Gaskrise: Europa zittert schon im Herbst

So etwas hat Andy Sommer noch nie erlebt. Seit Jahresanfang hat sich der Preis für Erdgas vervielfacht. Mehr als 60 Euro bezahlt man derzeit pro Megawattstunde für Gas. 40 Euro kostet die Bestellung per Lieferung im nächsten Jahr. Normalerweise sind diese Preise knapp zweistellig. Wenn überhaupt. «Das ist schon ein aussergewöhnliches Niveau», sagt der Senior-Analyst des Energiekonzerns Axpo. Und versucht, sich einen Reim auf die Entwicklungen zu machen. In den letzten Wochen sind die Preise regelrecht explodiert. Langsam nähren sich bei Händlern und Versorgern Zweifel, ob Europa noch genug Erdgas erhält, falls es zu einem schnellen, kalten Wintereinbruch kommt. So knapp wie jetzt war die Versorgungslage lange nicht mehr. Industrie, Mieter und Hausbesitzerinnen werden bereits zur Kasse gebeten. Einige Regionalversorger wie Energie 360° in Zürich oder die Berner EWB haben auf den Oktober hin die Preise ein erstes Mal deutlich angehoben – je nach Tarif um bis zu 30 Prozent. Und es werden weitere Anpassungen folgen. «Ich bin sicher, dass sich das auf die Endkundenpreise auswirken wird», sagt Thomas Hegglin, Sprecher des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie. «Unklar ist nur, wie sehr.» Auch Hans Wach, Chef des Gasverbunds Mittelland, der unter anderem die Städte Basel und Bern mit Gas beliefert, spricht von einer angespannten Preissituation. «Wenn wir einen kalten Herbst haben, steigen die Preise weiter an – so lange, bis mehr Flüssiggas nach Europa geliefert wird.» Von einer eigentlichen «Panikstimmung» in den letzten Tagen spricht Andreas Tresch vom Unternehmen Enerprice, das Firmen bei der Gas-Beschaffung berät. Auch er hat im Moment viel zu tun. Der Gasmarkt befindet sich im perfekten Sturm. Er habe sich in den vergangenen Jahren stark verändert, sagt Sommer. Wurde Erdgas einst langfristig zu Preisen eingekauft, die an den Ölpreis gebunden waren, kaufen heute viele europäische Abnehmer auf dem kurzfristigen Spotmarkt ein. Und dort schwanken die Preise. Ein Grund für die angespannte Lage sind die leeren Gasspeicher. «Die Märkte wären nicht so nervös, wären die Reserven nicht so tief», sagt Sommer. Normalerweise sind die Gasspeicher im September zu 80 bis 90 Prozent gefüllt, da im Sommer weniger Gas verbraucht wird. Vor einem Jahr lag die Marke bei 94 Prozent. Jetzt aber steht der Zähler in Europa durchschnittlich gerade mal bei 70 Prozent. «Die Märkte sind deshalb viel sensibler geworden», so Sommer. Man könnte es auch nervös nennen. Wer in der Schweiz über Erdgas spricht, meint damit Russland. Fast die Hälfte des hier verbrauchten Gases kommt von dort, der Anteil aus den europäischen Fördergebieten in der Nordsee nimmt fortlaufend ab. Sei es, weil die Förderung aus Umweltschutzgründen ausgebremst wird. Sei es, weil die Felder erschöpft sind. Doch Putins Gas fliesst derzeit weniger schnell, als man das in Europa gerne hätte. Bereits im März sei über die Pipelines durch die Ukraine deutlich weniger angeboten worden als normal, sagt Berater Tresch. Und das hat sich seither nicht gross geändert. Die ganze Branche rätselt: Kann Russland nicht liefern oder will es nicht? Dreht der Staatskonzern Gasprom am Förderhahn, um den Druck auf Europa zu erhöhen, damit die umstrittene neue Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 endlich ans Netz darf? Über diese soll schon bald russisches Gas direkt nach Deutschland eingespeist werden. Putins politische AntwortDie Lieferdrosselung sei Putins politische Antwort auf kritische Töne