Thomas Boyer, Chef von Groupe Mutuel über Prämien, Prävention und die Digitalisierung im Gesundheitswesen

Sie waren McKinsey-Berater. Was würden Sie Groupe Mutuel raten? Groupe Mutuel ist in der Schweiz eine tolle Erfolgsgeschichte, das Wachstum ist unglaublich. Noch vor vierzig Jahren waren es 40'000 Kunden, jetzt sind es 1,3 Millionen. Im Bereich Gesundheit sind wir heute der drittgrösste Versicherer für Privatpersonen und auf Rang fünf als Unternehmensversicherer. Die harte Währung im Versicherungsgeschäft sind Mitglieder. Sie haben in der Vergangenheit 300'000 Mitglieder verloren. Das war vor fünf Jahren. Groupe Mutuel ist davor sehr schnell gewachsen, dann hatte man einen Konsolidierungsbedarf und hat die Prämien angepasst – plus 10 Prozent in einem Jahr. Da brachen all jene weg, die wegen der tiefen Prämien gekommen waren. Jetzt aber haben wir die Bestände stabilisiert. In der Grundversicherung? Richtig, aber wir wachsen in der Vorsorge, bei den Zusatzversicherungen und im Firmenkundengeschäft. Sind Junge überhaupt noch an einer Zusatzversicherung interessiert? Die Privat- und Halbprivatversicherung bleibt attraktiv. In der Schweiz haben sich 2,4 Millionen Menschen für eine solche Versicherung entschieden. Für die jungen Menschen müssen wir in Zukunft insbesondere im Bereich der Vorsorge geeignetere Produkte schaffen. Bei der Grundversicherungen dürfen Sie keinen Gewinn machen – ist also wenig attraktiv. So kann man es sehen, ich sehe es anders: Ich bin dagegen, dass bei der Grundversicherung Gewinn gemacht werden darf. Wenn wir nicht fähig sind, in der Grundleistung die verlangte Qualität zu bringen, dann ist das nicht gut. Abgesehen davon ist es für die Versicherten komfortabler, wenn sie Grund- und Zusatzversicherung an einem Ort haben. Und wo stehen Sie heute? Wir sind jetzt nicht in einer starken Wachstumsphase und arbeiten an der Kundenzufriedenheit. Wir stellten fest, dass unsere Prozesse zu komplex sind und zu langsam. Deshalb haben wir über 100 zusätzliche Leute eingestellt, um unsere Kundschaft besser bedienen zu können. Zudem haben wir die Betriebsstrategie geändert: Vorher arbeiteten wir mit externen Maklern, jetzt haben wir einen starken internen Vertrieb. Wir haben das Personal hier innert anderthalb Jahren von 60 auf 500 erhöht. Es grassierte in der Vergangenheit eine grosse Kundenunzufriedenheit. Immer noch? Das war so. Und klar sind wir heute noch nicht dort, wo wir sein wollen. Aber wir verbessern uns schnell. Was zeigen die Daten? In der Romandie sind wir jetzt Leader bei der Kundenzufriedenheit. Wir sind aber derzeit beim Promoter-Score auf dem vorletzten Platz in der Deutschschweiz, das kann ich nicht akzeptieren. Aber wir haben mehrere Initiativen lanciert, die uns nach vorne bringen. Wir haben die Contact Center verstärkt, die interne Ausbildung forciert und leicht zu verstehende Leistungsabrechnungen vor Weihnachten eingeführt. Sie haben eben eine Plattform angekündigt, an der mehrere Akteure beteiligt sind: Medbase von Migros, die Hirslanden-Gruppe, Helsana und Swica. Die drei Versicherungen – Helsana, Swica, Groupe Mutuel – bringen es auf gegen 5 Millionen Mitglieder. Was versprechen Sie sich von einer Kooperation mit Konkurrenten? Wir sind keine Leistungserbringer, also streben wir Partnerschaft an. Unser Ziel ist es, das Gesundheitswesen nachhaltig zu verändern und es effizienter und einfacher zu gestalten. Das ist nur möglich, wenn sich Unternehmen aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens zusammenschliessen und gemeinsame innovative Lösungen entwickeln. Und wie soll die Kundschaft profitieren? Das neue Gesundheitsökosystem heisst Compassana und wird neben digitalen Basisservices