Ex-Migros-Chef Herbert Bolliger: «Gefahr der Spaltung»

Als Migros-Konzernchef waren Sie einst der Erste im Büro am Hauptsitz in Zürich. Und heute? Herbert Bolliger: Früher stand ich kurz nach 5 Uhr auf und machte mich auf den Weg, heute wird es schon mal 7 Uhr, dann gehe ich als Erstes mit dem Hund raus. Ich geniesse es, nicht mehr permanent am Drücker sein zu müssen. Nicht am Drücker, aber Sie haben immerhin diverse VR-Mandate. Damit kann ich mir meine Woche freier einteilen, hab mehr Zeit für Sport, kann spontan ein paar Tage wegfahren. Ich vermisse die Hektik und die volle Agenda vom Alltagsgeschäft nicht. Ihre VR-Mandate sind breit, von Wein, Gastro bis zur Bank. Da steht kein Plan dahinter, die Mandate wurden an mich herangetragen. Und so ganz unwissend bin ich im Banking nicht. Immerhin war ich elf Jahre VR-Präsident der Migros-Bank. Diese ist schwergewichtig im Retailgeschäft tätig, BNP Paribas (Suisse) bei der gehobenen Privatkundschaft. Das Retailgeschäft und das Hypothekargeschäft kenne ich tatsächlich gut. Doch das Mandat bei BNP Paribas in der Schweiz hat mich interessiert, weil die Bank in Genf angesiedelt ist und im Firmenkundengeschäft und in der Firmenfinanzierungen stark ist. Auch da habe ich einige Erfahrungen. Aber klar, ich musste mich ins Dossier reinknien. Und im Gastrogeschäft kenne ich mich ja gut aus und fürs Mandat bei Metro brachte ich vielfältige Detailhandelserfahrung mit. Sie waren 34 Jahre bei der Migros. Nie Lust auf etwas Neues? Ich war vor der Migros bei einem anderen Arbeitgeber, aber dann bin ich tatsächlich bei der Migros geblieben. Auch deshalb, weil ich immer wieder neue Aufgaben übernehmen konnte. Ich war im Finanzbereich, in der IT, im regionalen Detailhandel, dann an der Konzernspitze. Langweilig wurde es mir nie. Nie nach draussen geschielt? Einmal habe ich mich kurz umgeschaut, weil ich Probleme mit meinem Chef hatte. Da war ich tatsächlich auf dem Absprung. Aber ich übernahm dann intern einen Job, dadurch hatte sich das Problem gelöst. Sie haben als Konzernchef Hunderte Projekte durchgezogen. Ihr Antrieb? Ich hatte immer den Anspruch, die Nummer eins zu sein im Markt. Neue Dinge anreissen hat die Arbeit vielseitig gemacht. Sie haben auch das Digitale im Migros-Konzern an sich gerissen. Weshalb? Gerissen ist vielleicht übertrieben, ich habs zu mir in die Konzernspitze genommen; und zwar alles, was unter dem Titel Zukunftsprojekte lief. Das hatte vielfältige Gründe, auch weil es da oft Widerstand zu überwinden gab. Die einen meinten: Ach, dieses Projekt ist uns zu teuer. Die anderen sagten: Damit kannibalisieren wir uns. Also übernahm ich die Gesamtverantwortung inklusive der anfallenden Kosten. Sind wir ehrlich: Die im Detailhandel verbreitete Händlermentalität ist eher kurzfristig ausgerichtet, weniger auf lange Sicht. Man schaut auf den schnellen Erfolg und weniger auf den langfristigen. Dieser Typus Manager ist sehr ungeduldig. «Erbslizähler»-Mentalität, wie das im Volksmund heisst? So weit würde ich nicht gehen. Man ist sehr erfolgsorientiert und schaut auf die Zahlen. Diese hat man ja täglich, stündlich auf dem Tisch. Und dann will man dieses oder jenes Produkt, das vielleicht nicht grad läuft, unbedingt voranbringen. Das ist der tägliche, harte Kampf um Marktanteile. Da kommen manchmal Zukunftsprojekte, die einen langen Atem verlangen, zu kurz. Bei der Digitalisierung braucht es Mut zur Kannibalisierung des eigenen Geschäfts. Absolut. Noch schwieriger wirds, wenn man sich aus einem stationären Geschäft heraus digital entwickeln will. Dann besteht immer das Risiko, dass man dem traditionellen Geschäft etwas wegnimmt, wenn man im Digitalen wächst. Da braucht es schon mal den Nerv, das