Interview mit IMD-Professor Stefan Michel zum Konkurs des Reformhauses Müller und anderer Pioniere

Nach fast hundert Jahren am Markt das brutale Aus: Diese Woche musste die Schweizer Reformhauskette Müller all ihre 37 Filialen schliessen. Der 1929 gegründete Bio-Trendsetter der ersten Stunde verlor zusehends Terrain an die Schweizer Grossverteiler. Coop, Migros und Co. beackerten das Thema stark, bauten ihre Bio-Sortimente aus und konnten mit tieferen Preisen als Müller punkten. Der Untergang von Müller wirft Fragen auf: War es der «Fluch des Pioniers», der das Traditionsunternehmen killte? Wurde der Bio-Wegbereiter zum Opfer des eigenen Erfolgs? Was sich Trendsetter dabei ständig fragen: Was können Pioniere tun, um sich gegen die Mainstream-Konkurrenz zu wehren? Und: Lohnt es sich überhaupt, als Pionier einen Markt zu kreieren? Stefan Michel, Professor für Marketing und Strategie am International Institute for Management Development IMD in Lausanne (mehr zur Person hier), nennt Strategien, damit Pioniere nicht das Schicksal von Müller erleiden. Das Aus der Reformhauskette Müller wird als Fluch des Pioniers dargestellt, der mit den Preisen der Grossverteiler nicht mithalten konnte. Schwache Ausrede oder starker Punkt? Ich denke, es war der Fluch des Pioniers. Müller ist ein gutes Beispiel für die strategische Grundsatzfrage bei Innovatoren. Wobei das Preis-Thema nicht die Ursache ist, sondern die Konsequenz. Die Konsequenz wovon? Müller bewirtschaftete mit seinem Angebot eine Nische, was lange gut lief. Typisch für solche Nischenanbieter ist es, dass ihr Geschäftsmodell nicht mehr mithalten kann, wenn das Thema zum Mainstream wird. Gegenüber den Grossverteilern haben kleine Anbieter naturgemäss Nachteile bezüglich Einkaufsmacht und Kostenstruktur. Die tiefen Preise der grösseren Konkurrenten sorgen dann noch für den Rest. Zur Person Stefan Michel ist Professor für Marketing und Strategie am IMD in Lausanne. Der einstige Banker (Bank Leu und Credit Suisse Group) und spätere langjährige Associate Professor an der Business School Thunderbird in Arizona, USA, sitzt heute auch in den Verwaltungsräten des Zuger Schrauben-Konzerns und Tesla-Lieferanten Bossard Group sowie des Luzerner Regalsystem-Anbieters Peka. Kleine Pioniere könnten verstärkt auf exklusive Sortimente oder starke Kundenbindung setzen. Theoretisch ja. In der Realität ist es aber oft so, dass der kleine Anbieter Kundschaft an die Grossen verliert und auch mit exklusiven Sortimenten zu wenig punkten kann. Bei der Kundenbindung gelangen sie bald an eine Schmerzgrenze, weil effiziente Systeme zu teuer sind. Die strategische Komponente bei solchen Pleiten zeigt sich dann so: Was man zu Beginn als Vorteil hatte – eine Nische entdeckt und zur richtigen Zeit die richtigen Sortimente bereitgestellt –, geht verloren, wenn das die grössere Konkurrenz auch bewirtschaftet. Ich kenne das aus meiner eigenen Arbeit sehr gut. In welcher Art? Ich war längere Zeit als Associate-Professor tätig für die Thunderbird School of Global Management im US-Bundesstaat Arizona. Nach der Gründung 1946 war dieses Institut lange die einzige und führende Business School in den USA mit dem Fokus Global Management. Bis grössere Unis ebenfalls auf dieses Thema aufsprangen. Was dann dazu führte, dass Thunderbird Teil eines grösseren Verbundes wurde. Welche Möglichkeiten haben Pioniere, wenn sich Mainstream-Konkurrenten ihre Nische