wie Symptom Checks, Terminvereinbarungen oder telemedizinischen Konsultationen weit mehr bieten. So werden künftig digital unterstützte und medizinisch optimierte Behandlungspfade für typische Krankheitsbilder möglich. Die Zusammenarbeit von medizinischen Leistungserbringern und Krankenversicherungen eröffnet ganz neue Herangehensweisen an die medizinische Versorgung und deren Finanzierung. Es geht auch um Digitalisierung? Klar, ein Ziel ist es, die Gesundheit zu digitalisieren. Da fängt die Customer Journey mit dem Handy an. Ich habe Symptome und checke via Gesundheits-App, was es sein könnte. Eventuell braucht es Telemedizin; muss ein Arzt, eine Ärztin den Patienten begutachten, dann kann man via App einen Termin buchen. Wichtig ist, dass die Daten im System bleiben und im Eigentum des Patienten, der Patientin sind. Wir wollen die Patienten begleiten und unnötige Termine bei Ärzten vermeiden. Tönt gut, aber die Nachfrage steigt laufend. Wir haben ein tolles Gesundheitswesen. Aber es ist sehr teuer, dieses können wir uns nicht mehr leisten. Die Leute werden immer älter, die arbeitende Bevölkerung nimmt ab. Diesen Kostentrend müssen wir brechen, sonst geht das Gesundheitssystem kaputt. Wir müssen das Gesundheitssystem wahren, aber auf einem anderen Kostenniveau. Da müssen wir viel energischer zupacken und die Eigeninteressen zurückstellen. Deshalb streben wir einen gemeinsamen Ansatz an, mit der Konkurrenz, siehe oben. Aber auch im Dialog mit den Versicherten. Es kann doch nicht sein, dass sie auf günstigere Generika verzichten. In der Schweiz werden sie gerade mal bei einem Viertel der Fälle eingesetzt, in Deutschland bei 80 Prozent. Braucht es eine schärfere Regulierung oder eine Einschränkung der Kassenpflicht auf das jeweils günstigste Produkt? Nehmen wir das Beispiel Generika. Wir haben das Referenzpreissystem unterstützt, welches der Bundesrat vorgeschlagen hatte. Dabei wird für einen bestimmten Wirkstoff ein maximaler Preis festgelegt, der von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet wird. Mit diesem System sollten Anreize geschaffen werden, sodass der Patient oder die Patientin bei möglicher Austauschbarkeit eines Medikaments das günstigere wählt. Leider wurde dieser Ansatz vom Parlament abgelehnt. Dass die Kosten aus dem Ruder laufen, ist bekannt. Aber es passiert zu wenig. Richtig. Es gibt sehr viele Einzelinteressen. Mein Sohn war kürzlich in einem Spital in Genf. Später wechselte er in eine andere Klinik. Und dann wollte das erste Spital seine Untersuchungsergebnisse nicht rausrücken, stattdessen hätte das zweite Spital dieselben Tests nochmals machen müssen. Das ist verrückt. Unter dem Strich sehe ich im Gesundheitswesen ein Sparpotenzial von 10 Prozent. Es gibt viele Startups im Gesundheitswesen. Die Rettung? Sind innovativ, aber oft zu klein und tun sich schwer im regulierten Umfeld. Aktuell haben wir ein Startup-Programm in Partnerschaft mit EPFL mit Fokus auf Frauengesundheit, was sehr erfolgversprechend ist. Am Schluss sind jene Versicherer entscheidend, welche die Innovationen in ihr Geschäftsmodell integrieren können. Die Digitalisierung bringts? Sie ist unglaublich hilfreich, aber rein digital geht es auch nicht. Wenn jemand leicht krank ist, reicht eine digitale Plattform, auf der man sich beraten lassen kann. Aber wenn man ernsthaft krank ist, braucht man eine Fachperson, etwa einen Arzt oder eine Physiotherapeutin oder allenfalls ein Spital. Was kann Blockchain-Technologie bieten? Eine rasche Prämienanpassung – je nach Risikoanalyse? Sodass es beim Skifahren teurer wird? Ich habe noch keine Anwendung gesehen, die das möglich macht. Wir sind zudem in einem regulierten Markt. Da kann man nicht