf der Flucht vor dem RegimeNoch schwieriger als der gebürtige Inder starteten die Vietnamesen Thong Quang Lien und seine ältere Schwester Minh Lien. Sie kamen als «Boat People» auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime in Vietnam: Vater, Mutter und zehn Kinder. Thong Quang Lien war damals zehn Jahre alt. Er kämpfte mit der Sprache und fremden Kultur. Nach der Sekundarschule wurde er Maschinenzeichner. Heute führt er zusammen mit drei Geschwistern die New Asia Markets in Zürich und Basel. Auch er sagt, wie Aggarwal, dem Journalisten eingangs: «Kein Problem. Kommen Sie.» Der Fünfzigjährige empfängt den Besucher in einem Hinterraum des Zürcher Ladens. Kein Cheftisch, kein Chefsessel, null Repräsentation, alles ist praktisch und ein Fax – das gibt es noch – rattert in einer Ecke. Seine Schwester und Mitinhaberin Minh mimt die Assistentin: «Wollen Sie einen Kaffee?» Vergebliche Suche nach heimischen GewürzenWie bei Aggarwals suchten auch seine Eltern damals im Coop und in der Migros vergeblich nach essenziellen Zutaten ihrer Küche. So fuhren sie öfters von Basel nach Paris, um im dortigen 13. Bezirk, das damals ein «Little China» war, einzukaufen. «Das war jedes Mal kompliziert», erinnert Lien sich. So kamen sie auf die Idee, einen eigenen Handel aufzuziehen. In Basel entstand ein erster Laden. Der Anfang war schwierig. Kein Netzwerk, keine Unterstützung von niemandem. Die vietnamesische Community war unbedeutend und die Schweizer Gesetze, etwa Zollbestimmungen und Lebensmittelvorschriften, waren kompliziert. Man suchte nach Wegen und habe «einen Freund gefunden, der sich im Gesetz auskannte». Kunden kamen nicht von alleine: «Wir telefonierten jedem Vietnamesen, den wir kannten.» Später kam ein zweiter Laden in Bern dazu und man begann, Restaurants zu beliefern. Der wachsende Erfolg machte eine Neuordnung notwendig: Die vielen Geschwister teilten sich das Geschäft untereinander auf, die einen in Bern, die anderen in Basel. Er und seine Schwester gründeten 2006 den Zürcher Shop und wachsen seitdem weiter dank Kunden aus Asien, der Schweiz und hier ansässigen Europäern. Mehrsprachige Mitarbeiter sind essentiell Das grösste Hindernis im Wachstum sei die Sprache, sagt Lien: «Einen guten Mitarbeitenden zu finden, der Thailändisch, Chinesisch und Vietnamesisch spricht, ist nicht einfach.» Lien selber spricht zwei asiatische Sprachen. Als Detailhändler eine Arbeitsbewilligung aus dem Drittstaatenkontingent zu erhalten, könne man vergessen. Deshalb bleibe die eingewanderte Familie die Basis der Arbeitnehmenden. Das Rekrutierungsproblem gelöst haben die Aggarwals: Seine Frau Francine ist Mitinhaberin und sein Back-up; seine ältere Tochter Sangeeta führt den Verkauf, sein Neffe Amrit die Zentrale in Langenthal BE, sein Bruder Dinesh die Zürcher Filiale und sein Schwiegersohn Karan Katoch die Berner Filiale.Unternehmer in der Pandemie Wirtschaftsführer kennen Krisen. Eine Pandemie hat aber zuvor noch keiner von ihnen erlebt: Was es zu lernen gab und was sie davon behalten. Mehr zum Thema. Nur die jüngere Tochter Chetna studiert Diplomatie, doch auch sie hilft aus. Und schliesslich habe er, so sagt Aggarwal, grosses Glück mit seiner Frau gehabt: «Sie arbeitet doppelt so viel wie ich und ist stets positiv eingestellt. Wir reden nie negativ über Leute. Sonst hätte ich es hier nicht geschafft.» Die Angestellten als GrossfamilieUm diesen Kern herum werden seine Angestellten Teil einer Grossfamilie. Er fühle sich