der deutschen Regierung gegenüber Nord Stream 2 gewesen, findet Gasimporteur Wach. Auch Tresch spricht davon, dass die Russen Druck aufbauten. Indem sie den Druck in den Pipelines reduzierten. Doch so einfach ist das nicht. Nord Stream 2 sei nie als Leistungsausbau geplant gewesen, sagt Axpo-Analyst Sommer. Sondern als alternative Route. Das deutsche «Handelsblatt» zitiert einen Sprecher des deutschen Verbands Zukunft Gas mit der Aussage, Gasprom erfülle sämtliche Lieferversprechen. Gleichzeitig mussten die Russen offenbar eigene Reserven anzapfen, um überhaupt liefern zu können. Weil sie Probleme in der Produktion hatten. Unbestritten ist, dass zusätzliche Gaslieferungen durch die Ostsee den Markt entspannen würden. Eigentlich wäre der Bau der neuen Pipeline abgeschlossen, das Gas könnte fliessen. Doch der normale Prozess sieht noch einmal etwa vier Monate bis zum eigentlichen Betriebsbeginn vor. Bis dann ist es Winter. Werden die Deutschen das Ganze mit einer Sonderbewilligung beschleunigen? Oder kommt es zum Powerplay ums Gas? «Man kann nicht wirklich sagen, ob mehr Gas fliesst, wenn die Pipeline ans Netz geht», sagt Sommer. «Europa hat ein Problem, wenn man nicht auftut», entgegnet Tresch. Doch Russland ist nicht das einzige Problem. Das Gas wäre nicht so knapp, hätte nicht gleichzeitig die Nachfrage so stark zugenommen. In Indien und Brasilien wird mehr Strom in Gaskraftwerken produziert, weil die Trockenheit die Wasserkraftwerke ausbremste. In Europa gab es unterdurchschnittlich viel Strom aus Windkraft. Und weil mittlerweile ein grosser Teil des Erdgases mit Tankschiffen transportiert wird, sind die Märkte zusammengewachsen. Werden in Brasilien höhere Preise als in Europa bezahlt, ändern die Schiffe ihren Kurs. Oder umgekehrt. «Wir haben einen globalen Markt», sagt Sommer. «Der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings in China treibt auch bei uns die Preise.» Auch die verschiedenen Energiemärkte hängen zusammen. So haben die stark angestiegenen Preise für CO2-Zertifikate dazu geführt, dass im Strommarkt Kohlekraftwerke durch Gaskraftwerke abgelöst wurden, weil Letztere weniger CO2 ausstossen. Das hat dann wieder so lange die Gaspreise angetrieben, bis Kohlestrom wieder günstiger wurde. Ein Markt treibt den anderen. Auch Strom ist derzeit so teuer wie seit Jahren nicht mehr. Zu 99 Prozent vom Ausland abhängigDoch der Handel mit Gas ist speziell. Wenn es in der Schweiz regelmässig aus dem Hahn fliessen soll, muss in Russland jemand die gleiche Menge in eine Pipeline einspeisen. Doch anders als Strom ist Gas langsam unterwegs und kann unterwegs gespeichert werden. Rund eine Woche braucht es theoretisch von Sibirien bis Schlieren. Dabei ist die Schweiz zu 99 Prozent vom Ausland abhängig. Nicht nur, weil das Land bis auf ein paar homöopathische Dosen Biogas keine eigene Produktion hat. Sondern auch, weil es keine eigenen Speicher hat. Ohne Importe ist hierzulande nach wenigen Stunde Ende Feuer. Und so sind es zwei grosse Unbekannte, welche die Gashändler mit Blick auf den Winter frösteln lassen: einmal das Wetter: «Kriegen wir eine frühe Kälteperiode, hat dies das Potenzial, die Preise noch weiter ansteigen zu lassen», sagt Sommer. «Wird es dagegen mild, füllen sich die Gasspeicher und es besteht die Chance, dass sich die Preise 2022 erholen.» Und anderseits Putins Taktieren: Kann Russland nicht liefern oder will es bloss nicht? Klar ist, dass das Land von den hohen Preisen profitiert wie schon lange nicht mehr, und wenig Interesse daran haben dürfte, das zu ändern.