einfach die Verträge ändern, wenn man in die Berge fährt, schon gar nicht bei der Grundversicherung, die fix ist. Ich wäre schon mit einem elektronischen Patientendossier zufrieden. Wann kommt das elektronische Dossier? Die Schweizer Post hat eine Initiative gestartet, die Swisscom auch. Hoffentlich geht es gut. Allerdings macht mich die Erfahrung mit der Swiss ID nicht übermässig zuversichtlich. Sobald es um persönliche Daten geht, werden die Leute hellhörig. Vielleicht haben die staatsnahe Post oder die Swisscom mehr Erfolg. Es wird also noch Jahren dauern? Hoffe ich nicht, als potenzieller Patient finde ich das schlecht. Und wie bringen Sie mehr Innovation in Groupe Mutuel? Vor drei Jahren, also vor meiner Zeit, wurde ein Accelerator geschaffen, Innopeaks. Ziel war es, disruptive Innovation zu verstehen. Für meine Begriffe war dieses Projekt etwas weit vom Kerngeschäft, deshalb haben wir es vor einem Jahr näher zu uns genommen. Nun sind wir an einem Angebot zur psychologischen Gesundheit, das wir mit der EPFL vorantreiben. Da konzentrieren wir uns seit einem Jahr auf die weibliche Gesundheit. Auf Fragen wie: Müssen wir spezielle Versicherungsprodukte für Frauen lancieren? Oder: Wie können wir sie am Arbeitsplatz besser schützen? Wichtig ist, dass die Leute sehen, dass daraus konkrete Produkte entstehen, die einen Mehrwert liefern, etwa eine App oder ein Angebot. Kein Generationen-Clash bei der Groupe Mutuel? Nein, es braucht vielfältige Qualifikationen, Erfahrung, Branchenwissen oder technisches Know-how zur Datenanalyse und auch Datenanalysen. Wir haben bei uns einen Altersdurchschnitt von unter vierzig Jahren; einige Mitarbeitende sind erst seit kurzem dabei, andere seit über dreissig Jahren. Für uns ein äusserst konstruktiver Mix. Aber es braucht immer wieder ein Umdenken bei allen, auch bei der Kundschaft. Wir waren in der Vergangenheit die «Krankenkasse», ein schreckliches Wort. Unsere Zuständigkeit ist ja die Gesundheit. Und ich denke, dass wir in der Vergangenheit der Kundschaft nicht genügend Mehrwert boten. Da sehe ich ganz viele Möglichkeiten. Nämlich? Wir können viel stärker in der Prävention sein. Indem wir zum Beispiel der Kundschaft sagen, was sie weiterbringt. Wir sehen aufgrund der Datenanalyse, dass bei gewissen Medikamenten, wenn man sie über Jahre nimmt, das Risiko für gewisse Nebenwirkungen steigt. Oder wir sehen einen Patientennutzen, wenn jemand vor einer Hüftoperation in der Physiotherapie war. Dann ist die Erfolgsquote nach einer Operation deutlich höher. Das hilft allen. Diese Art der Empfehlung bieten andere schon lange, etwa bei Reisen. Wir können bei der Prävention mithelfen, aber wir müssen realistisch sein. Die Daten geben einiges her: Wir sehen, wer welche Medikamente bezieht, wer welche Behandlung hat. Aber wir wissen in der Regel nicht, woran jemand konkret leidet. Prävention ist ein grosses Thema für Sie. Niemand kennt seine Kundschaft besser als eine Versicherung. Nicht einmal der Banker. Das ist im Ansatz richtig, aber es gibt schon noch Firmen, die ihre Kundschaft besser kennen als wir, etwa Migros, Coop oder andere Retailer. Die sehen, was die Kunde X und Kundin Y kaufen. Wir haben Einblick, aber nur beschränkten. Aber klar will ich unseren Kundinnen und Kunden konkrete Tipps geben, wie sie ihren Nutzen erhöhen können, ihre Gesundheit verbessern. Da sehe ich unsere Rolle. Aber Vorsicht, wir sind keine Leistungserbringer, sondern müssen zur Angebotsverbesserung mit Spitälern und Ärzten zusammenarbeiten. Nur Zahlstelle sein genügt uns nicht. Die Digitalisierung ist bei der Angebotsausweitung sicher hilfreich. Damit steigern Sie das Erlebnis Ihrer Kunden. Absolut, ich höre zwar in der Branche immer