Interview mit Jörg Wuttke, Präsident der Handelskammer China–EU: «Ich schätze, dass es in China mittlerweile 400 Millionen Corona-Fälle gibt»

Am 8. Januar fallen die Reiserestriktionen in China. Überrascht vom U-Turn der Regierung? Ja, ich hatte gehofft, dass die Regierung zuerst eine starke Impfkampagne lanciert, um vulnerable Leute zu schützen, um eine Lockerung der Restriktionen vorzubereiten. Hat sie alles nicht gemacht. Mit verheerenden Folgen. Absolut, faktisch wars eine Kapitulation vor dem Virus, weil sie die Zahlen der Infizierten und Erkrankten nicht mehr bewältigen konnten. Das ist die Bankrotterklärung einer Regierung. Natürlich. Wir haben immer wieder gefordert, dass man sich vorbereitet. Das Credo war stets: Nicht unvorbereitet öffnen, sondern langsam, damit erst gar keine Welle entsteht – und schon gar nicht im Winter, wenn das Virus – wie wir in der Schweiz oder Deutschland oder Indien sahen – sich am schnellsten ausbreitet. Aber man hat nicht darauf gehört. Und statt einer Welle löste es einen Tsunami aus. Überrascht? Nur von der Heftigkeit. Es war unglaublich, wie schnell die Corona-Welle über den Norden Chinas hereinbrach. Man hat sehr viel Zeit verloren mit dem Parteikongress im Oktober in Peking. Den wollte man nicht stören, das Thema erst gar nicht aufkommen lassen. Also hat man immer stärker an der Repressionsschraube gedreht – bis man überdreht hat und die Leute nicht mehr mitmachten. Dabei hat China 2020 rigoros durchgegriffen und einige Erfolge erzielt. 2022 sind sie auf dem Erfolg der letzten zwei Jahre geritten. Und haben völlig überdreht, das ging schon los mit dem Totallockdown in Schanghai, als man die Wirtschaftsmetropole in die Knie zwang. Man hatte es mit einer Regierung zu tun, die von Ideologie verblendet war und ihrem eigenen vergangenen Erfolg. Das Parteiblatt «China Daily» meldet heute: 250 Covid-Fälle in Schanghai. Glaubt die Bevölkerung diese Sprüche noch? 250 Fälle, das sind wahrscheinlich die Fälle auf der Redaktion, aber sicher nicht in Schanghai. Nein, die Zahlen sind in keinster Weise nachvollziehbar, seit Wochen schon. Die Bevölkerung weiss, dass in Nordchina, etwa in Shenyang oder Changchun, 80 Prozent der Leute infiziert waren, in Peking sind es aktuell 60 Prozent. Die Welle erreicht jetzt gerade den Süden, in Guangdong liegt die Rate ungefähr bei 30 Prozent und steigt. Ich schätze, dass es in China mittlerweile 400 Millionen Corona-Fälle gibt. Aber die Leute haben damit leben gelernt: In Nordchina, da gabs in den letzten zehn Tagen absolut keinen Verkehr mehr, gestern und heute gibt es wieder Stau, das ist schon mal ein gutes Zeichen. Zudem füllen sich die Restaurants wieder. Das sind Schritte zur Normalität. Ihre Normalität? Ich bin gesund. Um mich herum sind aber sehr viele positiv. Ich hatte nie Covid-19, musste aber 2020 mit der ganzen Familie zehn Tage in Quarantäne, weil ich auf einem Platz stand, wo einer offenbar infiziert war. Dasselbe habe ich 2022 erlebt, da mussten wir noch eine Woche in Quarantäne. Und heute heisst die Devise: Wer positiv ist, fährt zur Arbeit. Das ist eine 180-Grad-Wende, die es in der Geschichte der Medizin so wohl noch nie gab. Kann die Regierung Xi das durchhalten? Die Zahlen steigen ja gar nicht, weil es gar keine Zahlen gibt (lacht). Es gibt sicher viele Tote, alle kennen Opfer. Doch die Regierung ist total intransparent, kooperiert auch nicht mit der Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf, tauscht