Wenn Heinrich Brändli über Reformbedarf in der Schweizer Verkehrspolitik spricht, dann spricht er über Kostenwahrheit. «Es gibt nur wenige Güter, deren Verteilung nicht über den Preis geregelt wird, sondern allein über die Verfügbarkeit. Der Verkehr zählt dazu. Und das ist schlecht», findet der emeritierte ETH-Professor für Verkehrsingenieurwesen. Weil Nutzer den Verkehr nicht nach seinen tatsächlichen Kosten berappen müssen, werde es immer Engpässe geben, ist er überzeugt. Denn bei einer schrittweisen baulichen Engpassbeseitigung verlagere sich das Nadelöhr immer weiter, würde aber nie verschwinden. Als Beispiel nennt Brändli den Baregg-Ausbau im Kanton Aargau.

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Die Engpässe könnten sich dramatisch auswirken: Laut Bundesamt für Raumentwicklung wird der Verkehr auf Schiene und Strasse bis ins Jahr 2030 um 15 bis 29% zunehmen. Stau und stockender Kolonnenverkehr auf Strassen sind programmiert. Denn obwohl der Schienenverkehr 7% stärker wachsen wird als die Blechlawinen auf den Strassen, wird der motorisierte Individualverkehr 70% des gesamten Verkehrs ausmachen.

Radikal höhere Tarife

Für Brändli gibt es deshalb nebst Infrastuktur- und Verkehrsmassnahmen sowie Betriebskonzepten nur eine einzige Lösung; nämlich echte, leistungsabhängige Preise. «Ich unterstütze die Kostenwahrheit im Verkehr», sagt Brändli, «allerdings unter Anrechnung der quantifizierbaren externen Kosten und der definierten gemeinwirtschaftlichen Leistungen.» Das bedeutet im Klartext: Radikal höhere Tarife. Für das Inkasso im Strassenverkehr schlägt Brändli höhere Treibstoffpreise und Knappheitselemente wie Roadpricing vor, Gebühren also für die Nutzung der Strassen in Städten.

Die laufende Diskussion um Roadpricing vergleicht Brändli mit dem Kampf um Parkgebühren, wie er vor mehr als einem Vierteljahrhundert stattfand. «Niemand erinnert sich mehr, dass die ersten Parkuhren sogar vom Bundesgericht bewilligt werden mussten. Heute ist es längst normal, zur Stosszeit mitten in der City einen Parkplatz zu finden, aber dafür ein Vielfaches von einem Parkplatz in der Agglomeration zu bezahlen. Genauso wird es mit dem Roadpricing sein», glaubt er.

Man werde sich an höhere Preise im Verkehr gewöhnen müssen. «Eine Preissteigerung ist nicht assozial», findet Brändli, «eine Bratwurst kostet auch für alle gleich viel. Die Bürgerinnen und Bürger finanzieren bereits heute den Verkehr. Nur sind sie sich dessen nicht bewusst, weil sie das über Steuern tun.» Müssten die Leute ihren Verkehrskonsum selbst bezahlen, würden sie ihn bewusster nutzen und auch weniger. Einen Effekt verspricht sich Brändli nicht zuletzt beim Freizeitverkehr. Dieser macht 45% des motorisierten Personenverkehrs aus und trägt beträchtlich zu den Staus bei.

Für Brändli gibt es noch einen anderen Grund, über das Verursacherprinzip neue Finanzierungsquellen zu erschliessen: Immerhin stellte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jüngst in einer Studie fest, dass in den nächsten 20 Jahren immer mehr Länder Mühe haben werden, ihre Infrastruktur über die bestehenden Quellen zu finanzieren. Ursache dafür sind die Überalterung der Bevölkerung und die steigenden Sozialausgaben, die ein Loch in die Staatskassen reissen.

Kostenwahrheit fordert Rentner Brändli aber nicht nur für die Verkehrsnutzer, sondern auch für die Infrastrukturanbieter Bund und Kantone. «Soll der Regionalverkehr nicht unter die Räder geraten, müssen die Kantone mehr Geld in die Infrastruktur investieren», ist er überzeugt. Es gehe nicht an, dass der Bund auch für die ergänzenden Netze im Regional- und Agglomerationsverkehr aufkommen müsse.

Mit anderen Worten: Niemand soll von Service public reden und jammern, wenn Bahnlinien in den hintersten Winkeln der Schweiz sterben. Die betroffenen Kantone sollen es selbst in die Hand nehmen zu bestimmen, wie viel Infrastruktur sie benötigen. «Dabei geht es nicht nur um die Randregionen. Ebenso wichtig ist die Finanzierung der S-Bahninfrastrukturen in den Agglomerationen», so Brändli.

Mehr Mut auf der Schiene

Kostenwahrheit und ganzheitliche Betrachtung fordert der Bahnexperte auch bei der Trassenvergabe. Das ist die Zuteilung der Fahrplantrassen in einem bestimmten Zeitfenster. «Die Trassenvergabe wird zu wenig unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit, den Preisen und der Verfügbarkeit betrachtet», warnt Brändli. Das ist relevant. Denn unterschiedliche Zugsgeschwindigkeiten führen zu weniger potenziellen Fahrten auf einer Strecke. Gegenseitig drohen sich Güter-, Regional- und Fernverkehr zu blockieren. «Auch hier», findet Brändli, «sollte man den Mut haben, unterschiedliche Preise für unterschiedliche Geschwindigkeiten im Verhältnis zu beispielsweise einer vorgegebenen Richtgeschwindigkeit zu verlangen.»

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Serie: Reformdebatte Schweiz (3) – Heinrich Brändli

Bereits erschienen sind die Reformideen von Walter Wittmann, emeritierter Professor («Handelszeitung» Nr. 27), und George Sheldon, Professor an der Universität Basel (Nr. 28). Nächste Woche erscheinen die Reformideen von Bruno S. Frey, Professor und Glücksforscher an der Universität Zürich.

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Fakten

Zur Person

Heinrich Brändli

Der emeritierte Professor für Verkehrsingenieurwesen an der ETH Zürich hat vor seiner Wahl zum Professor zwölf Jahre für die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) gearbeitet und in dieser Funktion auch die Betriebsprojektierung der

U-Bahn geleitet. Der Bauingenieur hat die Swiss-Rail mitbegründet und war zehn Jahre lang Präsident der Swiss-Rail Export Association (heute Swiss-Rail Industry Organization).



Verkehr

Die Probleme

Die Radiomeldungen zeigen es täglich morgens und abends: Stau zwischen Rubigen und Muri bei Bern, Stau am Gubrist, Stau am Brüttiseller Kreuz. Die Liste könnte beliebig verlängert werden. Der Verkehr auf Schiene und Strasse wird gemäss dem Bundesamt für Raumentwicklung bis zum Jahr 2030 um 15 bis 29% zunehmen. Dadurch werden auch die Engpässe auf der Strasse zunehmen. Daneben drohen der Schweiz Finanzierungsprobleme. Denn die demographische Entwicklung und die wachsenden Sozialausgaben werden die knappen Staatsmittel in Anspruch nehmen. Für den Verkehr sind deshalb neue Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen.

Brändlis Lösungen

• Kostenwahrheit bei der Verkehrsnutzung einführen, in dem verursachergerechte Tarife gesetzt werden.

• Massnahmen einführen, die Knappheit einen Preis gibt, wie zum Beispiel Gebühren für Strassennutzung (Roadpricing).

• Die Kantone müssen vermehrt selber für die Finanzierung der Infrastruktur im Regionalverkehr aufkommen.

• Bei der Trassenvergabe ganzheitliche Sicht haben.