wieder Stimmen, die das nicht glauben. Weil die Leute noch nicht reif dafür seien. Das ist falsch, schon gar nicht trifft es für die jüngere Generation zu. Klar, bei einem Sachversicherer wird die App selten benutzt, nämlich nur dann, wenn er oder sie einen Schaden hat, also vielleicht alle drei Jahre. Bei uns sind die Frequenzen viel höher, das bietet Möglichkeiten zur Interaktion. Und wie wird Ihre Groupe-Mutuel-App benützt? Wir haben 1,3 Millionen Kunden, davon benützen 350'000 die App. Die Zahl steigt laufend, vor allem bei den Jüngeren. Die ältere Generation steigt kaum um. Und wie hat Sie Corona getroffen? In der ersten Welle 2020 lagen die Gesundheitskosten tiefer, weil Operationen verschoben wurden. Unter dem Strich blieben die Kosten deshalb stabil. Und 2021? Da steigen die Gesundheitskosten schweizweit massiv. Davon war 1 Prozent Corona geschuldet, dann gabs einen Nachholbedarf wegen verschobener Operationen. Am Schluss landen wir bei Groupe Mutuel bei einem Plus von rund 5 Prozent für 2021. Für die Schweiz halte ich Mehrkosten von 5 bis 6 Prozent für realistisch. Über die zwei Corona-Jahre wäre das ein Jahresplus von ungefähr 3 Prozent. Das ist im Schnitt der letzten Jahre. Und was heisst das für die Prämien? Die steigen entsprechend? Grundsätzlich folgen die Prämien den Gesundheitskosten. In den letzten Jahren haben wir Reserven für unsere Versicherten eingesetzt, um für sie die Prämien stabil zu halten. Im letzten Jahr waren es 113 Millionen. An diesem Prinzip möchten wir in den nächsten Jahren festhalten. Das kann es nicht sein, die Löhne steigen nicht um 2 oder 3 Prozent. Absolut, ich habe ja gesagt, wir müssen diesen Trend brechen. Wir müssen Einsparungen durchsetzen, mittlerweile nimmt das Gesundheitswesen mehr als 8 Prozent des Haushaltsbudgets weg. Das kann es nicht sein. Wir sind manchmal ineffizient und haben eine Mengenausdehnung, auch weil die Anreize falsch gesetzt sind. Sie hätten es in der Hand, wenn Sie Listen von Leistungserbringern publizieren, die überrissene Rechnungen stellen. Das wäre heikel. Ich wäre eher für ein System wie Tripadvisor, für eine Plattform also, wo Patientinnen und Patienten ihre Erfahrungen bei einem Leistungserbringer schildern und das Spital oder die behandelnde Ärzteschaft bewerten. Heute ist es so, dass ich mir bei einer Hotelbuchung die Ratings anschaue und die Erlebnisberichte der Gäste lese. Wenn ich aber in eine Klinik muss oder zu einem Arzt, habe ich keine Qualitätskriterien, die mich leiten können. Ihre Forderung? Einen Paradigmenwechsel: Wir wollen die Qualität ins Zentrum rücken. Wir möchten dann zahlen, wenn die Behandlung stimmt. Deshalb haben wir mit dem Unispital in Basel und dem Spital La Tour in Genf ein Pilotprojekt lanciert. Wir wollen Qualität messen, allerdings ist das nicht einfach und geht über die Bewertung des Patienten hinaus. Diese Qualitätsmessung wollen Sie auf wichtige Erkrankungen oder Operationen ausdehnen – damit der Patient am Schluss weiss, das Hüftgelenk muss ich im Spital X operieren und das Herz in der Klinik Y? Informierte und selbstbestimmte Patienten sind uns wichtig. Daher empfehle ich allen Patienten vor der Spitalwahl den Spitalfinder.ch zu konsultieren. Bei der Qualitätsfrage geht es uns nicht nur um medizinische Kriterien, sondern vor allem auch um die vom Patienten wahrgenommene Qualität. Es geht um die Frage, ob das Therapieziel erreicht wurde, der Patient schmerzfrei ist und so weiter. Der Nutzen und Mehrwert für den Patienten müssen vermehrt im Zentrum stehen.

Thomas Boyer, Chef von Groupe Mutuel über Prämien, Prävention und die Digitalisierung im Gesundheitswesen

Groupe-Mutuel-Chef Boyer: «Nur Zahlstelle wollen wir nicht sein»