nicht imstande, jemanden zu entlassen, sagt Aggarwal, und er würde zuerst auf seinen Lohn verzichten, bevor er jemandem den Lohn kürzt. In der Corona-Krise hat er niemanden entlassen. Das Konzept der Familie als Angestellte ist die Basis vieler Erfolgsstorys von Migranten. Zum einem spielen die Verfügbarkeit und das Vertrauen eine Rolle, zum anderen die Bereitschaft, Opfer zu erbringen. Davon spricht Barbier Dino aus Genf, wenn er von seinen Angestellten erzählt. Das Wort Barbier steht für Herrencoiffeur. Dino schneidet Bärte und frisiert im Pauschaltarif von 20 Franken pro Schnitt. Er will sich zwar nicht fotografieren lassen, aber auch er erzählt bereitwillig und ohne, dass man mit ihm einen Termin vereinbaren muss, über seine Geschichte. Wie viele Kosovaren ist er als Jugendlicher Mitte der neunziger Jahre vor dem Krieg in seiner früheren Heimat hierher geflüchtet. Vor zehn Jahren – nach der Finanzkrise – war er mit seinem Barbierkonzept einer der Ersten in Genf. Die Idee hatte er von seinem Vater, ebenfalls Barbier im Kosovo. «In der Schweiz war das neu, nicht aber in meiner Heimat.» Barbierkonzept in GenfFamilienmitglieder hatte er nicht, aber seine Mitarbeiter, alles Kosovaren, wurden mit der Zeit seine Vertrauten. «Die meisten arbeiten seit vier bis acht Jahren mit mir zusammen. Die entscheidende Eigenschaft? Sie waren am Anfang geduldig, solange die Ertragslage schlecht war.» Mit der steigenden Zahl der Kunden liess er sie am Erfolg partizipieren. Die jetzige Mode, einen Bart zu tragen, habe ihm sicher geholfen. Den Anteil der Nichtkosovaren unter seinen Kunden beziffert er auf 80 bis 90 Prozent. «Weil wir günstig sind, kommen die Leute mehrmals pro Monat. Dies schafft uns Arbeit», sagt Dino. Erwartet er von seinen drei Töchtern, dass sie ihm dereinst folgen? «Weibliche Barbiere hätten es schwer», glaubt Dino. Er wünscht sich, dass sie studieren gehen und Karriere machen, «so wie die zweite Generation der Italiener, Türken und Spanier». Dass Dino in seinen Töchtern keine Barbiere sieht, versteht Arber Bullakaj, der ebenfalls als Junge aus dem Kosovo flüchtete und hier einwanderte. Der Mensch gehe gerne den Weg des geringsten Widerstands mit grösstmöglicher Sicherheit. Doch er glaubt, dass Dino eine Option hätte: «Ein Franchisekonzept gründen und seine Töchter einbinden», sagt der Unternehmensberater aus Wil SG. Bullakaj berät Kunden bei der Firmengründung. Startup-Gründung in der IT-BrancheEr selber baut derzeit ein Startup auf, das IT-Applikationen entwickelt. Das Produkt werde etwas Einmaliges im Bereich Arbeitszeiterfassung. Genaueres will er nicht verraten. Sein Startup solle gross werden, «in ein paar Jahren mit über hundert Mitarbeitenden», sagt er. Auch er zögert nicht, als der Journalist anklopft. Der gelernte Buchhalter entwickelte sich zum Controller, dann zum Berater für die Anwendung der Software SAP und heuerte bei internationalen Grossfirmen an. Schliesslich war die Zeit gekommen, um sich selbstständig zu machen. Gleichzeitig bekam er Lust, sich politisch zu engagieren. So wurde er Vizepräsident der SP im Kanton St. Gallen. Sechs Jahre dauerte das Mandat. Bei den letzten Wahlen kandidierte er für den Nationalrat. Momentan ist er erster Ersatzmann und würde bei einem Rücktritt ins Parlament nachrücken. Einem beruflichen Netzwerk gehöre er nicht an, auch nicht unter Kosovaren. Er sei nicht der Typ dafür. Von Versuchen, dass Migranten ein berufliches Netzwerk untereinander aufbauen, habe