schnappen und sie selber effizienter bewirtschaften? Als Pionier hat man in der Regel zwei Optionen. Erstens: Man skaliert sein Geschäft, um selber zu den Grossen zu gehören oder aufzuschliessen und so von den Marktmacht-Vorteilen zu profitieren, wie sie andere Anbieter haben. Wenn man aber realisiert, dass das eigene Nischengeschäftsmodell nicht im Mainstream funktioniert, bietet sich eine zweite Lösung an: Den Tod der eigenen Nische akzeptieren – und in die nächste Nische springen. Solches «Nischen-Hopping» muss aber natürlich früh genug angedacht werden – nicht erst, wenn sich der Mainstream-Anbieter ins angestammte Geschäft einmischt. Es gibt auch Beispiele von Nischen-Pionieren, die weiterhin eine starke Rolle spielen im Markt, etwa Red Bull und Nespresso. Tatsächlich wurden diese Anbieter zwar jahrelang kopiert, konnten aber ihre Stellung behaupten. Dies vor allem deshalb, weil sie es schafften, mit ihren Produkten schnell die Nische zu verlassen und selber Mainstream zu werden. Solche Einprodukte-Marken lassen sich aber nicht wirklich mit einem Handelsformat wie jenem der Müller-Reformhäuser vergleichen. Anderes Beispiel: Die Schweizer Online-Bank Swissquote wurde vor 22 Jahren gegründet und steht hierzulande immer noch stark da. Obwohl viele andere und grössere Anbieter ins Online-Banking und Online-Trading drängten. In der Online-Branche spielt die Dynamik eine grosse Rolle, es ist immer wichtig, die nächste technologische Entwicklung – die sogenannte S-Kurve – nicht zu verpassen. Das ist Swissquote offenbar gelungen. Dazu schaffte es das Unternehmen, das Thema Online-Banking schnell mit seiner Marke in den Köpfen der Kunden zu verankern. Und grössere Banken hatten wohl zu jener Zeit, als Online-Banking und Online-Trading zum Mainstream wurde, andere Themen, als gross auf diesen Zug aufzuspringen. Kommt dazu, dass Firmen, die schon lange auf dem Markt sind, eine Legacy-Informatik-Struktur haben, die sie langsam macht. Und schliesslich erkennen sie die neuen Themen zwar, wollen aber damit nicht ihr angestammtes Geschäft konkurrenzieren und agieren deshalb weniger dynamisch als der Pionier. Lohnt es sich überhaupt, Pionier zu sein? Die Debatte «Pionier oder First Follower» verfolge ich seit über dreissig Jahren. Tatsächlich spricht einiges dafür, nicht den ersten Schritt zu machen. Wer zunächst einmal abwartet, kann Konkurrenten dabei beobachten, wie sie pröbeln, Fehler machen und erste Kunden quasi ausbilden. Und erst dann, wenn sich ein tragfähiges Geschäftsmodell zeigt, rasch als First Follower einsteigen. Also besser gar nicht erst als Pionier antreten? Nicht unbedingt. Wer eine Mission und eine Nische gefunden hat, kann sich durchaus als Pionier betätigen. Die grundsätzliche Frage, die sich Pioniere immer stellen sollten: Ist unser Geschäftsmodell das richtige und tragfähig genug für die nächsten fünf Jahre? Wie soll man das wissen, wenn die Nische noch jung und unbeackert ist? Das ist tatsächlich das grosse Startup-Dilemma. Wichtig ist, dass man seinen Investorinnen und Investoren ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell vorzeigen kann, verbunden mit diesen drei Fragen, für die man für sich selber Antworten finden muss: Von wem erhalte ich wie viel Geld und wie schnell ist es verbrannt?

Interview mit IMD-Professor Stefan Michel zum Konkurs des Reformhauses Müller und anderer Pioniere

«Den Tod der eigenen Nische akzeptieren»