auszuhalten. Und dann gab es immer wieder Diskussionen, ob man diesen Digitalumsatz nicht doch den Regionen zuteilen kann. Ihre Antwort auf das Begehren der Regionalfürsten innerhalb der Migros? Hört auf mit diesem Rumschieben von Umsatz, am Schluss muss es für die ganze Gruppe aufgehen. Diese Diskussion hatten wir auch mit Melectronics. Die Digitaloffensive haben wir zuerst aus dem stationären Geschäft gemacht, sind aber nicht vom Fleck gekommen. Das schafften wir erst, als wir akzeptierten, dass Online keine Grenzen kennt und nur die Kundensicht zählt. Herausfordernd ist auch die Preissetzung. Im Online-Geschäft muss man viel schneller und flexibler sein, weil die Konkurrenz die Preise fast im Minutentakt anpasst. Das kann man im Laden nicht machen. Und wenn man dann noch beim Online-Einkauf bei tieferen Preisen die Ware gratis nach Hause liefert, gibts unendliche Diskussionen mit der Kundschaft im Laden. Da macht man einen ständigen Spagat. Bei Digitec wars anders. 2012 kauften Sie eine Beteiligung an der Plattform, 2015 die Mehrheit. Digitec haben wir stets eigenständig geführt, das war sinnvoll. Sie machten ihre eigene Preisgestaltung, kreierten das eigene Sortiment. Aus der Beteiligung an Digitec haben wir viel gelernt. Wir haben da am Anfang auch nie auf eine Mehrheit im Verwaltungsrat gepocht. Da bestellten wir von der Migros zwei Leute, zwei kamen von Digitec. So bauten wir Vertrauen auf, beliessen die Firmenkultur und den Startup-Groove. Das hat sich bewährt. Die Migros stieg 2012 bei Digitec ein. Wie waren da intern die Reaktionen? Am Anfang brach da nicht die hellste Begeisterung aus (lacht). Sie meinen: Es gab Widerstand. Wie haben Sie die Leute auf Ihre Seite gekriegt? Ich habe offen gespielt und meine zehn Geschäftsleiter aus der Region im «Bellevue» in Bern zur Aussprache getroffen und ihnen den Business-Case erklärt; dort haben wir alle Argumente auf den Tisch gelegt und durchgeknetet. Einer unter ihnen war sehr skeptisch, den Namen Digitec hätte er noch gar nie gehört, das Risiko sei zu gross und so weiter. Später wurde er einer der grössten Promotoren von Digitec. Welcher Regionenleiter wars? Sage ich nicht. Interessant war auch, wie man bei Digitec Projekte durchgezogen hat. Man hat Projekte klar abgegrenzt und proportioniert, sodass man sie in zwei, drei Monaten durchziehen konnte. Um dann das nächste Projekt in Angriff zu nehmen. So hat man bei einem überschaubaren Softwarepaket möglichst schnell einen Prototyp entwickelt, eingeführt und dann das Produkt weiterentwickelt und optimiert. Der traditionelle Ansatz funktioniert anders, da wird ein Projekt über drei Jahre durchgezogen und erst lanciert, wenn alles sitzt. Der zweite Ansatz ist viel aufwendiger und langwieriger. Aber eher üblich in einem Grosskonzern? Wenn man ein Projekt in einem Grosskonzern durchzieht, wirds ganz schnell komplex, man muss an tausend Dinge und Leute denken, mit den Genossenschaften, mit den diversen Finanz- und Logistiksystemen verknüpfen. Da hat man am Schluss unglaublich viele Schnittstellen. Entsprechend nimmt eine Realisierung viel Zeit in Anspruch, oft zu viel Zeit. In einer kleineren Einheit funktioniert das viel einfacher und schneller. Und im Digitalen ist Geschwindigkeit ganz wichtig. Alkohol bei der Migros: Das wird ein Château Compliqué Am 6. November beraten die Migros-Delegierten über den Alkohol-Verkauf in den Supermärkten. Es ist der Anfang einer 32-stufigen Trinkreife. Und wie haben Sie die mächtigen Regionalfürsten, die Chefs der Genossenschaften, unter Kontrolle gehalten? Mein Vorteil war, dass ich aus der Region kam. Ich habe vorher die grosse Region Aare geführt, die sehr erfolgreich war. So konnte ich den Kollegen immer sagen: Komm mir nicht mit dem Argument, das gehe nicht. Schliesslich war ich selber jahrelang an der Front und hab um Umsatz gekämpft. Der Denner-Zukauf 2007 war einer Ihren grossen Coups, auch Coop mischte mit. Auch hier haben wir nicht alles zusammengelegt, nur bei der Beschaffung und bei den Standorten haben wir uns abgestimmt. Diese Eigenständigkeit war wichtig. Die Lancierung von Migrolino? Da war ich selber überrascht, wie schnell wir das Wachstum hinkriegten. Zuerst waren wir bei ein paar Migrol-Tankstellen drin und hatten eine Kooperation mit Valora und den SBB; gemeinsam führten wir die Avec-Läden in den Bahnhöfen. Dann stiegen die SBB aus. Schliesslich haben sich Valora und die Migros auch noch getrennt, weil es nicht mehr recht lief. Dann haben wir die Standorte aufgeteilt. Aufwärts gings erst, als wir mit Shell und später mit Socar ins Geschäft kamen. Da konnten wir unsere Migrolino-Läden sprunghaft ausbauen. Für die Vertragsunterzeichnung mit Socar reisten wir nach Baku. Heute ist Migrolino eine Erfolgsgeschichte. Absolut. Jetzt liegt man bei mittlerweile 500 Standorten, der langjährige CEO Markus Laenzlinger macht einen super Job. Migrolino, Digitec, Denner sind noch heute die Wachstumstreiber im Konzern. Speziell war Ihre Kommunikation: Sie haben immer wieder in die Politik eingegriffen, haben sogar die eigene Werbung kritisiert. Das war meine Art. Ich habe mich gegen aussen stets so gegeben wie gegen innen. Ich wollte mich im Gespräch mit den Medien nicht verstellen. Ich habe das positiv gesehen, authentisch. Auch wenn es manchmal böse Schlagzeilen gab. Heute sind die Interviews mit Chefs sandgestrahlt und kontrolliert. Ja, ich lese heute auch viele davon. Manchmal muss man halt Position beziehen. Ich habe mich auch mit dem Markenartikelverband angelegt, weil die stets behaupten, wir hätten eine riesige Marge. Um das zu widerlegen, habe ich unsere und ihre Kalkulation offengelegt. Was hat Sie zur Weissglut gebracht in all den Jahren an der Konzernspitze? Den Spruch, das geht nicht, habe ich nie akzeptiert. Als wir eine Vereinheitlichung der IT durchgezogen, habe ich das x-mal gehört. Schliesslich zogen wir das grösste SAP-Retailsystem in ganz Europa durch. Alle meinten am Anfang, das würde nie funktionieren. Dann haben wir das mit einer kleinen Gruppe umgesetzt, unterstützt wurde ich vom IT-Chef und von zwei Geschäftsleitern. Als das Megaprojekt zum Laufen kam, sprach sich schnell rum: Wenn der Bolliger etwas anpackt, bleibt er dran (lacht). Am Samstag stimmen die Migros-Delegierten über das Alkohol-Verbot in den Migros-Filialen ab. Die Debatte haben Sie auch schon erlebt. Die Alkoholfrage wurde immer wieder diskutiert. Spontan erinnere mich an die Diskussionen bei der Globus-Übernahme oder beim Kauf von Denner. Speziell war auch die Auseinandersetzung an der Delegiertenversammlung, ob auf den Migros-Golfplätzen nach der Runde noch ein Glas Bier getrunken werden darf. Nach langen Diskussionen stimmte schliesslich die Delegiertenversammlung zu. Sie waren immer skeptisch? Ja, ich war immer skeptisch. Bei solchen Grundsatzfragen besteht die Gefahr der Spaltung, wie bei Glaubenskriegen gibt es am Schluss nur Verlierer. Bis 2023 wird dieses Thema gemäss vorliegendem Zeitplan die Migros belasten und immer wieder medial begleitet werden. Ich würde mir wünschen, dass sich die regionalen Führungsgremien mit einer anderen Frage auseinandersetzen würden: Ist die Organisation mit 10 rechtlich selbstständigen Regionalgenossenschaften noch effizient für den relativ kleinen Markt Schweiz? Herbert Bolliger ist Referent am Direct Day - dem meistbesuchten Fachevent der Dialogmarketingbranche. Am 9. November 2021 im Kursaal Bern. Mehr Infos hier