er schon gehört, doch diese seien seines Wissens alle gescheitert. Heimat ist nicht statischHier und da gäbe es kleine Netzwerke: «Aber das sind alte geschlossene Netzwerke unter Bekannten.» Er erhalte Anfragen für Firmengründungen, darunter von Kosovaren. «Ich bin quasi der Heiri des Turnvereins für Migrantinnen und Migranten», sagt er schmunzelnd. Heimat? Ist die Schweiz für ihn eine neue Heimat? Bullakaj sagt, er fühle sich wohl in Wil und möchte mit niemandem tauschen. Das Gefühl der Heimat sei aber nicht statisch und könne mehrere Orte betreffen, zum Beispiel das kosovarische Bergdorf, wo er zur Welt kam. Solange er als Pionier mit Migrationshintergrund angesehen werde, sei die Tat nicht vollbracht. Dass es manchmal länger gehe mit der Heimat, illustriert Bullakaj mit einem Vorbild, dem Swatch-Gründer Nicolas Hayek. Als dieser aus Libanon in die Schweiz kam, wohnte er an zwei Orten, bis er im aargauischen Schinznach-Bad wohnhaft wurde. Dort wollte er eingebürgert werden. Doch sein Begehren wurde abgelehnt. Später zog er nach Meisterschwanden, wo er 1964 Schweizer wurde. Heute ist er dort Ehrenbürger und es sei ihm zu verdanken, heisst es, dass das Dorf die drittgünstigste Steuergemeinde des Kantons sei. Versöhnung mit der HeimatKeine Vorbehalte mehr gegenüber der Schweiz hat der eingebürgerte Lien. Er sagt, er würde «in naher Zukunft nicht in Vietnam leben wollen», er sei gerne hier: «In der Schweiz hat man alles, in meiner früheren Heimat fehlt vieles. Am schlimmsten ist dort die Korruption.» Zwar fliege er jährlich nach Vietnam, besuche Verwandte und schicke seine Kinder dorthin in die Ferien. Aber damit habe es sich auch. Mit der Antwort auf die Frage nach der Heimat zögert der Inder Aggarwal ebenso wenig: «Nach vierzig Jahren sind alle meine besten Freunde Schweizer», sagt er, auch wenn er seiner Community hierzulande bekannt sei. Geradezu ein Talent der Integration scheint der fünfte Unternehmer dieser Reportage zu sein: Jeffery Sandragesan, 72 Jahre alt, Malaie mit tamilischer Herkunft und wohnhaft in Basel. Auch er hat sich wie Aggarwal in eine Schweizerin verliebt. Das war Anfang der siebziger Jahre. Zunächst litt auch er unter der Ablehnung durch Schweizer. Aber auch er hielt durch und begann, auf dem Markt in Basel Curry zu verkaufen. Später gründete er eine Handelsfirma, danach ein indisches Restaurant, dann ein Steakhouse an der Basler Herbstmesse und später ein Thai-Restaurant. «Don't forget your roots»In Basel kennt «den Jeffery» jeder und spricht respektvoll über sein Lebenswerk. «Er ist ein Original», heisst es, «einer, der Basel die asiatische Küche nähergebracht hat», und dies, obwohl seine Restaurants verkauft sind und er pensioniert ist. Auch er ging so wie der Kosovare Bullakaj in die Politik und wurde Grossrat für die Liberal-Demokratische Partei. Er trat zurück, als Malaysia ihn zum Honorarkonsul in Basel ernannte. Seit sieben Jahren vertritt er das Land und handelt mit einigen wenigen Curry-Produkten. Jeffery bedauert, dass viele Eigenschaften, die Unternehmer-Migranten erfolgreich machten, mit der Integration und zweiten Generation teilweise verloren gehen. «Don’t forget your roots!», ruft er den Kindern der Eingewanderten zu. Vergesst eure Wurzeln nicht. In der neuen Heimat wird es offenbar bequem. Der Terminkalender wird wie bei Schweizern immer wichtiger und die Lust zum Experiment nimmt ab. Dann heisst es: «Sorry, keine Zeit. Wir sind ausgebucht», wenn ein Unbekannter anruft.