keine Daten aus. Diese Intransparenz führt dazu, dass die USA, Japan, Italien und andere Länder sagen: Okay, wenn ihr nicht testet, dann machen wir das mit Leuten, die aus China einreisen wollen. Das ist natürlich peinlich für China. Eine Regierung blamiert sich weltweit. Wie lange kann sie sich halten? Klar ist es peinlich, gerade im internationalen Vergleich. Es ist bezeichnend, dass sich keiner der Führungsleute äussert oder sehen lässt. Weder Präsident Xi Jinping noch Premierminister Li Keqiang. Keiner will mit der dramatischen Situation verbunden werden. Aber klar wird das Land aus der Krise rauskommen, das ist schliesslich ein totalitärer Staat. Und wenn im zweiten Quartal das Gröbste durch ist, werden sie hinstehen und sich auf die Schultern klopfen. Und dann gehts weiter. Der Börsenindex Shanghai Composite reagiert kaum. Wieso? Das überrascht mich nicht. Die Regierung hat schon vor Wochen die Devise herausgegeben, dass man keine Aktien verkaufen dürfe. Sonst gibts Ärger. Die Wirtschaft ist momentan in einer extremen Krise. Diesmal ist es nicht ein Lockdown, sondern eine Angstphase, die durch ganz China geht. In Nordchina ist man aus dem Gröbsten raus, vor wenigen Tagen war ich in Peking in einem Shoppingcenter, da waren die meisten Läden geschlossen, weil man kein Verkaufspersonal hatte, ein paar Tage zuvor war sogar das ganze Shoppingcenter geschlossen, weil das Management krank war. Hier sieht man nun eine Belebung auf niedrigem Niveau. Darauf gründet ein gewisser Optimismus für 2023. Wirklich? Es gibt die Unsicherheit, ob und wie die Regierung auf die Viruswellen reagiert. In Europa ist man wegen hoher Durchimpfung und Immunität geschützt, wie sich das in China entwickelt, bleibt abzuwarten. Die Weltbank hat das Wachstum in China für 2022 und 2023 nach unten korrigiert, auf 2,7 Prozent respektive 4,3 Prozent. Realistisch? Das zweite Quartal 2022 war schlecht, das vierte Quartal wird unterirdisch. Da kommt einiges zusammen: Covid-Krise, Immobilienkrise, einbrechende Exportmärkte. Vom europäischen Konsumenten hängen 16 Millionen Jobs ins China ab, wenn nun Europa in eine Rezession taucht, schlägt sich das hier nieder. Dann halten sich hier auch Privatinvestoren zurück, weil sie Stress haben mit der Partei. Da steht Alibaba-Gründer Jack Ma dafür. Da helfen auch nicht die provozierten Diskussionen über Taiwan, vor allem nicht mit Manövern, wie wir sie jetzt wieder sehen. China geht im Moment also durch einen perfekten Sturm, aber 2023 werden die Zahlen besser sein, davon bin ich überzeugt. Weshalb? Weil 2022 so schlecht war und sich das Land erholen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass China 2023 wieder auf 4 bis 5 Prozent kommt. Der Trend der Westfirmen, aus China auszulagern, hält an? Dieser Trend wird durch dieses Missmanagement verstärkt, allerdings sind davon Auto-, Chemie- oder Maschinenbau ausgenommen, weil da der chinesische Markt nicht so einfach replizierbar ist. Aber viele Firmen verlegen ihre Neuentwicklungen und Investitionen anderswohin. Da gibt es einige, die sich in Nordafrika umschauen, Indien hat stark an Attraktivität gewonnen: Das Land hat 2022 mehr M&A abgewickelt als China. Dann kommen die Türkei oder Osteuropa wieder ins Spiel. Im März tritt die neue Regierung an. Hoffnungen? Im Moment agiert die Regierung krude, und ich bin gespannt, ob der neue Staatsrat mit Premierminister Li Qiang die Zügel in die Hand nimmt und konsistenter regiert. Und transparenter. Denn es ist heute extrem schwierig, die Lage mittelfristig abzuschätzen, weil die Regierung meist nur Propaganda verbreitet, aber keine Zahlen und auch bisher keine mittelfristige Strategie. Viele Stellen in Westfirmen sind offen, weil China die Grenzen für Expats faktisch schloss. Was raten Sie jenen, die ein Jobangebot in China haben? Erfahrungsgemäss werden die Kontrakte im Frühling abgeschlossen, ab Sommer werden die Stellen angetreten. Im Moment würde ich abwarten, wie sich das alles entwickelt. Unklar ist auch, ob die Firmen die Stellen überhaupt mit Expats besetzt werden. Es gibt den klaren Trend, die Stellen mit Einheimischen zu besetzen, was ich nicht gut finde, weil die Anbindung ans Mutterhaus so schwächer wird. Aber China wird langfristig immer eine Ausstrahlung haben für junge Managerinnen und Manager. Eine Entkopplung? Viele Firmen bereiten sich auf ein Decoupling vor. Dabei sind die Aktivitäten in China noch nicht ausgereizt, 2021 waren nur 3,8 Prozent der ausländischen Investitionen in China von europäischen Firmen. China ist bezüglich Auslandinvestitionen leider immer noch ein Nischenplayer für viele Segmente ausserhalb des Automobil-, Chemie- und Maschinenbausektors. EU-Firmen investierten letztes Jahr mehr in Texas als China. Auch als Exportmarkt. Man muss sich das mal vorstellen: Europäische Firmen haben letztes Jahr gerade mal 23 Prozent mehr nach China exportiert als in die Schweiz. Ich hoffe schon, dass diese Krise den Chinesen die Augen öffnet und sie sehen, dass eine Öffnung zum Westen für ihr Land und ihre Volkswirtschaft wertvoll ist Das Corona-Bekämpfungsmittel Paxlovid von Pfizer ist in China hoch im Kurs. Es wird sogar als exklusives Geschenk weitergegeben. Es ist sehr populär, aber kaum verfügbar. Und mittlerweile fast teurer als Gold, aber es zeigt sich auch hier: Man hat nicht vorgesorgt und Vorräte angelegt. Nun muss man das Medikament in den USA erst noch einkaufen. Das dauert und zeigt das krasse Missmanagement. Dabei hat China nur auf Testen, Testen gesetzt und dafür 2021 total 250 Milliarden Euro ausgegeben, was dem Bruttosozialprodukt von jenem des Iran entspricht. Prävention, Impfkampagnen und Zukauf von Medikamenten haben sie sträflich vernachlässigt. Und keinen mRNA-Impfstoff aus dem Westen zulassen. Das wäre sinnvoll, weil sich der lokale Impfstoff nicht auf Neumutationen anpassen lässt und China mit der Entwicklung eines eigenen mRNA nicht zurande kommt. Da wäre es wohl sinnvoll gewesen, etwas im Ausland einzukaufen, das weltweit milliardenfach zur Anwendung kam und sich bewährt hat. Das wollte man aus reinem Nationalismus nicht machen und läuft mit einem weniger wirkungsvollen Impfstoff in eine Welle rein. Viele Chinesen fliegen nach Singapur oder Macao und lassen sich dort mit einem mRNA-Impfstoff impfen. Das ist der Jetset und für Leute, die Geld haben. Das sind so wenige Leute wie die, die sich Skiferien in Gstaad leisten können. Dabei gabs in Schanghai bereits 2020 Pläne, eine mRNA-Produktion aufzubauen und dort in Lizenz Impfstoff aus Deutschland zu produzieren. Die bereits fertiggestellte Fabrik steht nun nutzlos herum. Sie fliegen morgen nach Frankfurt. Lässt man Sie später wieder zurück? Ich fliege zum ersten Mal nach drei Jahren nach Deutschland, nachdem das vorher wegen Corona-Massnahmen und Quarantäne schlecht möglich war. Darauf freue ich mich.